Bundessozialgericht, Urteil vom 16.02.2012, Az. B 9 SB 2/11 R

9. Senat | REWIS RS 2012, 9036

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen RF - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht - GdB von weniger als 80 - psychische Störung - Nicht-Teilnehmen-Können an öffentlichen Veranstaltungen - Härtefall


Leitsatz

Das Merkzeichen RF kann einem Menschen mit Behinderung auch bei einem GdB von weniger als 80 zuerkannt werden, wenn ein gesundheitlich bedingter Härtefall vorliegt. Dies ist der Fall, wenn diese Person wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das [X.] betrifft.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt im Wege eines [X.] nach § 44 S[X.]B X die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", also die Zuerkennung des Merkzeichens [X.].

2

Bei dem 1973 geborenen Kläger wurde durch Bescheid des [X.]Außenstelle [X.] - Versorgungsamt - vom [X.] in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheides des [X.] - vom [X.] ein [X.]rad der Behinderung ([X.]dB) von 50 festgestellt. Darüber hinaus enthält dieser Verwaltungsakt die Aussage, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die [X.], [X.], a[X.], [X.], H, [X.], [X.]l, [X.]. nicht vorliegen. Nach seinem Umzug nach [X.] bat der Kläger das dortige [X.] im Juli 2005 um eine Überprüfung dieser Feststellungen. Mit Bescheid vom 23.9.2005 lehnte dieses Amt eine Neufeststellung nach § 44 Abs 2 S[X.]B X ab. Den Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 stützte es auch auf § 48 S[X.]B X. Am 12.4.2006 beantragte der Kläger erneut eine Überprüfung, die vom beklagten Land durch Bescheid vom 17.5.2006 in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheides vom [X.] abgelehnt wurde.

3

Der sodann vom Kläger erhobenen, auf Feststellung eines [X.]dB von 80 und der Voraussetzungen für das Merkzeichen [X.] gerichteten Klage hat das [X.] (S[X.]) - nach Einholung eines nervenärztlichen [X.]utachtens vom 18.6.2007 sowie weiterer Stellungnahmen vom 25.10.2007 und 13.10.2008 des Sachverständigen Dr. S. durch Urteil vom 17.10.2008 insoweit stattgegeben, als der Beklagte verpflichtet worden ist, die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab 12.4.2006 mit einem [X.]dB von 70 zu bewerten. Im Übrigen hat das S[X.] die Klage abgewiesen. Die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung ist vom [X.]ischen Landessozialgericht (LS[X.]) im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen worden (Urteil vom 13.4.2010):

4

Das [X.]utachten des Sachverständigen Dr. S., auf dessen [X.]rundlage das S[X.] den [X.]dB des [X.] mit 70 bewertet habe, sei in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Es bestehe kein Zweifel daran, dass bei dem Kläger infolge seiner Erkrankung mittelgradige [X.] Anpassungsschwierigkeiten bestünden, da er nicht über hinreichende Anpassungsmöglichkeiten verfüge, um beruflich eingegliedert werden zu können, und zudem auch weitgehend in seinen [X.]n Kontakten eingeschränkt sei. Andererseits überzeuge es, wenn der Sachverständige gleichwohl schwere [X.] Anpassungsschwierigkeiten verneine, weil der Kläger noch zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei.

5

Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs [X.]. Anspruchsgrundlage hierfür sei § 69 Abs 4 S[X.]B IX iVm § 3 Abs 1 [X.] (SchwbAwV). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sei die einschlägige landesrechtliche Vorschrift Art 5 § 6 Abs 1 [X.] bis 8 Achter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15.10.2004 (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag - RdFunkÄndVtr8) in der Fassung des [X.]ischen [X.]esetzes zum RdFunkÄndVtr8 (RdFunkVtr8Änd[X.] [X.]) vom 3.1.2005 ([X.]V[X.] S 14), mit dessen Inkrafttreten zum 1.4.2005 die Rundfunkgebührenbefreiungsverordnungen der Länder außer [X.] getreten seien. Dabei seien die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs [X.] jedoch gleich geblieben. [X.] würden danach unter anderem behinderte Menschen, deren [X.]dB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten.

6

Soweit die einschlägige Regelung die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs [X.] von einem Mindest-[X.]dB von 80 abhängig mache, verstoße sie nicht gegen höherrangiges Recht. Dies gelte insbesondere auch, soweit sie im Einzelfall dazu führe, dass der Nachteilsausgleich nicht zuerkannt werden könne, obwohl die weiteren Voraussetzungen hierfür vorlägen, weil der Betroffene aufgrund der bei ihm bestehenden Funktionsstörungen dauernd faktisch an das Haus gebunden sei. Letzteres habe Dr. S. bei dem Kläger bejaht, weil aufgrund der bei diesem bestehenden Wahnvorstellungen der Kontakt mit Menschen in größerer Zahl zu Verunsicherung und Bedrohungsgefühl führe, was erwarten lasse, dass er Veranstaltungen durch unangemessenes und auch offen aggressives Verhalten stören würde. Ob der Kläger damit im Sinne der Rechtsprechung in dem Sinne umfassend von allen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins [X.]ewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme, bedürfe keiner Entscheidung.

7

Unterstelle man, dass bei dem Kläger zwar die [X.]rundvoraussetzung eines [X.]dB von 80 fehle, die weiteren Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs [X.] dagegen vorlägen, führe dies nicht dazu, dass die einschlägige Vorschrift gegen höherrangiges Recht verstoße bzw im Falle des [X.] ermächtigungskonform so zu interpretieren wäre, dass ihm der Nachteilsausgleich [X.] unabhängig von einem [X.]dB von mindestens 80 zuzuerkennen wäre. Zwar dürfte der Normgeber davon ausgegangen sein, dass der Mindest-[X.]dB von 80 die [X.]rundvoraussetzung, die faktische Bindung an das Haus eine spezielle, die [X.]rundvoraussetzung weiter einschränkende Regelung beinhalte. In dem speziellen Fall des [X.] erweise sich dagegen die [X.]rundvoraussetzung als die eigentlich einschränkende Regelung. Es entspreche jedoch dem Wesen typisierender und generalisierender Regelungen, wie sie auch die Regelungen über die [X.]ewährung von Nachteilsausgleichen nach dem S[X.]B IX darstellten, dass sie nicht jeden Einzelfall erfassen könnten. Dass es sich hier um einen atypischen Einzelfall handele, sei insbesondere der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 13.10.2008 zu entnehmen, in der dieser nochmals herausstelle, dass bei dem Kläger die - besondere - Konstellation vorliege, dass er - wenn auch mit deutlichen Einschränkungen - aufgrund seines Leidens zwar zu einer weitgehend selbstständigen Lebensführung in der Lage sei, gerade an öffentlichen Veranstaltungen aber nicht teilnehmen könne.

8

Zur Begründung seiner vom [X.] (BS[X.]) - beschränkt auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens [X.] - zugelassenen Revision trägt der Kläger unter anderem vor: [X.]erügt werde eine Verletzung von § 69 Abs 4 S[X.]B IX iVm § 3 Abs 1 [X.] SchwbAwV iVm § 6 Abs 1 [X.] (RdFunk[X.]ebStVtr) idF des Art 5 [X.] [X.] Zwar sei ihm bei strenger Wortlautauslegung das Merkzeichen [X.] nicht zuzuerkennen, weil bei ihm lediglich ein [X.]dB von 70 vorliege. Hier handele es sich jedoch um eine besondere Konstellation, also um einen atypischen Fall. Das LS[X.] verkenne, dass Art 5 § 6 Abs 1 [X.] bis 8 RdFunkVtr8Änd[X.] [X.] sogenannte generalisierende Tatbestände enthalte. Dementsprechend seien diese Vorschriften nicht als abschließende Regelung anzusehen. Die Benennung eines willkürlichen Mindest-[X.]dB von 80 solle zwar eine erste Einordnung einer Erkrankung ermöglichen, jedoch in atypischen Fällen die Zuerkennung des Merkzeichens [X.] nicht zwingend ausschließen.

9

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des [X.]ischen LS[X.] vom 13.4.2010 und des S[X.] Itzehoe vom 17.10.2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom [X.] insoweit aufzuheben, als die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen [X.] betroffen ist, und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom [X.] in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheides vom [X.] bzw des Bescheides vom 23.9.2005 in der [X.]estalt des [X.] die Voraussetzungen für das Merkzeichen [X.] festzustellen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision des [X.] zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend vor: Entgegen der Ansicht des [X.] sei die Aufzählung in § 6 Abs 1 RdFunk[X.]ebStVtr abschließend. Anderenfalls würde sich die Härteregelung in Abs 3 der Vorschrift erübrigen. Diese stelle weitere Befreiungen von der [X.]ebührenpflicht in das Ermessen der Rundfunkanstalten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 S[X.][X.]).

Entscheidungsgründe

Die Revision des [X.] ist zulässig und begründet. Sie führt zur (teilweisen) Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.], weil die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung des erkennenden [X.]s nicht ausreichen.

In der Sache begehrt der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des landesrechtlich geregelten Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", die im Schwerbehindertenausweis durch die Eintragung des [X.] dokumentiert wird. Entgegen der Auffassung des [X.] ist also nicht das Merkzeichen selbst der Nachteilsausgleich; vielmehr verhilft es dem schwerbehinderten Menschen lediglich dazu, eine Rundfunkgebührenbefreiung zu erlangen (vgl § 69 Abs 5 Satz 2 [X.]).

Bei dem durch den angefochtenen Verwaltungsakt (Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.]) beschiedenen Antrag des [X.] handelt es sich - soweit es hier darauf ankommt - um ein Überprüfungsbegehren nach § 44 [X.]. Es ist in erster Linie auf eine entsprechende Rücknahme des Bescheides vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.] gerichtet. Zumindest hilfsweise wird auch die Rücknahme des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des [X.] begehrt. Eine Überprüfung dieses Verwaltungsakts, der auch die Ablehnung einer Neufeststellung nach § 48 [X.] enthält, kommt in Betracht, wenn sich der Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.] als rechtmäßig erweist, in der [X.] danach jedoch eine für den Kläger möglicherweise günstige Änderung eingetreten ist. Zwar ist das [X.] - vom Kläger insoweit unangegriffen - davon ausgegangen, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse des [X.] in der [X.] ab Januar 2005 nicht wesentlich geändert haben, es könnte jedoch - auch infolge des Umzuges des [X.] von [X.] nach [X.] - eine wesentliche Änderung des maßgeblichen Landesrechts eingetreten sein.

Der insoweit einschlägige § 44 [X.] bestimmt in seinen Abs 1 und 2:

(1)     

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2)     

Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Rücknahme der mit Bescheid vom [X.] erfolgten Feststellung, dass die Voraussetzungen für das [X.] nicht vorliegen, ist § 44 Abs 2 [X.]. Dabei handelt es sich um einen "Auffangtatbestand" für Fälle, in denen § 44 Abs 1 [X.] nicht anwendbar ist (vgl [X.] in [X.] Komm, Stand Oktober 2011, § 44 [X.] RdNr 4 f, 46). So verhält es sich hier, da die streitige Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht insbesondere keine Sozialleistung iS des § 44 Abs 1 [X.] ist (vgl [X.], 14, 16 ff = [X.] 3-1300 § 44 [X.] ff). Für die Zuständigkeit des Beklagten ist es unerheblich, dass der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme begehrt wird, von [X.] Behörden erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 [X.]).

§ 44 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Satz 1 [X.] setzt voraus, dass sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im [X.]punkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (vgl [X.], 75, 81 = [X.] 3-2200 § 1265 [X.]; [X.] Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 27/98 R, juris RdNr 15), wobei neuere rechtliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind (vgl [X.], 209, 210 = [X.] 1300 § 44 [X.] f; [X.] 63, 18, 23 = [X.] 1300 § 44 [X.]1 S 84).

Bei Bekanntgabe des in [X.] erlassenen Widerspruchsbescheides vom [X.] richtete sich die Zuerkennung des [X.] nach folgenden Bestimmungen: Gemäß § 69 Abs 4 [X.] idF vom 23.4.2004 ([X.]) treffen die (für die Durchführung des [X.]) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs 1 [X.], soweit neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von [X.] sind. Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie im Falle des Abs 4 über weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs 5 Satz 1 [X.]). Nach § 70 [X.] ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Gestaltung der Ausweise, ihre Gültigkeit und das Verwaltungsverfahren zu erlassen. Auf dieser Grundlage sieht § 3 Abs 1 [X.] SchwbAwV in der bis zum 11.12.2006 geltenden Fassung vom 27.12.2003 ([X.] 3022) vor, dass im Ausweis auf der Rückseite das [X.] einzutragen ist, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

Seinerzeit galt in [X.] noch die Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ([X.]) vom [X.] (GVBl S 254). Nach deren § 1 Abs 1 [X.] wurden von der Rundfunkgebührenpflicht Behinderte befreit, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Unbeschadet der Gebührenbefreiung nach § 1 konnte die Rundfunkanstalt in besonderen Härtefällen von der Rundfunkgebührenpflicht befreien (§ 2 [X.]). Der vom [X.] im Hinblick auf Umzug des [X.] nach [X.] angewendete § 6 RdFunkGebStVtr vom 31.8.1991 idF des Art 5 Nr 6 [X.] vom 15.10.2004, dem [X.] durch das [X.] [X.] vom 3.1.2005 ([X.]) zugestimmt hat, gilt erst ab 1.4.2005. Gleichzeitig sind die RdFunkGebBefrV der Länder außer [X.] getreten (§ 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr). Über die Auslegung und Anwendung der [X.] kann der [X.] als Revisionsgericht entscheiden, weil sie - wie durch den RdFunkGebStVtr aller Bundesländer beabsichtigt - mit den landesrechtlichen Regelungen anderer Bundesländer übereinstimmt (vgl [X.] [X.] 3-3870 § 4 [X.] 102).

§ 1 Abs 1 [X.] enthält eine abschließende Aufzählung der Personengruppen, die von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Weder der Wortlaut noch sonstige Anhaltspunkte (vgl dazu allgemein den Antrag der [X.] Staatsregierung zum [X.], [X.] BY 15/1921 S 21; Gesetzentwurf zum [X.] [X.], [X.] [X.] 15/3747 [X.]) deuten darauf hin, dass es sich nur um eine Auflistung typischer Fälle handelt. Selbst wenn die vom zuständigen [X.] herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht ([X.], in der hier maßgeblichen Fassung von 2005) insoweit - wie der Kläger annimmt - missverständliche Formulierungen enthalten sollten, lässt sich daraus kein abweichendes Auslegungsergebnis herleiten, weil die [X.] ihrem Charakter als antizipierte Sachverständigengutachten entsprechend nicht geeignet sind, die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen authentisch zu interpretieren.

Nach dem hier anwendbaren § 1 Abs 1 [X.] [X.] mussten Behinderte zwei gesonderte (kumulative) Voraussetzungen erfüllen: Bei ihnen musste ein GdB von 80 vorliegen. Darüber hinaus war es erforderlich, dass sie wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Die Regelung lässt es nicht zu, auf das Vorliegen eines GdB von 80 zu verzichten, wenn allein das zweite Merkmal (Nicht-Teilnehmen-Können an öffentlichen Veranstaltungen) gegeben ist. Daran ändert es nichts, dass nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist, warum die betroffenen Personen von einer Gebührenbefreiung ausgeschlossen werden sollten. Jedenfalls ist es fraglich, ob der [X.] von 80 insoweit eine sachgerechte Schranke bildet. Allerdings dient er immerhin der Verwaltungsvereinfachung, wenn die Prüfung des zweiten Merkmals bei Fehlen des [X.] grundsätzlich entfallen kann.

Ob diese Bestimmung für sich genommen in jeder Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar war, braucht hier nicht näher geprüft zu werden, denn der Verordnungsgeber hatte durch die Härtefallregelung in § 2 [X.] eine hinreichende Möglichkeit geschaffen, um bei der Rechtsanwendung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen (vgl dazu allgemein auch [X.] <2. Kammer des Ersten [X.]s> Beschluss vom 30.11.2011 - 1 BvR 3269/08 und 1 BvR 656/10 - Umdruck S 7 f). Danach wurde die Gebührenbefreiung in besonderen Härtefällen einer Ermessensentscheidung der Rundfunkanstalt überlassen. Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei dem Merkmal eines besonderen Härtefalls generell um eine gesondert zu prüfende Voraussetzung für die der Rundfunkanstalt obliegende Ermessensentscheidung handelt (vgl allgemein dazu [X.] [X.] 3-3100 § 89 [X.] [X.]; [X.] 59, 111, 115 f = [X.] 1300 § 48 [X.] f). Dies trifft jedenfalls für Härtefälle zu, die allein auf den gesundheitlichen Gegebenheiten des Menschen mit Behinderung beruhen. Das Vorliegen eines gesundheitlich bedingten Härtefalls gehört zu den gesundheitlichen Merkmalen, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Rundfunkgebührenbefreiung" sind. Gemäß § 69 Abs 4 [X.] obliegt die Feststellung eines solchen Härtefalls mithin den für die Durchführung des [X.] zuständigen Behörden. Es ist auch sachgerecht, die insoweit erforderlichen Feststellungen einer dafür ausgestatteten, fachkundigen Stelle zu überlassen (vgl allgemein dazu [X.] Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81, juris Rd[X.]5).

Nach Auffassung des erkennenden [X.]s liegt ein gesundheitlich bedingter Härtefall regelmäßig dann vor, wenn eine Person mit einem GdB von weniger als 80 wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Dabei handelt es sich nach den Feststellungen des [X.] um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation. Dies rechtfertigt es, unter Berücksichtigung des § 2 [X.] die landesrechtlichen Voraussetzungen für eine - hier allerdings in das Ermessen der Rundfunkanstalt gestellte - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht als erfüllt anzusehen (§ 3 Abs 1 [X.] SchwbAwV). Demnach war in einem solchen Fall das [X.] zuzuerkennen. Da in dem betreffenden Schwerbehindertenausweis ein GdB von unter 80 eingetragen ist, wurde für jeden deutlich, dass der Inhaber nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 [X.] [X.], sondern nur die eines gesundheitlich bedingten Härtefalls nach § 2 [X.] erfüllte.

Die für die Zuerkennung des [X.] im Februar 2005 einschlägigen Vorschriften sind auch sonst mit höherrangigem Recht vereinbar. Zwar sind - auch in früheren Entscheidungen des [X.] (vgl dazu [X.] [X.] 3-3870 § 48 [X.] f; [X.] [X.] 3-3870 § 4 [X.] 103 f) - gegen die Befreiung der in § 1 Abs 1 [X.] aufgeführten Menschen mit Behinderung von der Rundfunkgebührenpflicht rechtliche Bedenken geäußert worden. Der [X.] lässt ausdrücklich offen, ob daran auch unter Berücksichtigung des [X.] vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ([X.]I 2008, 1419), das seit dem [X.] in [X.] in [X.] ist (vgl Bekanntmachung vom [X.], [X.]I 812), festgehalten werden kann. Jedenfalls wirken sich solche Bedenken nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vorschriften über die Feststellung der Voraussetzungen des [X.] aus, zumal dieses auch den Zugang zu günstigen [X.] (zB Sozialtarif der [X.]) ermöglicht (vgl [X.] [X.] 3-3870 § 4 [X.] 104; [X.] 99, 189 = [X.] 4-1500 § 155 [X.] Rd[X.]9 ff).

Ob dem Kläger danach im Februar 2005 das [X.] zustand, vermag der erkennende [X.] nicht abschließend zu entscheiden. Dazu fehlt es an hinreichenden Tatsachenfeststellungen des [X.] zu den damaligen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des [X.] und deren Auswirkungen bezogen auf die Frage, ob er aufgrund seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen konnte. Zunächst ist das [X.] zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des [X.] auch allein aufgrund einer psychischen Störung erfüllt sein können (vgl [X.] [X.] 3-3870 § 4 [X.]6). Das [X.] hat sodann ausgeführt, es bedürfe keiner Entscheidung, ob der Kläger - wie von der Rechtsprechung gefordert (vgl dazu [X.] [X.] 3-3870 § 4 [X.] f mwN) - unter Berücksichtigung seines von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellten Gesundheitszustandes in dem Sinne umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme. Da der [X.] die hier erforderlichen, vom [X.] aufgrund seiner Rechtsauffassung unterlassenen tatrichterlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht treffen kann (§ 163 [X.]G), ist die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]G).

Eine Zurückverweisung erübrigt sich nicht im Hinblick auf die vom Kläger (hilfsweise) ebenfalls begehrte Überprüfung des Bescheides des Beklagten vom 23.9.2005 in der Gestalt des [X.]. Auch auf diesem Wege gelangt der [X.] nicht zu einer abschließenden Sachentscheidung. Zwar sind in der [X.] zwischen dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom [X.] und dem Erlass des [X.] insoweit Rechtsänderungen eingetreten, als die [X.] gemäß § 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr idF des am [X.] in [X.] bekannt gemachten Art 5 Nr 10 [X.] (GVBl S 27) ab 1.4.2005 nicht mehr galt und infolge des Umzuges des [X.] nach [X.] dann § 6 RdFunkGebStVtr idF des [X.] [X.] anzuwenden war. § 6 Abs 1 [X.] RdFunkGebStVtr stimmt jedoch inhaltlich im Wesentlichen mit § 1 Abs 1 [X.] [X.] überein. Entsprechendes gilt auch für die Härtefallregelungen in § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr und § 2 [X.]. Folglich ergeben sich aus dieser Änderung für die Beurteilung des vorliegenden Falles keine neuen Gesichtspunkte. Es handelt sich mithin nicht um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von § 48 [X.], die bei der [X.] im Februar 2006 iS von § 44 Abs 2 [X.] zu Unrecht außer Acht gelassen worden wäre.

Sollte das [X.] bei seiner weiteren Prüfung zu der Beurteilung gelangen, dass der Kläger im Februar 2005 die Voraussetzungen für das [X.] erfüllte, ist der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.] mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs 2 Satz 1 [X.]), soweit darin das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint worden ist. Ob eine Rücknahme danach auf die [X.] ab der Bekanntgabe des Bescheides vom 17.5.2006 (vgl dazu [X.] [X.] 1300 § 48 [X.]1) beschränkt wäre oder sich - wie das [X.] angenommen hat - auf den [X.]punkt der Antragstellung (12.4.2006) beziehen kann (vgl dazu [X.] in [X.] Komm, Stand Oktober 2011, § 44 [X.] RdNr 46), ist höchstrichterlich noch nicht eindeutig entschieden (vgl dazu [X.] [X.] 5755 Art 2 § 1 [X.]). Auf diese Frage dürfte es hier allerdings praktisch kaum ankommen, da eine Rundfunkgebührenbefreiung gemäß § 6 Abs 5 RdFunkGebStVtr ohnehin nur vom [X.] an festgestellt wird, der dem Monat folgt, in dem der Befreiungsantrag bei der [X.] (bzw bei der von den [X.]en beauftragten Gebühreneinzugszentrale) gestellt wird (vgl § 6 Abs 4 RdFunkGebStVtr). Bei der Feststellung der Voraussetzungen des [X.] für die Zukunft wäre dann § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung zugrunde zu legen.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 2/11 R

16.02.2012

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Itzehoe, 17. Oktober 2008, Az: S 6 SB 141/06, Urteil

§ 69 Abs 4 SGB 9 vom 23.04.2004, § 69 Abs 5 SGB 9 vom 23.04.2004, § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV vom 27.12.2003, § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY 1992, § 2 RdFunkGebBefrV BY 1992, § 6 Abs 1 Nr 8 RdFunkGebStVtr SH, § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr SH, Art 5 Nr 6 RdFunkÄndStVtr 8, § 44 Abs 2 SGB 10, § 48 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 16.02.2012, Az. B 9 SB 2/11 R (REWIS RS 2012, 9036)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9036

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 9 SB 15/17 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen RF - Ermäßigung des Rundfunkbeitrags …


B 9 SB 35/17 B (Bundessozialgericht)

(Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen RF - Ermäßigung des Rundfunkbeitrags …


B 9 SB 1/15 R (Bundessozialgericht)

Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen aG - außergewöhnliche Gehbehinderung - Parkinson-Erkrankung - Völkerrecht - Verfassungsrecht - Diskriminierungsverbot …


B 9 SB 48/11 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Auslegung nicht eindeutiger Anträge durch das Gericht - Feststellung des Grades …


L 18 SB 84/18 (LSG München)

Merkzeichen RF, Rundfunkbeitragstaatsvertrag, Öffentliche Veranstaltung, Gerichtsbescheid, Sachverständigengutachten


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvR 3269/08

1 BvR 656/10

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.