Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.06.2017, Az. 2 StR 140/17

2. Strafsenat | REWIS RS 2017, 9534

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Gegenstand

Versuchter Totschlag: Notwendige tatrichterliche Feststellungen zum beendeten Versuch und zum strafbefreienden Rücktritt


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 2. Dezember 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht tätige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine dagegen gerichtete, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision hat Erfolg.

I.

2

Nach den Feststellungen des [X.]s gerieten der Angeklagte und der Nebenkläger, die sich bis [X.] nicht kannten, am 12. April 2016 auf dem öffentlichen [X.]-Account des [X.] über ein Mathematikrätsel in Streit. Es kam zu wechselseitigen Beschimpfungen und Beleidigungen.

3

Nachdem es am Vormittag des nächsten Tages über [X.] zu weiteren beleidigenden, aggressiven und provokanten Äußerungen von beiden Seiten gekommen war, begegneten sich der Angeklagte und der Nebenkläger zufällig auf der [X.]. Der Angeklagte erkannte den Nebenkläger, da er zuvor dessen [X.]-Profilbild gesehen hatte.

4

Aufgrund der vorangegangenen Beschimpfungen und Beleidigungen entschloss sich der Angeklagte spontan, dem Nebenkläger mit einem mitgeführten Messer eine „Abreibung zu verpassen“, wobei er ihn körperlich verletzen wollte und dessen Tod zumindest billigend in Kauf nahm. Der Angeklagte sprang auf den mit seinem Handy beschäftigten und nichts Böses ahnenden Nebenkläger zu, stieß ihm mit der linken Hand das Messer mit der scharfen [X.] nach oben in den Bauch und zog es mit einer Drehbewegung wieder heraus. Der Nebenkläger erschrak, schrie auf und wandte sich ab, um zu flüchten. Nunmehr versetzte der Angeklagte dem Nebenkläger im Bereich der rechten Niere einen weiteren wuchtigen Messerstich in den Rücken, so dass die Klinge bis zum Schaft in den Körper eindrang und die Nierenschlagader und die Nierenvene der rechten Niere durchtrennte. Der Stich in den Bauch war abstrakt, der Stich in den Rücken konkret lebensgefährlich.

5

Der Nebenkläger taumelte zu Boden und kam rücklings in der Nähe eines Baumes zum Liegen. Er hatte den Angeklagten, von dem er über [X.] ein Foto gesehen hatte, inzwischen als denjenigen erkannt, mit dem er auf [X.] gestritten hatte. Er hielt seine Arme schützend vor den Körper und trat mit den Füßen nach dem Angeklagten. Gleichzeitig rief er, der Angeklagte solle aufhören, es tue ihm leid. Der Angeklagte, der die Entschuldigung des [X.] hörte und sah, dass dieser blutete, beugte sich über ihn, packte ihn am Kragen und schrie ihn an: "Was tut [X.]?" Der Nebenkläger konnte jedoch nicht mehr antworten, was der Angeklagte realisierte. Er ging davon aus, dass der Nebenkläger an den erlittenen Stichverletzungen versterben könne, ließ daraufhin von ihm ab und verließ in aller Ruhe den [X.]. Der lebensgefährlich verletzte Nebenkläger konnte durch eine Notoperation gerettet werden.

II.

6

Die Revision des Angeklagten ist begründet.

7

1. [X.] ist zunächst von einem zutreffenden rechtlichen Maßstab für die Annahme eines beendeten Versuchs des Totschlags ausgegangen. Maßgeblich ist das Vorstellungsbild (Rücktrittshorizont) des [X.] nach der letzten Ausführungshandlung (Senat, Urteil vom 29. Juni 2016 - 2 StR 588/15, [X.], 664, 665; [X.], Beschluss vom 27. November 2014 - 3 StR 458/14, [X.], 331). Dabei liegt ein beendeter Versuch bereits dann vor, wenn der Täter die naheliegende Möglichkeit des [X.]s erkennt, selbst wenn er den Erfolg weder will noch billigt ([X.], Urteil vom 25. November 2004 - 4 [X.], [X.], 263, 264). Die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die den [X.] nahe legen, reicht aus ([X.] aaO).

8

2. Die diesen Maßstäben genügenden Feststellungen des [X.]s, der Angeklagte sei, als er von dem Geschädigten abließ, davon ausgegangen, dass dieser an den Messerstichen versterben könnte ([X.]), sind zwar durchaus naheliegend, werden aber durch die von der Kammer vorgenommene Beweiswürdigung nicht getragen.

9

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm obliegt es, sich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden (§ 261 StPO). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. [X.], Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, [X.], 178, 179). Die Schlussfolgerungen des Tatgerichts brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 [X.], [X.], 148 mwN). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht insbesondere der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 26. Oktober 2016 - 2 StR 275/16, juris Rn. 12). Zudem muss die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren und tragfähigen Grundlage beruhen ([X.], Urteil vom 13. Juli 2016 - 1 StR 94/16, juris Rn. 9).

b) Diesen Maßstäben genügt die tatrichterliche Beweiswürdigung nicht.

(1) [X.] führt im Rahmen der Beweiswürdigung lediglich aus, „die Feststellung zum Rücktrittshorizont des Angeklagten beruhen auf dessen Einlassung sowie den ... bereits dargelegten glaubhaften Angaben der Zeugen [X.]und [X.]“ ([X.]). Diese Beweiswürdigung ist widersprüchlich bzw. lückenhaft.

(a) Die Widersprüchlichkeit zeigt sich zunächst darin, dass der Angeklagte nach der von der Kammer geschilderten Einlassung gerade nicht von einer lebensgefährlichen Verletzung des [X.] ausging. Vielmehr führt das Urteil zur Einlassung des Angeklagten aus ([X.]), er habe ein Eindringen des Messers in den Körper nicht gespürt. Er habe kein Blut gesehen, auch die Messerklinge sei frei von [X.] gewesen. Er habe gedacht, der Geschädigte habe nur weiche Knie bekommen. Wenngleich die Kammer diese Einlassung rechtsfehlerfrei für widerlegt erachtet hat, ergibt sich aus ihr jedenfalls nicht der angenommene Rücktrittshorizont des Angeklagten.

(b) Die Aussagen der Zeugen [X.]und [X.]sind ebenfalls nicht geeignet, den von der Kammer gezogenen Schluss auf den Rücktrittshorizont des Angeklagten zu unterlegen.

Nach der Darstellung der Kammer ist der Zeuge [X.] durch Schreie aufmerksam geworden und zum [X.] geeilt. Er beobachtete dort, dass der Angeklagte sich über den am Boden liegenden Nebenkläger beugte und diesen am Kragen festhielt ([X.]). Welche Rückschlüsse dies auf den Rücktrittshorizont des Angeklagten zulassen soll, ist im Urteil nicht dargestellt und bleibt deshalb offen.

Gleiches gilt für die Angaben des Zeugen [X.], der aus dem vierten Stock seiner Wohnung den Angeklagten mit einem Messer über dem Nebenkläger beobachtete und sah, dass das Blut hinter dem Rücken des [X.] auf den Boden lief. Er, [X.], habe gedacht, dass sich der Nebenkläger an dem Wurzelwerk des Baumes, an dem er lag, „aufgeratscht“ habe ([X.]). Welchen Rückschluss diese Darstellung des Zeugen für die Beurteilung des Rücktrittshorizonts eröffnen soll, erschließt sich nicht und wird im Urteil nicht erörtert.

(2) Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist ebenfalls nicht geeignet, den Schluss der Kammer auf den Rücktrittshorizont des Angeklagten zu tragen.

(a) Zwar stellt die Kammer zutreffend darauf ab, dass der Angeklagte wusste, dass er zweimal mit dem Messer in sensible Körperbereiche des [X.] gestochen hatte. Zudem hatte er nach der insoweit [X.] Beweiswürdigung wahrgenommen, dass der Nebenkläger blutete. Hinsichtlich der zusätzlichen Annahmen der Kammer, der Angeklagte habe ferner realisiert, dass der Nebenkläger nicht mehr habe antworten können ([X.]), erweist sich das Urteil jedoch als lückenhaft. Denn diese Annahme findet in der Beweiswürdigung keine Stütze. Zudem hatte der Nebenkläger kurz zuvor mehrfach gerufen, „er solle aufhören, es tue ihm leid“. Wieso der Angeklagte unmittelbar danach davon ausgegangen sein soll, der Nebenkläger könne nicht mehr antworten, ist weder dem Gesamtzusammenhang des Urteils zu entnehmen, noch liegt dies nach den festgestellten [X.] auf der Hand.

(b) Letztlich ist deshalb auch die ohnehin missverständliche Formulierung der rechtlichen Würdigung ([X.]), der Angeklagte „musste nach alledem davon ausgehen, dass der Geschädigte an den Stichverletzungen sterben könne“, nicht tragfähig (vgl. [X.], Beschluss vom 29. Mai 2007 - 3 [X.], [X.], 634, 635).

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dieser fehlerhaften Beweiswürdigung beruht. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Der aufgezeigte Mangel zwingt auch zur Aufhebung der für sich genommen rechtlich nicht zu beanstandenden Verurteilung wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung.

[X.]   

        

Bartel   

        

Richterin am [X.]
Wimmer ist an der
Unterschriftsleistung
gehindert.

                                   

[X.] 

        

Grube   

        

[X.]   

        

Meta

2 StR 140/17

14.06.2017

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Schwerin, 2. Dezember 2016, Az: 32 Ks 13/16

§ 22 StGB, § 23 StGB, § 24 Abs 1 StGB, § 212 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.06.2017, Az. 2 StR 140/17 (REWIS RS 2017, 9534)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 9534

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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