Bundesfinanzhof, Urteil vom 22.09.2011, Az. III R 14/09

3. Senat | REWIS RS 2011, 3044

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Gegenstand

Maßgeblichkeit der Klassifikation der Wirtschaftszweige für den Begriff des verarbeitenden Gewerbes


Leitsatz

1. NV: Der Begriff des verarbeitenden Gewerbes bestimmt sich --auch vor Inkrafttreten des § 3 Abs. 1 S. 2 InvZulG 2010-- nach der für das jeweilige Kalenderjahr geltenden Klassifikation der Wirtschaftszweige; dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG-Beschluss vom 31. Mai 2011 1 BvR 857/07, HFR 2011, 903) .

2. NV: In einem Rechtstreit über die Frage, ob ein Betrieb zum verarbeitenden Gewerbe gehört, hat das Finanzgericht die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen festzustellen und zu würdigen; es darf eine fehlerhafte statistische Einordnung nicht übernehmen .

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine zu einer Firmengruppe gehörende GmbH, wurde am 3. Januar 2005 gegründet. Ihre Muttergesellschaft hatte sich Ende 2004 entschieden, in die Herstellung von Ersatzbrennstoffen zu investieren. Im Februar 2005 wurde beschlossen, dass die Klägerin eine Anlage zur Aufarbeitung von Abfällen und zur Produktion von Brennstoffen übernehmen sollte. Die Klägerin investierte im Jahr 2005 u.a. in den Neubau einer Stahlhalle, Hof- und Wegebefestigung sowie verschiedene Großgeräte. Gebäude und Anlagen vermietete sie an ihre Muttergesellschaft, diese übertrug ihr mit Werkvertrag vom 1. September 2006 das Recyceln von Abfällen.

2

Am 13. Januar 2006 beantragte die Klägerin für das Jahr 2005 Investitionszulage nach § 2 des [X.] ([X.]) 2005 in Höhe von insgesamt 306.199,29 € für Gebäude ([X.] 12,5 %) sowie bewegliche Wirtschaftsgüter ([X.] 25 %). Als ausgeübte Tätigkeit gab sie die "Herstellung von Ersatzbrennstoffen" an.

3

Das [X.] stufte die Klägerin am 2. März 2006 nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2003 ([X.] 2003), als Recyclingbetrieb (Klasse 3720 - Recycling von sonstigen Altmaterialien und Reststoffen) und somit als Betrieb des verarbeitenden Gewerbes ein.

4

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) begann im Februar 2006 eine Investitionszulage-Sonderprüfung und nahm Kontakt zum [X.] auf. Finanzverwaltung und [X.] kamen danach übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Herstellung von Ersatzbrennstoffen kein Recycling sei, sondern als thermische Abfallbeseitigung und damit nicht als verarbeitendes Gewerbe, sondern als Erbringung von sonstigen öffentlichen und persönlichen Dienstleistungen, Abteilung Abwasser- und Abfallbeseitigung und sonstige Entsorgung (Abschnitt O der [X.] 2003) zu qualifizieren sei. Die statistische Einstufung wurde jedoch nicht geändert.

5

Das [X.] lehnte daraufhin die Festsetzung von Investitionszulage ab. Der Einspruch blieb erfolglos.

6

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage statt. Es entschied durch Zwischenurteil nach § 99 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O), dem beide Beteiligten zugestimmt hatten, dass das Unternehmen der Klägerin investitionszulagenrechtlich dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen sei, da das [X.] es entsprechend eingeordnet habe und diese Einordnung nicht offensichtlich falsch sei. Bei dieser Einordnung handele es sich um einen Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 der Abgabenordnung), denn anderenfalls lasse sich eine Bindungswirkung nicht mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) vereinbaren. Das [X.] habe die Einordnung der Klägerin nicht im Rahmen der Kontakte mit der Finanzverwaltung aufgehoben, sondern lediglich eine abweichende Meinung geäußert.

7

Das [X.] rügt die Verletzung materiellen Rechts.

8

Es beantragt sinngemäß, das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. [X.]ie Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das [X.].

1. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. [X.] sind u.a. [X.], die in einem Betrieb des verarbeitenden Gewerbes verbleiben; Gebäude sind nach § 2 Abs. 2 Satz 1 [X.] 2005 investitionszulagenbegünstigt, wenn sie in einem Betrieb des verarbeitenden Gewerbes verwendet werden.

a) [X.]er Begriff des verarbeitenden Gewerbes bestimmt sich nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige.

[X.]er Gesetzgeber hat die Maßgeblichkeit der vom [X.] herausgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige zwar erstmals durch § 3 Abs. 1 Satz 2 [X.] 2010 ausdrücklich angeordnet. [X.]er [X.] hält jedoch an seiner ständigen Rechtsprechung fest, wonach sich der Begriff des verarbeitenden Gewerbes im Investitionszulagenrecht auch für frühere Gesetzesfassungen nach der für das jeweilige Kalenderjahr geltenden Klassifikation bestimmt. [X.]a vorliegend über die Zulage für 2005 gestritten wird, ist daher die [X.] 2003 maßgeblich.

Obwohl es sich bei der Klassifikation weder um ein Gesetz noch um eine Verordnung handelt, wird sie grundsätzlich wie ein Gesetz ausgelegt und auf den konkreten Fall angewendet. [X.]ies führt indes nicht zu einer Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG), denn es beeinträchtigt weder die Gesetzesbindung der Gerichte noch den Anspruch des Einzelnen auf wirksame gerichtliche Kontrolle, wenn die Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffs durch gesetzliche Verweisung auf bestimmte Verwaltungsvorschriften oder untergesetzliche Regelwerke erfolgt oder wenn die konkretisierende Heranziehung solcher Vorschriften oder Regelwerke in vergleichbarer Weise auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht (Beschluss des [X.] vom 31. Mai 2011  1 BvR 857/07, [X.] --HFR-- 2011, 903, unter B.I.2.b).

[X.]ie Verbindlichkeit der Klassifikation der Wirtschaftszweige für die Zuordnung von Betrieben zum verarbeitenden Gewerbe im Investitionszulagenrecht beruht auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, da bereits die Gesetzesmaterialien zu früheren Fassungen des [X.] eindeutig belegen, dass der Gesetzgeber bei deren Erlass von der verbindlichen Anwendung der Klassifikation bei der Zuordnung eines Betriebs zum verarbeitenden Gewerbe ausging. [X.]ie Anknüpfung an das Statistikrecht ist auch sachgerecht, da sie ein höheres Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit erzeugt als ein vom Statistikrecht abgelöstes, eigenes Verständnis des im Investitionszulagenrecht verwendeten Gesetzesbegriffs "verarbeitendes Gewerbe". Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die sich aus den regelmäßigen Überarbeitungen der statistischen Klassifikationen ergebende [X.]ynamik ([X.]-Beschluss in HFR 2011, 903, unter [X.] und 3.d), aufgrund derer sich die Zuordnung von Tätigkeiten zu einem Wirtschaftszweig ändern kann.

b) In einem Rechtsstreit über die Frage, ob ein Betrieb zum verarbeitenden Gewerbe --hier nach Abschn. [X.] der [X.] 2003-- gehört, hat das [X.] die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen festzustellen und zu würdigen. Bei der Auslegung der Klassifikation als "Quasi-Rechtsnorm" und der Einordnung wirtschaftlicher Tätigkeiten kann es auf das Expertenwissen der Statistikämter zurückgreifen. [X.]ie Entscheidungsbefugnis liegt aber in jedem Fall beim Gericht, das eine fehlerhafte statistische Einordnung nicht übernehmen darf, da eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf offensichtliche Fehler der Statistikämter den individuellen Rechtsschutz in einer mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbaren Weise schmälern würde ([X.]-Beschluss in HFR 2011, 903).

2. Aufgrund der Feststellungen des [X.] kann der [X.] nicht beurteilen, ob der Betrieb der Klägerin dem verarbeitenden Gewerbe zuzurechnen ist.

[X.]as [X.] hat seine Entscheidung in Übereinstimmung mit früherer Rechtsprechung des [X.]s darauf gestützt, dass das [X.] den Betrieb der Klägerin dem verarbeitenden Gewerbe zugeordnet habe und dass diese Einstufung nicht offensichtlich falsch sei. [X.]iese Begründung ist nach dem Beschluss des [X.] in HFR 2011, 903 nicht mehr tragfähig.

[X.]as [X.] wird im zweiten Rechtsgang die für den Zulagenanspruch erheblichen Tatsachen zu ermitteln und zu würdigen haben.

Meta

III R 14/09

22.09.2011

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 22. Januar 2009, Az: 1 K 1137/07, Zwischenurteil

§ 2 InvZulG 2005, § 3 Abs 1 S 2 InvZulG 2010, Art 19 Abs 4 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 22.09.2011, Az. III R 14/09 (REWIS RS 2011, 3044)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3044

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1 BvR 857/07

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