Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.05.2021, Az. 2 StR 452/20

2. Strafsenat | REWIS RS 2021, 5931

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Gegenstand

Strafverfahren: Urteilsfeststellungen zur eingeschränkten Steuerungsfähigkeit bei Alkohol- und Drogenkonsum sowie psychiatrischer Erkrankung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 5. August 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte im Fall 1 der Urteilsgründe verurteilt ist; insoweit wird das Verfahren zu erneuter Sachbehandlung an das [X.] zurückverwiesen;

b) soweit der Angeklagte im Übrigen verurteilt ist und dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt wurde;

c) soweit die Einziehung eines sichergestellten Klappmessers angeordnet ist; die Anordnung der Einziehung entfällt.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (Fall 6 der Urteilsgründe), wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (Fall 3 der Urteilsgründe), wegen Körperverletzung in drei Fällen (Fälle 1, 4 und 5 der Urteilsgründe) sowie wegen Nötigung (Fall 2 der Urteilsgründe) zu drei Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und die Einziehung eines näher bezeichneten [X.] angeordnet. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützt ist, hat mit der Sachrüge überwiegend Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Der Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung in Fall 1 der Urteilsgründe steht ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis entgegen. Hinsichtlich des zugrundeliegenden Sachverhalts hatte die Staatsanwaltschaft Anklage zum [X.] erhoben, welches das Hauptverfahren eröffnet und die Sache sodann dem [X.] mit Blick auf das dort anhängige Verfahren gegen den Angeklagten vorgelegt hat. Es fehlt indes an einem wirksamen, den Anforderungen des § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechenden schriftlichen Übernahmebeschluss, der die Zuständigkeit des [X.]s als Gericht höherer Ordnung hätte begründen können (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Juli 1998 - 4 [X.], [X.], 157; zu den Anforderungen vgl. [X.], Urteil vom 23. April 2015 - 4 [X.], [X.], 250; [X.], Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 StR 514/15 mwN). Dies führt - im Gegensatz zu anderen Prozesshindernissen - nicht zu einer Einstellung des Verfahrens, sondern zu einer Verweisung der Sache an das zuständige Gericht (vgl. [X.], Beschlüsse vom 28. Juni 2011 - 3 [X.], [X.], 46; vom 15. Juli 2020 - 6 [X.], NStZ-RR 2020, 285; vom 21. Oktober 2020 − 4 StR 290/20, NStZ 2021, 179), hier das [X.].

3

2. Die Verurteilung des Angeklagten im Übrigen hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die vom [X.] gegebene Begründung für seine Annahme, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei in allen Fällen zwar erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB, aber in keinem Fall sicher vollständig aufgehoben war, erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

4

a) Nach den Feststellungen des sachverständig beratenen [X.]s litt der Angeklagte an einer chronifizierten [X.] Psychose ([X.] 10: F20.0), welche ursprünglich möglicherweise drogeninduziert war und nunmehr durchgehend mit einer Depotmedikation behandelt wird. Ferner war bei dem Angeklagten eine Polytoxikomanie ([X.] 10: [X.]) und eine Alkoholabhängigkeit ([X.] 10: F10.2) zu diagnostizieren. Die [X.] hat angenommen, dass es zu den abgeurteilten Taten im Zeitraum zwischen Oktober 2019 und März 2020 „auf dem Boden der genannten psychiatrischen Erkrankung des Angeklagten“ gekommen sei, „wobei in sämtlichen Fällen jedenfalls ein zusätzlicher Einfluss von Alkohol und/oder Cannabis- und /oder Amphetaminkonsum auf die Tatgeneigtheit des Angeklagten wenigstens im Sinne eines konstellativen Faktors nicht ausgeschlossen werden“ könne. Dies habe in allen Fällen die Fähigkeit, das Unrecht seines Tuns einzusehen „nicht tangiert“, jedoch sei seine Fähigkeit, gemäß dieser Unrechtseinsicht zu handeln, erheblich vermindert gewesen. Lediglich in Fällen, in denen sich Angriffe des Angeklagten gegen die Zeugin N.      richteten, sei die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließbar aufgehoben - und der Angeklagte insoweit freizusprechen - gewesen.

5

b) Die dieser Wertung zugrundeliegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

6

aa) Ihren Befund stützt die [X.] auf die Ausführungen der Sachverständigen, denen sie folgt, weil diese „sorgfältig und überzeugend zwischen den einzelnen [X.] und den jeweiligen Tatanlässen und -motivationen differenziert und je nach [X.] insbesondere der vorliegenden chronifizierten Psychose des Angeklagten (...) nachvollziehbar teils nur als (nicht ausschließbar) erheblich vermindert, teils aber auch als nicht ausschließbar aufgehoben bewertet“ habe. Demgegenüber teilen die Urteilsgründe - bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB - mit, dass „die hier in Rede stehenden Delikte“ nach den Ausführungen der Sachverständigen teilweise aufgrund der wahnhaften Verkennung der Situationen durch die vermeintlichen Widersacher des Angeklagten entstanden und insoweit Ausdruck von dessen psychotischer Erkrankung seien. Zwar bezögen sich diese Ausführungen der Sachverständigen „in erster Linie“ auf Übergriffe zum Nachteil der Zeugin N.    ; „ob und inwieweit bei dem Angeklagten zu den übrigen [X.] tatsächlich Wahnideen etc. vorhanden waren und wie sich diese auf seine Tatmotivation und seine Handlungsmöglichkeiten ausgewirkt haben“, stehe „hingegen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zuverlässig fest“. Dieser Widerspruch wird auch nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht aufgelöst. Die Erwägung der [X.], die nicht die Zeugin N.    betreffenden Übergriffe könnten ebenso gut normalpsychologisch erklärbar sein, kann ersichtlich nicht zur erforderlichen Klarheit beitragen, zumal die [X.] selbst „diese Frage dahingestellt“ hat sein lassen. Zu näherer Erörterung hätte sich die [X.] umso mehr gedrängt sehen müssen, als nach den mitgeteilten Angaben der Sachverständigen im Fall 2 der Urteilsgründe (zum Nachteil einer [X.]) zu dem (§ 21 StGB begründenden) impulsiven Verhalten des Angeklagten „auch personenverkennende Tendenzen“ hinzugetreten seien und der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen auch andere Tatopfer mit der realitätsverkennenden Vorstellung - diese hätten ihm die Heizung abgedreht - verband.

7

bb) Die Urteilsgründe lassen ferner nicht erkennen, dass die [X.] einen möglichen Einfluss von Alkohol und/oder Cannabisprodukten auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den jeweiligen [X.] ausreichend in den Blick genommen hat. Dass der Angeklagte „immer Alkohol konsumiert“ hat, ohne „in einem eigentlichen Rauschzustand gewesen zu sein“ und er sich von der Betreuerin habe „begrenzen“ lassen, hat für sich genommen wenig Aussagekraft, ebenso wenig ein bei den Taten des trinkgewohnten Angeklagten gezeigtes Leistungsverhalten (vgl. [X.], Beschluss vom 2. Juli 2015 - 2 [X.], NJW 2015, 3525; Urteil vom 14. Oktober 2015 - 2 [X.], [X.], 103, 105; Beschluss vom 27. März 2019 - 2 StR 382/18). Die Frage, welche Auswirkungen der - von der [X.] in allen Fällen angenommene - vorangegangene kombinierte Genuss von Alkohol und Drogen (vgl. [X.], Beschluss vom 12. Dezember 1996 - 2 [X.]) auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten in den jeweiligen [X.] allein oder in Wechselwirkung mit der festgestellten psychiatrischen Erkrankung hat, lässt die [X.] unerörtert. In Ermangelung einer nachvollziehbaren Gesamtbetrachtung (vgl. [X.], Beschluss vom 9. April 1991 - 4 StR 120/91, [X.]R § 20 StGB Ursachen, mehrere 2) bleibt letztlich unklar, ob ein „zusätzlicher Einfluss von Alkohol und/oder Cannabis- und /oder Amphetamin-konsum (...) wenigstens im Sinne eines konstellativen Faktors“ die Steuerungsfähigkeit nur beeinträchtigt oder sogar aufgehoben haben könnte.

8

c) Insoweit bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung durch eine andere [X.] des [X.]s. Dies gilt auch, weil vom Ergebnis einer erneuten Schuldfähigkeitsbeurteilung abhängig, hinsichtlich der Frage der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der [X.] hebt daher - auch um dem neuen Tatgericht umfassende eigene, widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen - das angefochtene Urteil mit den zugehörigen Feststellungen insgesamt und auch insoweit auf, als von der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgesehen wurde. Dem steht nicht entgegen, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (vgl. § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; [X.], Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, [X.]St 37, 5); er hat die Nichtverhängung der Maßregel auch nicht von seinem Revisionsangriff ausgenommen.

9

3. Die auf fehlende Erfolgsaussicht gestützte Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt ist demgegenüber ohne Rechtsfehler und hat Bestand.

4. Die Einziehungsentscheidung hinsichtlich eines sichergestellten [X.], dass der Angeklagte bei Begehung von Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte in der Jackentasche hatte, hat zu entfallen. Wie der [X.] zutreffend ausgeführt hat, setzt zwar der besonders schwere Fall des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB nicht (mehr) voraus, dass der Täter die Waffe verwendet oder in Verwendungsabsicht bei sich führt, allein das Mitführen der Waffe (hier ohne Verwendungsabsicht) macht diese aber nicht zum Tatmittel im Sinne des § 74 StGB.

Franke    

        

Krehl    

        

Meyberg

        

Grube    

        

Schmidt    

        

Meta

2 StR 452/20

12.05.2021

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Aachen, 5. August 2020, Az: 69 KLs 8/20

§ 20 StGB, § 21 StGB, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.05.2021, Az. 2 StR 452/20 (REWIS RS 2021, 5931)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5931

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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