Bundesfinanzhof, Beschluss vom 23.11.2011, Az. IV B 30/10

4. Senat | REWIS RS 2011, 1159

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Verfahrensfehler bei Verstoß gegen den gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan - Unzulässigkeit der geänderten Zuweisung einzeln ausgewählter Verfahren - Zurückverweisung der Rechtssache - Dauer der Wirksamkeit eines Geschäftsverteilungsplans


Leitsatz

NV: Ein Verstoß gegen den gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan führt dann zu einem Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO und § 119 Nr. 1 FGO, wenn er sich zugleich als Verletzung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) darstellt .

Tatbestand

1

I. Das der Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) vorangegangene Klageverfahren war im Jahre 2007 beim 4. Senat des Finanzgerichts ([X.]) unter dem [X.]. [X.] (4) anhängig. Im März 2008 beschloss das Präsidium des [X.], die Entscheidungszuständigkeit für das Klageverfahren der Klägerin sowie vier weitere Verfahren auf den 1. Senat des [X.] zu übertragen. Durch sein im Jahre 2010 ergangenes Urteil wies dieser die Klage ab.

2

Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin u.a. das Vorliegen eines Verfahrensmangels i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O). Der 1. Senat des [X.] habe zu Unrecht über die Klage entschieden; er sei nicht zuständig gewesen.

Entscheidungsgründe

3

II. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [[X.].] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 [[X.].]O).

4

1. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [[X.].]O liegen vor. Das Urteil der Vorinstanz beruht --wie die Klägerin zutreffend geltend macht-- auf einem wesentlichen Verfahrensmangel i.S. von § 119 Nr. 1 [[X.].]O, weil das [[X.].] bei seiner Entscheidung nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Ein solcher Verfahrensmangel ist u.a. gegeben, wenn durch eine die Besetzung des erkennenden Gerichts betreffende Maßnahme zugleich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) verletzt, d.h. der gesetzliche [[X.].] entzogen ist (vgl. Urteil des [[X.].] --[[X.].]-- vom 14. November 1995 [[X.].]-5/95, [[X.].] 1996, 481, unter [[X.].], m.w.N.). Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.

5

a) "Erkennendes Gericht" i.S. des § 119 Nr. 1 [[X.].]O ist das Gericht in der Besetzung bei der abschließenden Entscheidung. Maßgebend für die Ordnungsmäßigkeit der Besetzung des [[X.].] ist der für diesen Zeitpunkt geltende Geschäftsverteilungsplan des Gerichts; er regelt konstitutiv auch die Zuständigkeit des [[X.].] für bereits anhängige Sachen (z.B. [[X.].]-Urteil in [[X.].] 1996, 481; vgl. auch [[X.].] vom 14. November 1995 [[X.].], [[X.].], [[X.].] 1996, 416; vom 11. Juli 2006 I[X.] B 179/05, [[X.].] 2006, 1873). Denn der Geschäftsverteilungsplan einschließlich etwaiger Änderungen wirkt nur für die Dauer eines Geschäftsjahres ([[X.].]) und tritt an dessen Ende ohne weiteres Zutun außer [[X.].] (z.B. Urteil des [[X.].] --BVerwG-- vom 30. Oktober 1984  9 C 67/82, [[X.].] 1985, 574, m.w.N.).

6

b) § 21e Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes verbietet es nicht, durch den jährlichen Geschäftsverteilungsplan bereits anhängige Sachen einem anderen Spruchkörper zuzuweisen als dem, bei dem sie im Zeitpunkt ihres Einganges anhängig geworden sind (z.B. [[X.].]-Urteil in [[X.].] 1996, 481; [[X.].] in [[X.].] 2006, 1873; BVerwG-Urteil vom 18. Oktober 1990  3 C 19/88, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1991, 1370). Hierbei ist jedoch --wie bei der Verteilung der Geschäfte [[X.].] das [X.] (s. dazu z.B. BVerwG-Urteil in NJW 1991, 1370; [[X.].] in [[X.].] 2006, 1873) zu beachten. Der jeweilige Geschäftsverteilungsplan muss die Aufgaben nach allgemeinen, abstrakten und objektiven Merkmalen (d.h. nicht speziell, sondern generell) verteilen. Dies schließt zwar nicht aus, bereits anhängige, neu zu verteilende Sachen --soweit notwendig-- in gewissem Umfang zu konkretisieren. Keinesfalls dürfen aber einzelne ausgesuchte Sachen einem anderen Spruchkörper zugewiesen werden (z.B. [[X.].] in [[X.].] 1996, 416, und in [[X.].] 2006, 1873; [[X.].]-Urteil in [[X.].] 1996, 481; auch Beschluss des [[X.].] vom 16. Februar 2005  2 BvR 581/03, [[X.].] 2005, Beilage 4, 367; [[X.].] vom 29. Juni 1984  6 C 35/83, DVBl 1985, 165, und in NJW 1991, 1370). Geschieht dies dennoch --wenn auch wie im Streitfall in dem anerkennenswerten Bemühen, bestimmte Verfahren zu beschleunigen, deren Bearbeitung sich wegen Erkrankungen von [[X.].]n verzögert hat--, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt (BVerfG-Beschluss in [[X.].] 2005, Beilage 4, 367).

7

c) Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) irrt, wenn er meint, im Streitfall liege schon deshalb kein Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 und § 119 Nr. 1 [[X.].]O vor, weil der 1. Senat des [[X.].] seine Zuständigkeit nicht aufgrund schlechthin unvertretbarer, sachfremder und damit willkürlicher Erwägungen angenommen habe. Der [[X.].] hat nämlich wiederholt entschieden, dass ein Verstoß gegen den gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan dann zu einem Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 und § 119 Nr. 1 [[X.].]O führt, wenn er sich --wie im [[X.].] zugleich als Verletzung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf den gesetzlichen [[X.].] (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) darstellt (vgl. [[X.].] vom 12. September 2005 [[X.].], [[X.].] 2006, 146; vom 19. Juli 2010 [[X.].]/10, [[X.].] 2010, 2093).

8

d) Auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob der Präsidiumsbeschluss vom 3. März 2008 insgesamt unwirksam sein könnte, weil er sowohl von einem abgeordneten [[X.].] als auch von einem [[X.].] kraft Auftrags unterzeichnet ist, kommt es danach ebenso wenig an wie auf die Frage, ob durch diesen Beschluss eine unmittelbare Zuweisung von Streitsachen in das Dezernat eines einzelnen Mitglieds des 1. Senats des [[X.].] in zulässiger Weise vorgenommen werden konnte.

9

2. Aus der am 9. März 2009 beschlossenen Änderung des [[X.].] des [[X.].] für das Jahr 2009 lässt sich für das vorliegende Verfahren die Zuständigkeit des 1. Senats des [[X.].] ebenfalls nicht begründen. Denn die Regelung, wonach dem 1. Senat "alle bis zum 31. Dezember 2007 anhängig gewordenen Streitsachen aus dem Zuständigkeitsbereich des Finanzamts [X.]" betreffend einzelne Steuerarten zugewiesen wurden, die "bis zum 9. März 2009 in den Dezernaten 3 des 3. und 4. Senats waren", sollte ersichtlich bereits umverteilte Verfahren nicht betreffen und kann ohnehin den in der ursprünglichen Zuweisung einzelner ausgewählter Verfahren liegenden Verstoß gegen das [X.] nicht heilen (vgl. dazu [[X.].] in [[X.].] 2006, 1873). Ob --wie die Klägerin meint-- der Änderungsbeschluss vom 9. März 2009 später durch weiteren Präsidiumsbeschluss vom 20. Juli 2009 gegenstandslos geworden ist, ist danach unerheblich.

3. Der Verfahrensfehler hat zur Folge, dass die Vorentscheidung ohne sachliche Nachprüfung aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 116 Abs. 6 [[X.].]O). Die im Ermessen des [[X.].] stehende Zurückverweisung ist insbesondere dann sinnvoll, wenn die Vorinstanz unter Verstoß gegen die Vorschriften über die Besetzung des Gerichts entschieden hat (z.B. [[X.].] vom 24. Februar 2005 VIII B 216/03, [[X.].] 2005, 1328, und in [[X.].] 2006, 1873).

Meta

IV B 30/10

23.11.2011

Bundesfinanzhof 4. Senat

Beschluss

vorgehend FG Bremen, 11. März 2010, Az: 1 K 27/08 (6), Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 119 Nr 1 FGO, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 21e Abs 1 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 23.11.2011, Az. IV B 30/10 (REWIS RS 2011, 1159)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1159

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

IX B 73/20 (Bundesfinanzhof)

(Teilweise inhaltsgleich mit BFH-Beschluss vom 12.05.2021 IX B 72/20 - Verfahrensmangel: Verstoß gegen den gerichtlichen …


IX B 74/20 (Bundesfinanzhof)

(Teilweise inhaltsgleich mit BFH-Beschluss vom 12.05.2021 IX B 72/20 - Verfahrensmangel: Verstoß gegen den gerichtlichen …


IX B 72/20 (Bundesfinanzhof)

Verfahrensmangel: Verstoß gegen den gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan


IX B 75/20 (Bundesfinanzhof)

(Teilweise inhaltsgleich mit BFH-Beschluss vom 12.05.2021 IX B 72/20 - Verfahrensmangel: Verstoß gegen den gerichtlichen …


I B 126/16 (Bundesfinanzhof)

Hinterlegungsfrist für Tatbestand und Entscheidungsgründe


Referenzen
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.