Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 10.12.2014, Az. 1 C 15/14

1. Senat | REWIS RS 2014, 530

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Gegenstand

Absehen vom Visumerfordernis nur bei striktem Rechtsanspruch


Leitsatz

Unter einem "Anspruch" im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt.1 AufenthG, der ein Absehen vom Visumerfordernis ermöglicht, ist grundsätzlich nur ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen. Ein solcher Rechtsanspruch liegt nur dann vor, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Zusammenlebens mit seiner [X.] Ehefrau.

2

Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger. Im Dezember 2002 wurde er in [X.] ohne Aufenthaltserlaubnis aufgegriffen, vorläufig festgenommen und im Februar 2003 wegen illegalen Aufenthalts ausgewiesen. Der Kläger reiste dann nach eigenen Angaben in die [X.] aus. Im April 2011 sprach er erneut bei der Ausländerbehörde der Stadt [X.] vor und beantragte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, um seine Verlobte, eine [X.] Staatsangehörige, heiraten zu können. Er gab an, im März 2010 mit Hilfe eines Schleppers auf dem Landweg in die [X.] eingereist zu sein und hier Arbeit gesucht zu haben. Die Beklagte erteilte dem Kläger im April 2011 eine Duldung, die fortwährend verlängert wurde. Im August 2011 heiratete er seine Verlobte. Gegen die Ausweisung aus dem [X.] erhob der Kläger Widerspruch. Daraufhin teilte ihm die Beklagte mit, sie betrachte die Ausweisungsverfügung aus dem [X.] als nicht erlassen, da eine ordnungsgemäße Zustellung bis heute nicht erfolgt und auch nicht mehr beabsichtigt sei. Die Ausweisung werde daher im Register gelöscht.

3

Durch Urteil des Amtsgerichts [X.] vom 11. August 2011 wurde der Kläger wegen illegaler Einreise in Tateinheit mit illegalem Aufenthalt von März 2010 bis April 2011 zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Mit Bescheid vom 1. September 2011 lehnte die Beklagte seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] und nach § 25 Abs. 5 [X.] ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie zurück.

4

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] zu erteilen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 10. April 2014 ([X.] 2014, 426) die verwaltungsgerichtliche Entscheidung geändert und die Beklagte verpflichtetet, über den Antrag des [X.] auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im Übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Den Hilfsantrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat der Kläger im Berufungsverfahren nicht weiterverfolgt.

5

Das Oberverwaltungsgericht hat sein Urteil im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger erfülle nicht nur die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für die beantragte Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 30 [X.], sondern zugleich die für jeden Aufenthaltstitel erforderlichen allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 [X.]. Dies gelte auch für die Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.], dass kein [X.] vorliegen darf. Ein [X.] im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] liege dann vor, wenn einer der Tatbestände der §§ 53 bis 55 [X.] erfüllt sei. Das sei hier zwar der Fall. Der Kläger habe durch seine illegale Einreise und den illegalen Aufenthalt bis April 2011 einen nicht geringfügigen Rechtsverstoß im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 2 [X.] begangen. Allerdings liege hier eine Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] vor. Die besonderen, einen atypischen Sachverhalt begründenden Umstände beruhten darauf, dass der Kläger mit einer [X.] Staatsangehörigen in ehelicher Lebensgemeinschaft lebe und der [X.] allein in der Einreise ohne das erforderliche Visum und dem anschließenden Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bestehe. In diesem Fall sei es nicht erforderlich, zur Abwehr von Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit die Aufenthaltserlaubnis zu versagen, weil derartige Beeinträchtigungen nicht mehr zu erwarten seien. Dem [X.] der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts komme hier seine typisierte Gefahrenabwehrfunktion nicht mehr zu. Eine zukünftige Wiederholung der Verstöße gegen die Einreisevorschriften sei bei einem deutschverheirateten Ausländer grundsätzlich ausgeschlossen. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheitere auch nicht daran, dass der Kläger ohne das erforderliche Visum eingereist sei. Zwar erfülle er die weitere Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] nicht. Doch lägen die Voraussetzungen vor, nach denen hiervon gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] abgesehen werden könne. Denn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis seien erfüllt. Dies sei auch dann der Fall, wenn zwar eine regelhaft zu erfüllende Anspruchsvoraussetzung - hier nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] - nicht vorliege, dies jedoch unschädlich sei, weil ein Ausnahmefall gegeben sei.

6

Die Entscheidung der Beklagten, von der Einhaltung des [X.] nicht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 [X.] abzusehen, sei fehlerhaft. Die Beklagte habe in den angefochtenen Bescheiden das ihr nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 [X.] eröffnete Ermessen nicht sachgerecht ausgeübt. Da eine Ermessensreduzierung auf Null zu Gunsten des [X.] nicht vorliege, sei die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Antrag des [X.] auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erneut zu entscheiden und dabei das ihr zustehende Ermessen (erneut) auszuüben.

7

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision. Sie vertritt die Auffassung, das Berufungsurteil beruhe auf einem fehlerhaften Verständnis vom Regelfall eines [X.]es nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.]. Für die Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] komme es nicht darauf an, ob aufgrund der konkreten Umstände eine Ausweisung möglich sein, sondern darauf, ob objektiv und abstrakt einer der gesetzlichen [X.] vorliege. Das sei hier in Gestalt der begangenen Straftat der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts der Fall (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 [X.]). Auf die Gefahr der Begehung erneuter Straftaten komme es insoweit nicht an. Auch die Nichteinhaltung des [X.] stehe der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] entgegen.

8

Der Kläger verteidigt die angefochtenen Urteile. Ergänzend weist er darauf hin, dass im vorliegenden Fall vom Erfordernis des [X.] abgesehen werden könne, weil ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bestehe. Ein Rechtsanspruch liege vor, wenn alle gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen vorlägen, auch wenn es sich um Ausnahmetatbestände handele. Im Übrigen sei die Ermessensentscheidung der Beklagten fehlerhaft, weil sie die persönlichen Interessen des [X.] - u.a. an einer Vermeidung einer langen Trennung infolge des von ihm in der [X.] abzuleistenden Wehrdienstes - nicht zur Kenntnis genommen und bei ihrer Entscheidung berücksichtigt habe. Für den Fall, dass seinem [X.] auf Zurückweisung der Revision nicht entsprochen werde, beantragt der Kläger hilfsweise die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] zu mehreren Fragen, die sich auf die Auslegung der Stillstandsklauseln des Assoziationsrechts EWG-[X.] sowie auf Art. 6 und Art. 10 [X.] 1/80 beziehen (vgl. den in der mündlichen Verhandlung überreichten Schriftsatz vom 9. Dezember 2014).

9

Der Vertreter des [X.] beim [X.] beteiligt sich an dem Verfahren und schließt sich der Auffassung der Beklagten an, dass dem Kläger kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] zustehe.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Einreise des [X.] und sein angestrebter Aufenthalt der Visumpflicht unterliegen (1.). Es hat aber unter Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass die Voraussetzungen eines Anspruchs im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 [X.] erfüllt sind, wenn sich ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lediglich aus dem Vorliegen einer Ausnahme von einer Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 [X.] ergibt und deshalb von dem [X.] abgesehen werden kann (2.). Da es an einer Voraussetzung für den klageweise geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 [X.] fehlt, waren die vorinstanzlichen Urteile zu ändern und die Klage abzuweisen. Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht (3.).

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der [X.]punkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderungen sind allerdings zu berücksichtigen, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des [X.] - sie zu berücksichtigen hätte (st[X.]pr, Urteil vom 30. Juli 2013 - BVerwG 1 [X.] 15.12 - BVerwGE 147, 278 = [X.] 402.242 § 36 [X.] Nr. 5, jeweils Rn. 7). Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung deshalb zutreffend die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 ([X.]), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes und anderer registerrechtlicher Vorschriften zum Zweck der Zulassung der elektronischen Antragstellung bei Erteilung einer Registerauskunft vom 6. September 2013 ([X.]), zu Grunde gelegt. Seitdem hat sich die Rechtslage nicht geändert.

1. Der Kläger erfüllt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zwar die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte einer [X.] nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. Es fehlt jedoch an der allgemeinen Voraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.].

Der Kläger ist im Jahr 2010 ohne Visum nach [X.] eingereist. Er unterliegt als [X.] Staatsangehöriger aber der Visumpflicht für die Einreise und den Aufenthalt sowohl zum Zweck der Arbeitsaufnahme als auch zum Zweck der Familienzusammenführung nach §§ 4, 6 Abs. 3 [X.] i.V.m. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 (ABI [X.] Nr. L 81 S. 1) und deren Anhang I. Welches Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] als das erforderliche Visum anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im [X.] beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (Urteil vom 16. November 2010 - BVerwG 1 [X.] 17.09 - BVerwGE 138, 122 = [X.] 402.242 § 6 [X.] Nr. 1, jeweils Rn. 19).

a) Der Kläger war von der Visumpflicht nicht nach den Standstill-Regelungen des Assoziationsrechts [X.] befreit. Auf die [X.] des Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen vom 12. September 1963 ([X.]) - Zusatzprotokoll ([X.]) - kann der Kläger sich nicht berufen, denn er beabsichtigte zu keiner [X.], einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Er strebt vielmehr die Aufnahme einer unselbständigen Arbeit an, wie vom Berufungsgericht festgestellt und vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] bestätigt wurde. Die für [X.] Arbeitnehmer geschaffenen [X.] des Art. 7 [X.] 2/76 und des Art. 13 [X.] 1/80 setzen jedoch einen ordnungsgemäßen Aufenthalt des Arbeitnehmers im [X.] voraus, über den der Kläger nicht verfügt. Denn er ist illegal nach [X.] eingereist, besitzt keine Aufenthaltserlaubnis und wird hier nur vorübergehend geduldet. Ein ordnungsgemäßer Aufenthalt liegt aber nur dann vor, wenn der [X.] Staatsangehörige die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise, den Aufenthalt und gegebenenfalls die Beschäftigung beachtet hat, so dass seine Lage im Hoheitsgebiet dieses Staates rechtmäßig ist (so [X.], Urteil vom 7. November 2013 - [X.]. [X.]/12, [X.] - NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 35 m.w.[X.]). Der Kläger kann auch von seiner Ehefrau kein Recht auf Beachtung der [X.] des Art. 7 [X.] 2/76 oder des Art. 13 [X.] 1/80 ableiten mit der Folge, dass es allein auf deren ordnungsgemäßen Aufenthalt ankäme (vgl. dazu Urteil vom 6. November 2014 - BVerwG 1 [X.] 4.14 - Rn. 15). Denn die Ehefrau ist [X.] und nicht [X.] Staatsangehörige und kann daher ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht vermitteln. Damit kommt es nicht auf die Frage an, ob sich die Rechtslage hinsichtlich der Visumpflicht für [X.] Staatsangehörige seit Inkrafttreten der Stillstandsregelungen zu Lasten der Betroffenen verändert hat.

b) Der Kläger kann die Aufenthaltserlaubnis auch nicht abweichend von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] nach § 39 Nr. 5 [X.] ohne vorherige Ausreise erlangen. Gemäß § 39 Nr. 5 [X.] kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im [X.] einholen, wenn seine Abschiebung nach § 60a [X.] ausgesetzt ist und er auf Grund einer Eheschließung im [X.] während seines Aufenthalts im [X.] einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hat. Es kann offenbleiben, ob der Kläger die Voraussetzungen des § 60a [X.] erfüllt, denn er hat während seines Aufenthalts in [X.] keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben, wie dies § 39 Nr. 5 [X.] voraussetzt. Denn unter einem „Anspruch“ im Sinne von § 39 Nr. 5 [X.] ist - ebenso wie bei § 39 Nr. 3 [X.] - grundsätzlich nur ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen. Ein solcher Rechtsanspruch liegt nur dann vor, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (vgl. Urteil vom 16. November 2010 a.a.[X.], jeweils Rn. 24 m.w.[X.]). Einen solchen Anspruch hat der Kläger jedoch nicht erworben, da er die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] nicht erfüllt (dazu im Einzelnen Rn. 18 ff.). Auch insoweit kann sich der Kläger aus den oben ausgeführten Gründen nicht auf eine für ihn mögliche Veränderung der Rechtslage unter dem Gesichtspunkt des assoziationsrechtlichen Stand-Still berufen.

2. Vom [X.] kann - entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - im vorliegenden Fall auch nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] abgesehen werden.

a) Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass es für den Kläger nicht im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 [X.] unzumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Eine Unzumutbarkeit ergibt sich nicht aus der verfahrensbedingten Trennung des [X.] von seiner Ehefrau. Zwar ist es möglich, dass es infolge der Nachholung des [X.] zu einer Trennung der Eheleute von 15 Monaten kommt, wenn der Kläger das Verfahren von der [X.] und nicht von einem Drittland zu betreiben hat und dann in der [X.] seiner Verpflichtung zur Wehrdienstleistung nachkommen muss. Der [X.] verkennt nicht, dass eine mögliche Trennungszeit von dieser Dauer einen nicht unerheblichen Eingriff in die durch Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 [X.] geschützte eheliche Lebensgemeinschaft darstellt. Das Oberverwaltungsgericht sieht diesen Eingriff aber mit Recht als nicht unverhältnismäßig an. Denn der Kläger kommt mit der Wehrdienstleistung einer staatsbürgerlichen Pflicht nach, die auch bei Eheführung im Heimatland zu einer entsprechenden Trennung der Eheleute führen kann. Zudem war den Eheleuten bei Eingehung der Ehe bekannt, dass es wegen des noch nicht geleisteten Wehrdienstes in der [X.] zu einer hierdurch bedingten, zeitlich begrenzten Trennung kommen könnte - worauf bereits das Berufungsgericht hingewiesen hat. Der Kläger hat keine Gegenrügen gegen die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erhoben, aus denen es das Fehlen von Gründen für eine Unzumutbarkeit im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 [X.] abgeleitet hat.

b) Das Berufungsgericht hat jedoch verkannt, dass ein Absehen vom Erfordernis der Durchführung des vorgeschriebenen [X.] auch deshalb nicht in Betracht kommt, weil hier kein Anspruch auf Erteilung der erstrebten Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 [X.] vorliegt.

Unter einem „Anspruch“ im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 [X.] ist ebenso wie bei vergleichbaren Formulierungen im Aufenthaltsrecht - etwa in § 10 Abs. 3 Satz 3 [X.] oder in § 39 Nr. 3 [X.] - grundsätzlich nur ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen. Ein solcher Rechtsanspruch liegt nur dann vor, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (vgl. Urteil vom 16. November 2010 - BVerwG 1 [X.] 17.09 - BVerwGE 138, 122 = [X.] 402.242 § 6 [X.] Nr. 1, jeweils Rn. 24 zu § 39 Nr. 3 [X.]; Urteil vom 16. Dezember 2008 - BVerwG 1 [X.] 37.07 - BVerwGE 132, 382 = [X.] 402.242 § 10 [X.] Nr. 2, jeweils Rn. 21 ff. zu § 10 Abs. 3 [X.]). Von dieser Rechtsprechung des [X.]s weicht das Berufungsurteil ab, indem es auch im Fall einer Ausnahme von einer regelhaft zu erfüllenden Tatbestandsvoraussetzung einen Anspruch im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 [X.] bejaht (UA S. 24).

Das in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] vorgeschriebene Visumverfahren dient dem Zweck, die Zuwanderung nach [X.] wirksam steuern und begrenzen zu können (vgl. Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 [X.] 23.09 - BVerwGE 138, 353 = [X.] 402.242 § 6 [X.] Nr. 2, jeweils Rn. 20 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung in BTDrucks 15/420 S. 70). Ausgehend von diesem Zweck sind Ausnahmen von der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] prinzipiell eng auszulegen (so auch [X.], in: GK-[X.], Stand: August 2013, § 5 Rn. 121). Das bedeutet für die Auslegung des Ausnahmetatbestands des Vorliegens eines gesetzlichen Anspruchs auf Erteilung der angestrebten Aufenthaltserlaubnis, dass sich ein solcher aus der typisierten gesetzlichen Regelung ergeben muss und Ausnahmetatbestände insoweit unberücksichtigt bleiben müssen. § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] wirkt auf diese Weise generalpräventiv dem Anreiz entgegen, nach illegaler Einreise Bleibegründe zu schaffen mit der Folge, dieses Verhalten mit einem Verzicht auf das vom Ausland durchzuführende Visumverfahren zu honorieren. Die bewusste Umgehung des [X.] darf nicht folgenlos bleiben, um dieses wichtige Steuerungsinstrument der Zuwanderung nicht zu entwerten (so schon Urteil vom 11. Januar 2011 a.a.[X.], jeweils Rn. 25).

Für den vorliegenden Fall kann daher offenbleiben, ob die vom Berufungsgericht als bedeutsam gewerteten Umstände der ehelichen Lebensgemeinschaft des [X.] mit einer [X.] und die dadurch verminderte oder ganz entfallene Gefahr, dass der Kläger erneut Verstöße gegen Einreisevorschriften begehen wird, eine Ausnahme vom Regelerfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] begründen. Denn es fehlt jedenfalls an der Regelvoraussetzung dieser Vorschrift, dass kein [X.] vorliegen darf, da der Kläger durch seine illegale Einreise und den illegalen Aufenthalt den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 [X.] erfüllt (vgl. Urteil vom 16. Juli 2002 - BVerwG 1 [X.] 8.02 - BVerwGE 116, 378 <385> = [X.] 402.240 § 21 AuslG Nr. 1 S. 6). Deswegen ist er im Übrigen auch strafgerichtlich verurteilt worden und diese Verurteilung ist auch noch nicht im Bundeszentralregister getilgt.

3. Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. Der Prozessbevollmächtigte des [X.] hat in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] die Vorlage mehrerer Fragen an den Gerichtshof für den Fall angeregt, dass die Revision der Beklagten nicht zurückgewiesen wird. Die ersten drei Fragestellungen (1a, b und c) beziehen sich auf die Vereinbarkeit bestimmter nationaler Regelungen zur Visumerteilung und zu den Folgen von visumrechtlichen Verstößen mit den [X.]n des Art. 13 [X.] 1/80 und des Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen [X.]. Die Voraussetzungen für die Einholung einer Vorabentscheidung zu diesen Fragen liegen jedoch nicht vor, weil sie nicht entscheidungserheblich sind. Wie oben bereits ausgeführt (Rn. 14) kann sich der Kläger auf die assoziationsrechtlichen [X.] nicht berufen. Art. 41 des Zusatzprotokolls findet auf ihn keine Anwendung, denn er hatte zu keiner [X.] die Absicht, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zur Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 7 [X.] 2/76 und Art. 13 [X.] 1/80 fehlt es am ordnungsgemäßen Aufenthalt des [X.] in [X.]. Mit der vierten Fragestellung (Frage 2) möchte der Kläger geklärt wissen, ob bestimmte Verfahrensregeln in einem zukünftigen Visumverfahren bei einem subjektiven Anspruch auf Familienzusammenführung zu beachten seien. Eine Anrufung des Gerichtshofs zu dieser Frage scheidet deshalb aus, weil die rechtlichen Rahmenbedingungen eines künftigen [X.] nicht Streitgegenstand der vorliegenden Klage sind. Diese ist vielmehr auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ohne Durchführung eines [X.] gerichtet.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Meta

1 C 15/14

10.12.2014

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, 10. April 2014, Az: 4 Bf 19/13, Urteil

Art 267 AEUV, Art 41 AssoziierungsAbkEWG/TURZProt, § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 5 Abs 2 S 1 Nr 2 AufenthG, § 5 Abs 2 S 2 AufenthG, § 28 Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG, § 55 Abs 2 Nr 2 AufenthG, § 6 Abs 3 AufenthG, § 39 Nr 5 AufenthV, Art 6 Abs 1 GG, Art 8 MRK, Art 13 EWGAssRBes 1/80, Art 7 EWGAssRBes 2/76

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 10.12.2014, Az. 1 C 15/14 (REWIS RS 2014, 530)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 530

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