Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.04.2012, Az. 10 AZR 47/11

10. Senat | REWIS RS 2012, 7232

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Gegenstand

Variable Vergütung - Vertragsauslegung - Betriebsübergang


Tenor

1. Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 18. Januar 2011 - 2 Sa 29/10 - aufgehoben.

2. Auf die Berufung des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 10. Februar 2010 - 4 Ca 159/09 - abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.130,10 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Juni 2009 zu zahlen.

3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Zahlung einer variablen Vergütung für das [X.].

2

Der Kläger ist nach einem Betriebsteilübergang seit dem 1. Juli 2007 als [X.] gegen eine monatliche Bruttovergütung von zuletzt 3.043,00 Euro für die Beklagte tätig. Sein Arbeitsverhältnis bestand seit 1992 zunächst mit der [X.] und nach einem Wechsel innerhalb des [X.] seit 1996 mit der [X.].

3

Der Arbeitsvertrag mit der [X.] vom 20. Dezember 1996/6. Januar 1997 lautet auszugsweise:

        

„§ 3 Bezüge

        

Für Ihre Tätigkeit erhalten Sie

        

1. ein Tarifgehalt

        

…       

        

2. eine Frühjahrs- und Weihnachtsgratifikation entsprechend den Richtlinien der Gesellschaft.“

4

Nach § 6 des Vertrags erhält der Kläger zusätzliche betriebliche Leistungen „nach der Arbeitsordnung und den Richtlinien der Gesellschaft“.

5

Das Arbeitsverhältnis ging 2002 durch Betriebsübergang auf die [X.] über. In einer [X.] der [X.] vom 8. Oktober 2001 zu den Wechselbedingungen heißt es ua.:

        

„1.     

Tarif 

        

Für die Arbeitsverhältnisse gelten die Tarifverträge für das private Versicherungsgewerbe.

        

2.    

Vergütung

        

Die Höhe der betrieblichen Frühjahrs- und Weihnachtsgratifikation sowie der Erfolgsbeteiligung berechnet sich entsprechend der Richtlinien der [X.]. Sollten innerhalb der [X.] stärker am Erfolg der Einzelunternehmen bzw. der Mitarbeiter orientierte Vergütungssysteme eingeführt werden, kann auch die [X.] ein solches im Einvernehmen mit dem Betriebsrat vereinbaren. In diesem Fall löst das neue Vergütungssystem der [X.] die Regelungen der [X.] ab.“

6

Zum 1. Januar 2006 trat bei der [X.] eine Gesamtbetriebsvereinbarung über eine variable Vergütung vom 25. Oktober 2005 ([X.]) in [X.]. Diese war bis zum 31. Dezember 2006 befristet, eine Nachwirkung war ausgeschlossen. Der variable Vergütungsanteil betrug danach mindestens 0,5 und maximal 0,96 Monatsgehälter abhängig vom Grad der Erreichung der Ziele eines [X.], bestehend aus der Sachgruppe [X.], der [X.] und der [X.]. Ziff. 9 (2) der [X.] sah die Ablösung und Ersetzung der betrieblichen Gratifikation, die bisher nach den betrieblichen Richtlinien gezahlt wurde, sowie der Erfolgsbeteiligung gemäß Gesamtbetriebsvereinbarung, gültig ab 1. Mai 2002, vor. Durch Nachträge wurde die befristete Geltung der [X.] für die [X.] und 2008 vereinbart.

7

Die [X.] sagte im Wege einer Ergänzung ihrer [X.] zu den Wechselbedingungen die entsprechende Anwendung der [X.] für das [X.] zu; auch die befristeten Verlängerungen der [X.] für die [X.] und 2008 vollzog sie durch weitere Ergänzungen der [X.] vom 20. Dezember 2006 und vom 20. März 2008 nach. Die [X.] zahlte im [X.] entsprechend der Regelung innerhalb der [X.] eine variable Vergütung in Höhe von 70 % eines Monatsgehalts, die Beklagte hat keine variable Vergütung gezahlt.

8

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er habe einen vertraglichen Anspruch auf Zahlung der variablen Vergütung, den die Beklagte nach dem Betriebsübergang zu erfüllen habe.

9

Der Kläger hat beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 2.130,10 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Juni 2009 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die bei der [X.] vereinbarte [X.] habe das vorherige Vergütungssystem abgelöst. Eine variable Vergütung sei jeweils nur für ein Jahr vereinbart und auch von der [X.] nur jährlich zugesagt worden. Zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs auf die Beklagte sei allein die Zusage für das [X.] Vertragsbestandteil gewesen; die nach dem Betriebsübergang erteilte Zusage für das [X.] sei nicht (mehr) Inhalt des Arbeitsverhältnisses geworden.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom [X.] zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Der Kläger hat einen vertraglichen Anspruch auf Gratifikationen nach den bei der [X.] geltenden Richtlinien erworben (unter I). Nach Ersetzung der Richtlinien durch die [X.] ist dieser Anspruch auf die nunmehr bei der [X.] im jeweiligen Kalenderjahr gezahlte variable Vergütung gerichtet; der Kläger hat deshalb für das [X.] einen vertraglichen Anspruch auf variable Vergütung wie bei der [X.] (unter II). Nach Übergang seines Arbeitsverhältnisses durch Betriebsübergang muss die Beklagte diesen Anspruch nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB erfüllen (unter III).

I. Der Kläger hat nach § 3 Ziff. 2, § 6 seines Arbeitsvertrags einen vertraglichen Anspruch auf Gratifikationen und sonstige zusätzliche Leistungen.

1. Nach § 3 Ziff. 2 seines mit der [X.] geschlossenen Arbeitsvertrags erhält der Kläger für seine Tätigkeit eine Frühjahrs- und Weihnachtsgratifikation „entsprechend den Richtlinien der Gesellschaft“ und nach § 6 des Vertrags zusätzliche betriebliche Leistungen „nach der Arbeitsordnung und den Richtlinien der Gesellschaft“.

a) Das [X.] hat den Arbeitsvertrag nicht dahingehend ausgelegt, ob und in welchem Umfang dadurch vertragliche Ansprüche auf die Leistungen begründet worden sind. Der [X.] kann die unterbliebene Vertragsauslegung selbst uneingeschränkt vornehmen. Die maßgeblichen Tatsachen sind festgestellt und eine ergänzende Tatsachenfeststellung ist nicht zu erwarten. Der Arbeitsvertrag enthält nach Form und Inhalt typische Erklärungen, die erkennbar in einer Vielzahl anderer Arbeitsverträge abgegeben wurden und keine individuellen Besonderheiten aufweisen.

b) Typische Willenserklärungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden ( [X.] 18. Januar 2012 - 10 [X.] - Rn. 26, [X.] 2012, 499). Ansatzpunkt für die nicht am Willen der konkreten Vertragspartner zu orientierende Auslegung ist in erster Linie der [X.]. Ist der Wortlaut eines Formularvertrags nicht eindeutig, kommt es für die Auslegung entscheidend darauf an, wie der Vertragstext aus der Sicht der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise zu verstehen ist, wobei der [X.] verständiger und redlicher Vertragspartner beachtet werden muss ([X.] 17. August 2011 - 10 [X.] - Rn. 17, [X.] § 106 Nr. 8; 19. Januar 2011 - 10 [X.]  - Rn. 13, [X.] § 307 Nr. 50 = [X.] § 106 Nr. 7).

c) Nach § 3 Ziff. 2 des Arbeitsvertrags „erhält“ der Kläger für seine Tätigkeit eine Frühjahrs- und eine Weihnachtsgratifikation. Nach dem Wortlaut der Bestimmung wird ein Anspruch begründet. Dies bestätigt die Systematik des Vertrags. Die zugesagten Gratifikationen sind Teil der in § 3 geregelten „Bezüge“. Für seine Tätigkeit erhält der Kläger nach § 3 Ziff. 1 des Vertrags ein [X.] und nach § 3 Ziff. 2 eine Frühjahrs- und Weihnachtsgratifikation. Aus Sicht verständiger und redlicher Vertragspartner sind damit das [X.] und dem Grunde nach die bezeichneten Gratifikationen vertraglich zugesagt. Dass der Vertrag ihre Höhe nicht festlegt, sondern auf „Richtlinien der Gesellschaft“ verweist, steht dem nicht entgegen. In diesen Richtlinien waren die zusätzlichen Leistungen der [X.] und damit die „Vergütungsordnung“ der Gesellschaft geregelt. Die Zusage der Zahlung von Gratifikationen und die Verweisung auf Richtlinien der Gesellschaft kann aus Sicht verständiger Vertragspartner nur so verstanden werden, dass der Arbeitnehmer einen vertraglichen Anspruch auf Gratifikationen und sonstige Leistungen hat, wie sie in der Gesellschaft jeweils gezahlt werden.

2. In diese Verpflichtung ist im Jahr 2002 die [X.] nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB eingetreten. Die im Vorfeld dieses ersten Betriebsübergangs erteilte „[X.] zu den Wechselbedingungen“ und der darin formulierte Änderungsvorbehalt bei Einführung neuer Vergütungssysteme konnte diese [X.] nicht zum Nachteil des [X.] verändern; tatsächlich bestätigt sie die damalige [X.], da die Höhe der betrieblichen Frühjahrs- und Weihnachtsgratifikation sich entsprechend den Richtlinien der [X.] berechnen sollte.

II. Der vertragliche Anspruch auf Zahlung von Gratifikationen ist nicht dadurch entfallen, dass die Richtlinien der [X.] durch die [X.] abgelöst wurden und in dieser eine variable Vergütung (zunächst) nur befristet für das [X.] vereinbart wurde. Der vertragliche Anspruch des [X.] ist nunmehr auf die variable Vergütung gerichtet, die im jeweiligen Kalenderjahr bei der [X.] gezahlt wird. Dies ergibt die ergänzende Auslegung des Arbeitsvertrags des [X.].

1. Der Arbeitsvertrag enthält bezüglich der zugesagten Gratifikationen nur eine zeitdynamische Verweisung auf Richtlinien der Gesellschaft, nicht aber eine inhaltsdynamische Verweisung auf ablösende kollektive Betriebsvereinbarungen. Als kollektives Instrument der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ist die [X.] keine „Richtlinie“ im Sinne des Arbeitsvertrags. Mit Entfall und Ablösung der Richtlinien durch die [X.] entstand eine nachträgliche Regelungslücke im Arbeitsvertrag; die statische Weitergeltung abgelöster Richtlinien hätte nicht dem Zweck der vereinbarten zeitdynamischen Bezugnahme auf diese Richtlinien entsprochen.

2. Die nachträgliche Regelungslücke ist im Wege ergänzender Vertragsauslegung zu schließen. Im Bereich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen orientiert sich diese an einem objektiv-generalisierenden, am Willen und Interesse der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise ausgerichteten Maßstab. Die Vertragsergänzung muss für den betroffenen Vertragstyp eine allgemeine Lösung zur Verfügung stellen, welche die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach [X.] und Glauben als redliche Vertragsparteien vereinbart hätten, wenn ihnen die Unvollständigkeit ihrer Regelung bekannt gewesen wäre (vgl. für den Fall einer Tarifsukzession: [X.] 14. Dezember 2011 - 10 [X.] - Rn. 23 ff.; 23. März 2011 - 10 [X.] 831/09 - Rn. 21, [X.] § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 88).

3. Aus der dynamischen Bezugnahme auf Richtlinien der Gesellschaft lässt sich auf den Willen der Parteien schließen, auch das nachfolgende Regelwerk der [X.] vertraglich in Bezug zu nehmen, das als neue „Vergütungsordnung“ für die zusätzlichen Leistungen an die Stelle der Richtlinien tritt. Die mit der [X.] verbundene Änderung der „Vergütungsordnung“ der Gesellschaft wirkte deshalb auf den Arbeitsvertrag wie eine grundlegende inhaltliche Änderung der in Bezug genommenen Richtlinien; der vertragliche Anspruch des [X.] ist nunmehr auf die nach der „neuen Vergütungsordnung“ durch die jeweilige [X.] bestimmte variable Vergütung gerichtet. Entgegen der Auffassung der Beklagten und der Vorinstanzen folgt aus der Ablösung deshalb nicht, dass der vertragliche Anspruch des [X.] durch die Ergänzungen der [X.] seitens der [X.] jährlich neu und nur befristet entstand.

4. Die wiederholte Mitteilung der [X.] in den ergänzenden [X.]n vom 20. Dezember 2006 und 20. März 2008, die entsprechende Anwendung der [X.] ende mit Ablauf des jeweiligen Geschäftsjahres und es bestehe kein automatischer Gleichlauf mit eventuellen Nachfolgeregelungen bei der [X.], entsprach damit nicht der [X.] des [X.]. Dass der Kläger ein in diesen Schreiben liegendes Angebot auf Änderung seines Arbeitsvertrags angenommen hat, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich; das Schweigen gegenüber einem Angebot auf Verschlechterung eines Vertrags stellt keine Annahme eines solchen Angebots dar ([X.] 25. November 2009 - 10 [X.] 779/08 - Rn. 27, [X.] § 242 Betriebliche Übung Nr. 87 = [X.] § 242 Betriebliche Übung Nr. 11).

III. Die Beklagte ist nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in die vertraglichen Pflichten der [X.] eingetreten und deshalb verpflichtet, dem Kläger für das [X.] eine variable Vergütung in der Höhe zu zahlen, wie sie bei der [X.] in diesem Jahr gezahlt wurde. Zwar kann bei [X.] oder sonstigen Gewinnbeteiligungsabsprachen Anpassungsbedarf nach den Regeln ergänzender Vertragsauslegung bestehen, wenn die Kennziffern, die Bemessungsgrundlage für die Tantieme sind, beim [X.] nicht mehr gegeben sind. Bei der im [X.] bei der [X.] durch [X.] festgelegten variablen Vergütung in Höhe von 0,7 Monatsgehältern ist ein solcher Anpassungsbedarf aber nicht vorhanden.

IV. Die Zinsentscheidung folgt aus § 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.

        

    Mikosch     

        

    Schmitz-Scholemann    

        

    Mestwerdt    

        

        

        

    Thiel    

        

    Trümner    

                 

Meta

10 AZR 47/11

18.04.2012

Bundesarbeitsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Hamburg, 10. Februar 2010, Az: 4 Ca 159/09, Urteil

§ 133 BGB, § 157 BGB, § 613a Abs 1 S 1 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.04.2012, Az. 10 AZR 47/11 (REWIS RS 2012, 7232)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 7232

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