Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24.01.2024, Az. 6 C 4/22

6. Senat | REWIS RS 2024, 1113

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Gegenstand

Anwendungsbereich der Aktenversendungspauschale nach § 107 Abs. 5 OWiG


Leitsatz

1. § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG enthält bezüglich der Kosten für Aktenversendungen in Ordnungswidrigkeitenverfahren vor der Verwaltungsbehörde eine abschließende Regelung, in deren Anwendungsbereich ein Rückgriff auf das Landeskostenrecht nicht in Betracht kommt.

2. Ohne die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens ist § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG nicht anwendbar. Dies gilt auch dann, wenn die Akte, deren Versendung beantragt worden ist, objektiv jedenfalls auch Grundlage für die Prüfung der Einleitung eines solchen Verfahrens ist.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 20. Oktober 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1

Die Klägerin, eine für eine Versicherung tätige Rechtsanwältin, wehrt sich gegen den Teilbetrag in Höhe von 3,50 Euro, den der Beklagte für die Erstellung von Kopien aus einer polizeilichen Unfallakte geltend macht.

2

Sie beantragte bei der Polizeiinspektion S. Einsicht in eine Verkehrsunfallakte mit Blick auf eine mögliche Eintrittspflicht zur Schadenregulierung. Die Akte enthielt im Wesentlichen Daten, die nach einem Verkehrsunfall eines bei der Mandantin der Klägerin versicherten Kradfahrers aufgenommen worden waren. Bei dem Unfall, der sich ohne Fremdeinwirkung auf einer Landesstraße ereignet hatte, war der Kradfahrer nach Aussagen von Unfallzeugen mit angemessener Geschwindigkeit gefahren, in einer Rechtskurve von der Fahrbahn abgekommen und in einem Getreidefeld schwer verletzt liegen geblieben. Hinweise auf Drogen- oder Alkoholkonsum waren nicht erkennbar. Im polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem des Beklagten ist der Vermerk "Keine Folgemaßnahmen" enthalten.

3

Der Beklagte übersandte der Klägerin Kopien aus dem [X.] und machte hierfür mit [X.] vom 13. Oktober 2015 Gebühren in Höhe von 12,00 Euro und Auslagen in Höhe von 3,50 Euro für sieben Kopien, insgesamt also 15,50 Euro geltend.

4

Auf die Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 21. September 2017 den Bescheid antragsgemäß insoweit aufgehoben, als er einen Betrag von 12,00 Euro übersteigt. Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 20. Oktober 2021 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, das vom Beklagten herangezogene [X.] Verwaltungskostengesetz in Verbindung mit der hierzu erlassenen [X.] Allgemeinen Verwaltungskostenordnung komme als Rechtsgrundlage für den [X.] nicht in Betracht. Vorrangig anwendbar sei gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 [X.] Verwaltungskostengesetz (ThürVwKostG) § 107 Abs. 5 des [X.] (OWiG). Dieser sehe eine [X.]spauschale in Höhe von 12,00 Euro vor. Die Polizeiinspektion habe die Akte jedenfalls auch zur Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten erstellt. Zwar habe es keine Anzeichen für eine überhöhte Geschwindigkeit oder für einen Alkohol- oder Drogenkonsum des verletzten Kradfahrers gegeben. Auch seien weder ein strafrechtliches Ermittlungs- noch ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden. Es bestehe jedoch kein Grund zu der Annahme, dass die Entscheidung über die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens selbst in einfach gelagerten Fällen abschließend am Unfall getroffen werde und erstellte Unterlagen wie Anzeige, Unfallskizze und Bilddokumentation dann nur anderen Zwecken dienen sollten. Ein Anfangsverdacht zumindest eines Verstoßes gegen § 49 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 2 [X.] werde erst nach einer Auswertung der Unfalldokumentation auszuschließen sein. Dies ergebe sich nicht nur aus einer lebensnahen Betrachtung, sondern folge auch aus der Richtlinie des [X.] Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Aufgaben der [X.] Polizei bei [X.] vom 1. Januar 2017. Danach werde die Verkehrsunfallakte generell bei Unfällen mit Personenschaden jedenfalls auch zur späteren Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten erstellt. Der Charakter der angelegten Akte ändere sich nicht, wenn ein [X.] oder Strafverfahren letztlich nicht eingeleitet werde. Die [X.]spauschale für das Bußgeldverfahren gelte nach § 107 Abs. 5 OWiG auch für die Akteneinsicht eines [X.], ohne dass es auf die Entscheidung über die Einleitung eines Bußgeldverfahrens ankomme. Die Auslegung des § 107 Abs. 5 OWiG, wonach es in Bezug auf die Kostenerhebung für die [X.] unerheblich sei, ob ein tatsächlicher Zusammenhang mit einem Bußgeldverfahren zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten bestehe, führe nicht dazu, dass die Vorschrift nicht mehr von der Gesetzgebungskompetenz des [X.] gedeckt wäre. Soweit die Akten jedenfalls auch der Prüfung der Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens zu dienen bestimmt seien, bestehe vielmehr ein auch kompetenzrechtlich ausreichender Zusammenhang zum Ordnungswidrigkeitenverfahren als Teil des Strafrechts im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.

5

Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend: Der Anwendungsbereich des § 107 Abs. 5 OWiG sei nicht eröffnet. Die der Aufklärung und der Vorbereitung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße gegen den Betroffenen dienende Einleitung des Vorverfahrens gemäß §§ 53 ff. OWiG setze einen Anfangsverdacht voraus. Konkrete Tatsachen, die auf die Verwirklichung eines Bußgeldtatbestandes hindeuten, hätten hier nicht vorgelegen. Auf die potentielle Eignung einer Verwaltungsakte zur Prüfung des Vorliegens einer Ordnungswidrigkeit könne nach dem Gesetzeswortlaut nicht abgestellt werden. Für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des [X.] könne auch nicht die Regelung in einer Verwaltungsvorschrift - hier der Richtlinie des [X.] Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Aufgaben der [X.] Polizei bei [X.] - maßgeblich sein. Nach der genannten Richtlinie dienten die bei der polizeilichen Unfallaufnahme gewonnenen Erkenntnisse und Daten zudem auch als Grundlage für die Sicherung zivilrechtlicher Ansprüche durch Feststellung der Beteiligten und soweit möglich neutrale Klärung des Sachverhaltes. Aus der systematischen Stellung des § 107 Abs. 5 OWiG in dem mit "Bußgeldverfahren" überschriebenen [X.] folge, dass die Regelung außerhalb eines Bußgeldverfahrens keine Geltung beanspruchen könne. § 46 Abs. 1 OWiG setze für die Anwendbarkeit der strafverfahrensrechtlichen Akteneinsichtsregelungen ebenfalls ein Bußgeldverfahren voraus. § 107 Abs. 5 OWiG ohne tatsächlichen Zusammenhang mit einem Bußgeldverfahren zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten anzuwenden, sei zudem nicht mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG vereinbar.

6

Die Klägerin tritt der Revision entgegen: Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts sei die streitgegenständliche Akte jedenfalls auch zur Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten angelegt worden. Daher komme es auf die Frage des Vorliegens tatsächlicher Anhaltspunkte für eine Ordnungswidrigkeit nicht an. Durch die weite Auslegung des § 107 Abs. 5 OWiG würden willkürliche Entscheidungen vermieden. Dass die Akte zumindest auch zum Zweck der Prüfung der späteren Einleitung eines Bußgeldverfahrens angelegt worden sei, sei ein für den Akteneinsicht begehrenden Bürger nachvollziehbares und vorhersehbares Kriterium. Weder aus der systematischen Stellung noch aus dem Sinn und Zweck der Norm ergebe sich das Erfordernis eines tatsächlich durchgeführten Ordnungswidrigkeitenverfahrens. Vielmehr sei anerkannt, dass sich das Verfahren betreffende Gesetze regelmäßig auch auf Vorfeldmaßnahmen, die einer Entscheidung über die Verfahrenseinleitung vorausgehen, beziehen könnten. Der [X.] habe die Kompetenz, Vorfeldmaßnahmen und mit diesen im Zusammenhang stehende Kosten zu regeln. Auf die Richtlinie des [X.] Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Aufgaben der [X.] Polizei bei [X.] beziehe sich das Berufungsgericht nur zur Klärung des tatsächlichen Sachverhalts.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht den [X.] des Beklagten vom 13. Oktober 2015 für rechtswidrig gehalten hat, verstoßen gegen [X.] (§ 137 Abs. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Anwendbarkeit des § 107 Abs. 5 OWiG die Heranziehung landeskostenrechtlicher Bestimmungen als Rechtsgrundlage für den [X.] ausschließt (1.). [X.] Recht verletzt jedoch die hieran anknüpfende weitere Annahme des [X.], § 107 Abs. 5 OWiG sei nicht nur in dem Fall anzuwenden, dass ein Bußgeldverfahren tatsächlich durchgeführt wird oder zumindest durchgeführt worden ist, sondern auch dann, wenn die Akte objektiv jedenfalls auch Grundlage für die Prüfung der Einleitung eines Bußgeldverfahrens ist (2.). Auf diesem Rechtsverstoß beruht das Berufungsurteil (3.). Da die Frage, ob es sich aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO) von der Auslegung des vom Oberverwaltungsgericht bislang nicht angewendeten Landesrechts abhängt, verweist der Senat die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO an das Oberverwaltungsgericht zurück (4.).

8

1. Die Annahme des [X.], das [X.] Verwaltungskostengesetz in Verbindung mit der hierzu erlassenen [X.] Allgemeinen Verwaltungskostenordnung komme als Rechtsgrundlage für den angefochtenen [X.] nicht in Betracht, wenn § 107 Abs. 5 OWiG anwendbar ist, steht mit dem revisiblen Recht in Einklang.

9

Zwar hat das Oberverwaltungsgericht diesen Rechtssatz auf die irrevisible Vorschrift des § 1 Abs. 3 Satz 1 ThürVwKostG gestützt, wonach die Erhebung von Verwaltungskosten nach anderen Rechtsvorschriften unberührt bleibt. Handelt es sich bei den anderen Rechtsvorschriften um Bundesrecht, bringt diese Norm jedoch nur deklaratorisch dessen bereits aus Art. 31 [X.] folgenden Vorrang zum Ausdruck.

Der im vorliegenden Fall in der Fassung des [X.] ([X.]) anwendbare § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG bestimmt, dass von demjenigen, der die Versendung von Akten beantragt, je durchgeführte Sendung einschließlich der Rücksendung durch Behörden pauschal 12 Euro als Auslagen erhoben werden. Der Bundesgesetzgeber hat mit der Einführung dieser Regelung von seiner Kompetenz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 [X.], zu dem auch das Ordnungswidrigkeitenrecht zählt, Gebrauch gemacht und damit eine gegenüber dem Landesrecht abschließende Regelung bezüglich der Kosten für [X.]en in Ordnungswidrigkeitenverfahren vor der Verwaltungsbehörde getroffen. Der abschließende Charakter des § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG ergibt sich bereits aus der Formulierung, dass die Auslagen für die [X.] "pauschal" erhoben werden. Da die Norm hiernach eine vorrangige und abschließende Regelung des Tatbestands der Kostenerhebung enthält, kommt in ihrem Anwendungsbereich ein Rückgriff auf das Landeskostenrecht nicht in Betracht (vgl. [X.], Urteil vom 20. April 1993 - 6 A 12354/92 - NVwZ-RR 1994, 465 <466>; Gürtler/​Thoma, in: [X.] [Hrsg.], OWiG Kommentar, 18. Aufl. 2021, § 107 Rn. 23a; [X.], Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Stand: April 2020, § 107 Rn. 11.1.).

2. Der vom Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte weitere Rechtssatz, § 107 Abs. 5 OWiG sei nicht nur in dem Fall anzuwenden, dass ein Bußgeldverfahren tatsächlich durchgeführt wird oder zumindest durchgeführt worden ist, sondern schon dann, wenn die Akte objektiv jedenfalls auch Grundlage für die Prüfung der Einleitung eines Bußgeldverfahrens ist, verletzt hingegen [X.].

Zwar steht der Wortlaut des § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG dem vom Berufungsgericht befürworteten weiten Verständnis der Norm nicht entgegen. Er knüpft allein an die Versendung von Akten sowie die Antragstellung als Tatbestandsmerkmale an und lässt darüber hinaus keine weitere Eingrenzung erkennen (vgl. [X.], Urteil vom 24. Mai 2007 - 7 A 10110/07 - NJW 2007, 2426). Insbesondere enthält er auch keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Vorschrift nur in den Fällen eines bereits eingeleiteten Ordnungswidrigkeitenverfahrens anwendbar ist. Für die Normauslegung unergiebig ist ferner die Reichweite der durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 [X.] geregelten konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des [X.] und das gerichtliche Verfahren, die das bußgeldrechtliche Verwaltungsverfahren und als Annexkompetenz das hierauf bezogene Kostenrecht umfasst. Denn die Frage, in welchem Umfang der Bundesgesetzgeber bei Erlass des § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG von dieser Kompetenz tatsächlich Gebrauch gemacht hat, wird durch die Kompetenznorm selbst nicht beantwortet.

Die systematische (a), historische (b) und teleologische (c) Auslegung führt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Regelung ohne die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens nicht anwendbar ist. Dies gilt auch dann, wenn die Akte, deren Versendung beantragt worden ist, objektiv jedenfalls auch Grundlage für die Prüfung der Einleitung eines solchen Verfahrens ist.

a) Unter dem Gesichtspunkt der Gesetzessystematik kommt vor allem dem Umstand Bedeutung zu, dass sich § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG im [X.] befindet, der mit "Bußgeldverfahren" überschrieben ist. Auch der dortige Standort des § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG unter der mit "Verfahren der Verwaltungsbehörde" überschriebenen Ziffer I. des Zehnten Abschnitts ("Kosten") bestätigt den Bezug zu dem Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. Ohne die Einleitung eines solchen Verfahrens ist nach der gesetzlichen Systematik der Anwendungsbereich der im [X.] enthaltenen Vorschriften und damit auch des § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG nicht eröffnet.

b) Die Entstehungsgeschichte des § 107 Abs. 5 OWiG spricht ebenfalls deutlich gegen die Annahme, der Anwendungsbereich der Vorschrift sei auch ohne die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens eröffnet.

Die Regelung wurde in ihrer ursprünglichen Fassung ("Von demjenigen, der die Versendung von Akten beantragt, werden je durchgeführte Sendung pauschal acht Euro als Auslagen erhoben.") durch Art. 17 Nr. 3 Buchst. b des Gesetzes zur Änderung des Rechts der Vertretung durch Rechtsanwälte vor den [X.] ([X.] - [X.]) vom 23. Juli 2002 ([X.] I S. 2850) eingeführt. Aus den [X.] ergibt sich, dass sie auf einen von der Bundesregierung übernommenen Vorschlag des Bundesrates zurückgeht. Dieser wurde damit begründet, dass in Anlehnung an die im gerichtlichen Bußgeldverfahren nach Nr. 9003 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz geltende Regelung eine Auslagenpauschale auch für die auf Antrag erfolgende [X.] durch die Verwaltungsbehörde eingeführt und die unterschiedliche kostenrechtliche Behandlung der [X.] durch das Gericht und die Verwaltungsbehörde damit beseitigt werden sollte ([X.]. 107/02 S. 21; [X.]. 14/8763 S. 13; vgl. ferner hierzu [X.]. 14/3204 [X.] und [X.]. 302/99 S. 8). Dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel eines kostenrechtlichen Gleichlaufs der [X.] im verwaltungsbehördlichen und im gerichtlichen Bußgeldverfahren würde die Erstreckung des Anwendungsbereichs des § 107 Abs. 5 OWiG auf solche Fälle, in denen die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens unterblieben ist, jedoch zuwiderlaufen. Denn die Erhebung der [X.]spauschale nach Nr. 9003 [X.] setzt voraus, dass ein Verfahren vor einem ordentlichen Gericht nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten eingeleitet worden und damit gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 7 GKG der Geltungsbereich des [X.] eröffnet ist. Versendet ein Gericht Akten, die (noch) keinem Verfahren zuzuordnen sind, handelt es sich um eine Justizverwaltungsangelegenheit mit der Folge, dass Kosten nach den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen zu erheben sind.

Dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des § 107 Abs. 5 OWiG nicht auf Fälle erstrecken wollte, in denen es an der Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens fehlt, wird - wenn auch nur mittelbar - dadurch bestätigt, dass die durch das Gesetz über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz - [X.]) vom 22. März 2005 ([X.]) eingeführte Pauschale für die Einsicht in elektronische Akten in Satz 2 durch das - nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt in [X.] getretene – Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017 ([X.] I S. 2208) wieder aufgehoben wurde. Zu der entsprechenden Anpassung der Nr. 9003 [X.] wird in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ausgeführt, für die Einsicht in gerichtliche Akten würden nach geltendem Recht keine besonderen Kosten erhoben, vielmehr sei die Akteneinsicht durch die Gebühren des zugrundeliegenden Verfahrens abgegolten. Lediglich für die Versendung der Akten werde eine nach allen Kostengesetzen einheitliche Pauschale von 12 Euro erhoben. Hieran solle festgehalten werden ([X.]. 18/9416 [X.]). Wie diese Erwägungen belegen, sind die Verfasser des zeitlich nachgelagerten Gesetzes ohne Weiteres davon ausgegangen, dass die durch die Pauschale abgegoltene Versendung der Akten auf ein konkretes Verfahren bezogen ist, für das das Gesetz eine Gebühr vorsieht, und lediglich den Zweck hat, die Einsicht in die zu diesem konkreten Verfahren gehörenden Akten zu ermöglichen. Dies setzt voraus, dass ein gerichtliches Verfahren überhaupt eingeleitet worden ist. Dass Entsprechendes für das verwaltungsbehördliche Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gelten muss, folgt bereits aus dem erwähnten Zweck des § 107 Abs. 5 OWiG, die unterschiedliche kostenrechtliche Behandlung der [X.] durch das Gericht und die Verwaltungsbehörde zu beseitigen.

c) Dass erst die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens den Anwendungsbereich des § 107 Abs. 5 OWiG eröffnet, wird schließlich durch die teleologische Auslegung bestätigt.

Neben dem unter b) bereits erwähnten Normzweck eines kostenrechtlichen Gleichlaufs der [X.] im verwaltungsbehördlichen und im gerichtlichen Bußgeldverfahren ist der allgemeine Zweck von Auslagenpauschalen zu berücksichtigen, eine vereinfachte Abrechnung der Auslagen zu ermöglichen (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 2. Juli 2009 - [X.]/08 - NJW 2009, 3104 <3105, Rn. 16>). Das durch diese Vereinfachung im Schwerpunkt verfolgte Interesse einer Schonung behördlicher Ressourcen fordert ebenfalls keine extensive Auslegung des Anwendungsbereichs des § 107 Abs. 5 OWiG mit der Folge einer entsprechenden Verdrängung landesrechtlicher Kostenregelungen.

Dem vom Oberverwaltungsgericht hervorgehobenen Umstand, mit Blick auf die unterschiedlichen gebührenrechtlichen Folgen erscheine die Verfahrenszäsur der Entscheidung über die tatsächliche Einleitung eines Bußgeldverfahrens für den die [X.] [X.] zufällig und willkürlich, kommt im Rahmen der teleologischen Auslegung hingegen keine Bedeutung zu. Die betragsmäßig exakte Vorhersehbarkeit der durch eine beantragte Versendung der Akten ausgelösten Kosten ist von den Normzwecken des § 107 Abs. 5 OWiG nicht umfasst. Vielmehr ist es demjenigen, der Einsicht in eine Behördenakte begehrt, ohne Weiteres zuzumuten, sich in Zweifelsfällen auf die Maßgeblichkeit der jeweiligen landesrechtlichen Kostenregelungen einzustellen.

3. Auf der nach alledem [X.] verletzenden Erwägung des [X.], der Anwendungsbereich des § 107 Abs. 5 Satz 1 OWiG sei auch ohne die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens eröffnet, wenn die Akte, deren Versendung beantragt wird, objektiv jedenfalls auch Grundlage für die Prüfung der Einleitung eines Bußgeldverfahrens ist, beruht das angefochtene Urteil. Denn das Oberverwaltungsgericht hat die Zurückweisung der Berufung des Beklagten allein darauf gestützt, dass wegen der von ihm angenommenen Anwendbarkeit der vorrangigen Vorschrift des § 107 Abs. 5 OWiG die vom Beklagten herangezogenen landesrechtlichen Kostenregelungen als Rechtsgrundlage für den [X.] nicht in Betracht kommen. Hierbei ist es von der - mangels durchgreifender Verfahrensrügen bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) – tatsächlichen Feststellung ausgegangen, dass die Polizeiinspektion S. die Akte, in die die Klägerin Einsicht begehrt hat, jedenfalls auch zur späteren Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten erstellt hat.

4. Ob sich das angefochtene Urteil aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO), ist in dem hiesigen Revisionsverfahren nicht abschließend zu entscheiden.

a) Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten nicht deshalb im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen, weil entgegen den Ausführungen im Berufungsurteil ein Ordnungswidrigkeitenverfahren zumindest konkludent eingeleitet worden wäre und sich bereits hieraus die Anwendbarkeit des § 107 Abs. 5 Satz 1 VwGO ergäbe. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Annahme des [X.], es sei weder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren noch ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden, unzutreffend sein könnte. Tatsächliche Feststellungen, die in dem dargelegten Sinne auf die Durchführung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens durch den Beklagten oder auch nur auf das Bestehen eines Anfangsverdachts hindeuten könnten, hat das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen. Es hat im Gegenteil festgestellt, dass in dem polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem des Beklagten der Vermerk "Keine Folgemaßnahmen" enthalten ist.

b) Das Berufungsurteil würde sich nach alledem nur dann aus anderen Gründen als richtig erweisen (§ 144 Abs. 4 VwGO), wenn der Bescheid des Beklagten in dem angefochtenen Umfang mangels Vereinbarkeit mit den im Landesrecht normierten Maßstäben rechtswidrig wäre. Diese Prüfung muss jedoch dem Oberverwaltungsgericht überlassen bleiben.

Dem Berufungsurteil kann zum Inhalt der für die Frage der Rechtmäßigkeit des angefochtenen [X.]s maßgeblichen Normen des [X.] keine Entscheidung des [X.] entnommen werden. Da sich folglich der erkennende Senat insoweit nicht in Widerspruch zu einer für ihn gemäß § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 560 ZPO bindenden Auslegung des Berufungsgerichts setzen kann, ist ihm die Anwendung der irrevisiblen Rechtsvorschriften zwar grundsätzlich nicht verwehrt. § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 563 Abs. 4 ZPO räumt dem Revisionsgericht jedoch in Fällen, in denen es für die Entscheidung auf die Anwendung solcher Vorschriften ankommt, ein prozessuales Ermessen ein, ob es das irrevisible Recht eigenständig auslegt oder die Sache an die Vorinstanz zurückverweist (vgl. [X.], Urteil vom 19. Februar 2015 - 9 CN 1.14 - NVwZ-RR 2015, 867 Rn. 22 f.; [X.], in: [X.]/[X.], VwGO, Stand: März 2023, § 137 Rn. 86; [X.]/​[X.], in: [X.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 144 Rn. 47). Die Aufgabenverteilung zwischen Bundes- und Landesjudikative, wie sie im Licht der bundesstaatlichen Ordnung (Art. 30, 92 ff. [X.]) vorgegeben ist, legt jedoch im Zweifel ein einengendes Verständnis der Kompetenz des Revisionsgerichts zur Anwendung und Auslegung von Landesrecht nahe (vgl. [X.], Urteil vom 27. April 2005 - 8 C 5.04 - [X.]E 123, 303 <307>). Im Grundsatz ist die verbindliche Feststellung des Inhalts des Landesrechts den Gerichten der Länder vorzubehalten ([X.], Urteil vom 18. Dezember 1987 - 4 C 9.86 - [X.]E 78, 347 <351>). Ausnahmen hiervon bedürfen einer besonderen Begründung (vgl. [X.], in: [X.], VwGO, 16. Aufl. 2022, § 137 Rn. 7).

Hiervon ausgehend macht der Senat von dem ihm nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 563 Abs. 4 ZPO eingeräumten Ermessen dahin Gebrauch, dass er die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO an das Oberverwaltungsgericht zurückverweist, um diesem Gelegenheit zur Auslegung des maßgeblichen Landesrechts zu geben. Denn ein besonders gelagerter Fall, der ausnahmsweise eine Abweichung von dem Grundsatz rechtfertigt, dass die verbindliche Feststellung des Inhalts des Landesrechts den Gerichten der Länder vorzubehalten ist, liegt hier nicht vor. Insbesondere könnte sich der Senat bei der Anwendung und Auslegung des irrevisiblen Rechts nicht auf bereits vorliegende einschlägige Entscheidungen des zuständigen [X.] stützen. Rechtsprechung des [X.] [X.] zu den hier relevanten Vorschriften des [X.] Verwaltungskostengesetzes und der [X.] Allgemeinen Verwaltungskostenordnung ist - soweit ersichtlich - nicht veröffentlicht. Die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften führt auch nicht zu einem derartig eindeutigen Ergebnis, dass nicht mit einer anderen Entscheidung des Berufungsgerichts bei erneuter Befassung mit der Sache gerechnet werden könnte (vgl. zu diesem Gesichtspunkt: [X.] in: [X.]/​[X.], VwGO, Stand: März 2023, § 137 Rn. 89; [X.], in: [X.]/​[X.], VwGO, Stand: März 2023, § 144 Rn. 72, 85; [X.]/[X.], in: [X.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 137 Rn. 120).

Meta

6 C 4/22

24.01.2024

Bundesverwaltungsgericht 6. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Thüringer Oberverwaltungsgericht, 20. Oktober 2021, Az: 3 KO 120/21, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24.01.2024, Az. 6 C 4/22 (REWIS RS 2024, 1113)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 1113

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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