Bundessozialgericht, Urteil vom 02.11.2010, Az. B 1 KR 8/10 R

1. Senat | REWIS RS 2010, 1773

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Gegenstand

Krankenversicherung - Kostenübernahme von ärztlich verordnetem medizinisch notwendigen Rehabilitationssport in Gruppen


Leitsatz

Ein behinderter Versicherter kann ärztlich verordneten medizinisch notwendigen Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung von seiner Krankenkasse auch dann längerfristig beanspruchen, wenn er bezogen auf diesen Sport über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt.

Tenor

Auf die Revision des [X.] werden die Urteile des [X.] vom 12. November 2009 und des [X.] vom 5. März 2008 aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 2007 verurteilt, den Kläger ab 13. November 2009 mit ärztlich verordnetem Rehabilitationssport in Gruppen zu versorgen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des [X.] in allen Rechtszügen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über Leistungen für ärztlich verordneten Rehabilitationssport ([X.]) in Gruppen.

2

Der 1975 geborene Kläger leidet nach Frakturen der [X.] an einer Querschnittslähmung mit Spastik der unteren Extremitäten. Er wird [X.] behandelt und nimmt seit 1998 auf Kosten der Beklagten an den Übungsstunden einer Selbsthilfegruppe körperbehinderter Menschen teil. Am [X.] erhielt er vom [X.] die Lizenz zum Fachübungsleiter C Rehabilitationssport "Peripheres und zentrales Nervensystem".

3

Am 27.11./18.12.2006 verordnete der Allgemeinmediziner Dr. P. dem Kläger - einen Leistungsantrag unterstützend - in einer Folgeverordnung weiteren [X.] in der Form "Bewegungsspiele in Gruppen" mit dem Ziel des Erhalts der Selbstständigkeit und der Erweiterung der verbliebenen Funktionen. Der Arzt bestätigte die Notwendigkeit von 120 Übungseinheiten innerhalb eines Blocks von 36 Monaten wegen einer psychischen Belastungsreaktion des [X.], um einer psychischen Dekompensation entgegenzuwirken. Die Ärztinnen Dr. L. und Dr. S. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung ([X.]) betonten jeweils in Stellungnahmen die Wichtigkeit der Übungsteilnahme für den Kläger bzw hielten eine ständige Bewegungstherapie für "zwingend erforderlich" und ein "angemessenes, regelmäßiges Sport- und Bewegungsprogramm" für ihn für "grundsätzlich … medizinisch sinnvoll". Beide sahen sich aber an der Befürwortung der Leistungsgewährung gehindert durch die in der "Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining" (vom 1.10.2003; Rahmenvereinbarung 2003) festgelegte Leistungshöchstdauer, die nur bei krankheits-/behinderungsbedingt fehlender Motivation überschritten werden dürfe. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme für weiteren [X.] ab (Bescheid vom 18.1.2007; Widerspruchsbescheid vom 26.9.2007).

4

Das [X.] hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 5.3.2008). Das L[X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen: Er habe keinen Anspruch auf [X.] in Gruppen gemäß § 27 Abs 1 [X.], § 40 [X.]B V iVm § 44 Abs 1 Nr 3 [X.]B IX, weil derartige Aktivitäten nach der Rechtsprechung des B[X.] ([X.]-2500 § 43 [X.] - Funktionstraining) "Hilfe zur Selbsthilfe" bezweckten und nicht auf Dauer angelegt seien. Zwar sei der [X.] beim Kläger medizinisch notwendig. Das allgemein auf die Steigerung oder Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit gerichtete Ziel des [X.]s könne der Kläger jedoch auch allein außerhalb seiner Gruppe erreichen; denn er verfüge mit seinen Kenntnissen als Übungsleiter über bessere Kenntnisse und höhere Motivation als "einfache" Teilnehmer solcher Veranstaltungen (Urteil vom 12.11.2009).

5

Mit seiner Revision rügt der Kläger sinngemäß die Verletzung von § 44 Abs 1 Nr 3 [X.]B IX iVm § 43 [X.]B V. Das L[X.]-Urteil lasse außer [X.] lasse, dass der Anspruch auf Funktionstraining nicht mengenmäßig oder temporär beschränkt werden dürfe. Ähnlich wie beim Funktionstraining komme es für die Leistungspflicht für den [X.] allein auf die medizinische Notwendigkeit an, die das L[X.] ausdrücklich bejaht habe. Der Betroffene dürfe dann nicht darauf verwiesen werden, den [X.] eigenständig durchzuführen.

6

In der mündlichen Verhandlung vom 2.11.2010 haben die Beteiligten in Bezug auf die begehrte Kostenerstattung für die [X.] von Dezember 2006 bis 12.11.2009 einen - an das Ergebnis des Revisionsverfahrens über den [X.] ab 13.11.2009 anknüpfenden - Teilvergleich geschlossen.

7

Der Kläger beantragt,
die Urteile des [X.] vom 12. November 2009 und des [X.] vom 5. März 2008 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 2007 zu verurteilen, ihn ab 13. November 2009 mit ärztlich verordnetem Rehabilitationssport in Gruppen zu versorgen,
hilfsweise,
das Urteil des [X.] vom 12. November 2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält das L[X.]-Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des [X.] ist begründet.

Die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen Bescheide der beklagten Krankenkasse sind rechtswidrig und aufzuheben. Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten ärztlich verordneten [X.] in Gruppen auch auf seinen Antrag von November 2006 hin für die [X.] ab 13.11.2009.

Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung ([X.]) - wie der Kläger - haben gemäß § 11 Abs 2 Satz 1 [X.] "Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehahabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung … abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern." Diese Leistungen werden unter Beachtung des [X.] erbracht, soweit im [X.] nichts anderes bestimmt ist (§ 11 Abs 2 Satz 3 [X.]; vgl [X.], 277 = [X.]-2500 § 40 [X.], Rd[X.]8 mwN). § 43 Abs 1 [X.] [X.] regelt, dass die Krankenkasse neben den Leistungen, die nach § 44 Abs 1 [X.] bis 6 [X.] sowie nach §§ 53 und 54 [X.] als ergänzende Leistungen zu erbringen sind, weitere Leistungen zur Reha ganz oder teilweise erbringen oder fördern kann, wenn sie zuletzt Krankenbehandlung gewährt hat oder leistet. § 44 Abs 1 [X.] [X.] sieht als ergänzende Leistung ua zur medizinischen Reha, welche die in § 6 Abs 1 [X.] bis 5 [X.] genannten [X.] (ua die Beklagte, § 6 Abs 1 [X.] [X.]) zu erbringen haben, "ärztlich verordneten Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" vor.

Aus dem Wortlaut des § 43 Abs 1 [X.] ("zu erbringen ... sind") folgt, dass ein Rechtsanspruch auf die ergänzende Leistung "[X.] in Gruppen" besteht, wenn die in der Regelung genannten Voraussetzungen vorliegen. Die Verweisung des § 43 Abs 1 [X.] auf die darin angesprochenen Regelungen des [X.] über die Erbringung ergänzender Leistungen zur Reha bewirkt, dass diese Regelungen im Bereich der [X.] Anwendung finden, weil das [X.] für den in § 44 Abs 1 [X.] [X.] geregelten [X.] nichts Abweichendes iS von § 11 Abs 2 Satz 3 [X.] und § 7 [X.] bestimmt (vgl bereits BSG [X.]-2500 § 43 [X.] Rd[X.]0 mwN in Bezug auf die parallele Situation beim Funktionstraining).

Wie der [X.] bereits für das "Funktionstraining" am [X.] entschieden hat, ist die Rahmenvereinbarung 2003 grundsätzlich nicht geeignet, eigenständig und gegen die gesetzlichen Vorgaben einen höchstzulässigen Leistungsumfang für reha-bedürftige Leistungsberechtigte in Bezug auf ergänzende Leistungen zu begründen (BSG [X.]-2500 § 43 [X.] Rd[X.]1 ff). An dieser Rechtsprechung hält der [X.] fest. Auch im vorliegenden Fall ist die Rahmenvereinbarung noch in der bis 31.12.2006 geltenden Fassung anzuwenden, da sich die zum 1.1.2007 geänderte Neufassung nur auf ärztliche Verordnungen vom 1.1.2007 an bezieht ([X.]0.3 Rahmenvereinbarung 2007). Diese Rechtslage gilt entsprechend für die ergänzende Leistung "[X.] in Gruppen". Dem folgt inzwischen auch die Beklagte. Auf die von der Beklagten ursprünglich hervorgehobenen, vermeintlich leistungsausschließenden Umstände kommt es damit nicht an.

Wie der [X.] in seinem oa Urteil (aaO Rd[X.]8 ff) im Einzelnen dargelegt hat, geben die maßgeblichen gesetzlichen Rechtsgrundlagen für eine Höchstdauer der Gewährung von ergänzenden Leistungen nach § 43 Abs 1 [X.] [X.] iVm § 44 Abs 1 [X.] bis 6 [X.] für Versicherte der [X.] nichts her. Eine Einschränkung der Anspruchsdauer kann sich vielmehr allein dadurch ergeben, dass die Leistungen jeweils individuell im Einzelfall geeignet, notwendig und wirtschaftlich sein müssen (vgl § 11 Abs 2 Satz 1 [X.], § 43 Abs 1 [X.] iVm § 44 Abs 1 [X.] [X.], § 12 Abs 1 [X.]). Dementsprechend hatte der [X.] in seinem oa Urteil die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen, um noch feststellen zu lassen, ob die begehrten (ärztlich zu verordnenden) Leistungen im dortigen Fall akzessorisch zu einer zuvor oder gleichzeitig zu gewährenden Hauptleistung (Maßnahme der Krankenbehandlung einschließlich medizinischer Reha) waren - solche Leistungen ergänzten -, und ob sie "notwendig" iS der genannten Regelungen des [X.] und [X.] waren. Derartiges ist vorliegend indessen auf der Grundlage der für den [X.] bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des [X.] zu bejahen.

Im Fall des [X.] hat das [X.] festgestellt, dass die ihm ärztlich verordneten ergänzenden Leistungen die ihm ebenfalls gewährte Krankengymnastik - ein Heilmittel - ergänzten. Es ist ferner gestützt auf die Beurteilung von [X.] davon ausgegangen, dass der [X.] bei dem querschnittsgelähmten und daher in besonderer Weise gesundheitlich beeinträchtigten Kläger medizinisch notwendig ist, weil die in der Rahmenvereinbarung aufgelisteten Vorgaben erfüllt sind. Soweit das [X.] allerdings angenommen hat, auch der hier begehrte [X.] bezwecke bloße "Hilfe zur Selbsthilfe" und sei nicht auf Dauer angelegt, kann ihm nicht gefolgt werden. Das lässt bezogen auf die hier betroffene [X.] § 2a [X.] außer Betracht, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist. Die Auffassung misst ferner dem besonderen Anliegen, behinderten Menschen zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe besondere Rechte zu gewähren (§ 10 [X.], § 1 [X.]) und dem auch ihnen im Rahmen der Rechtsvorschriften eingeräumten Wunsch- und Wahlrecht (§ 33 [X.]) zu geringe Bedeutung bei.

Zu Unrecht stützt sich das [X.] zum Beleg für seine Auffassung auf das [X.] vom [X.] zum Funktionstraining (vgl BSG [X.]-2500 § 43 [X.] Rd[X.]6). Während beim "Funktionstraining in Gruppen unter fachkundiger Anleitung und Überwachung" in Betracht kommt, dass der Betroffene nach Erlernen von Übungen in der Gruppe ([X.]) nach bestimmter [X.] der fachkundigen Anleitung und Überwachung in der Lage ist, derartige Übungen auch eigenständig durchzuführen und einer gruppenweise durchgeführten Maßnahme nicht mehr bedarf, gilt das nicht in gleicher Weise für den [X.] in Gruppen.

Die Sachlage bei der vom Gesetz von vornherein nicht nur als "[X.]", sondern ausdrücklich als [X.] "in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" bezeichneten ergänzenden Leistung unterscheidet sich von derjenigen des Funktionstrainings in wesentlicher Hinsicht und kann folglich auch unterschiedlich geartete Ansprüche auslösen und in Bezug auf die "Notwendigkeit" anders beurteilt werden. Das Gesetz misst bereits durch die Leistungskennzeichnung der Betätigung behinderter Menschen gerade in einer rehabilitationsorientierten Sportgruppe einen besonderen Stellenwert im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit bei, der über denjenigen des gesundheitlichen Nutzens allgemeinen Sporttreibens und sinnvoller regelmäßiger körperteilbezogener gymnastischer Übungen hinausgeht. Die Hervorhebung des Sports "in Gruppen" beruht hier offensichtlich auf der Erkenntnis, dass für behinderte Menschen - zumal für Menschen, die wie der Kläger in jungen Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen sind - häufig nur eine begrenzte Zahl von Sportarten in Betracht kommen wird (vgl hierzu allgemein die in [X.] bis 5.3 Rahmenvereinbarung 2003 hervorgehobenen [X.]arten). Insoweit wirkt gerade das Gemeinschaftserlebnis, mit anderen vergleichbar Betroffenen Sportliches leisten zu können, in besonderer Weise rehabilitativ. Selbst die Rahmenvereinbarung 2003 enthält teilweise bereichsspezifische Regelungen für "[X.]" einerseits ([X.] bis 2.5, 4, 4.2, 4.4.2, 4.4.3, 4.6, 5 bis 5.3, 8 bis 8.8, 10 bis 10.3, 12 bis 12.2, 13 bis 13.3) und "Funktionstraining" andererseits ([X.] bis 3.4, 4.4.4, 6, 9 bis 9.8, 11 bis 11.4, 14 bis 14.4). Entsprechend wäre im Falle des [X.] auch gar nicht einmal erkennbar, auf welche von ihm nur als Einzelperson zu betreibende und dem [X.] in einer Gruppe gleichwertige sportliche Alternative - zumal "unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" - er zumutbar verwiesen werden könnte, insbesondere dann, wenn sein Revisionsvorbringen zutreffen sollte, dass es bislang wesentlich auch um die Teilnahme am Rollstuhlbasketballsport ging.

Nach der dargestellten Zielrichtung des [X.]s in Gruppen ist die Notwendigkeit demnach auch unabhängig davon zu beurteilen, über welche individuellen Vorkenntnisse der jeweilige Leistungsberechtigte bereits verfügt. Nach Sinn und Zweck der ergänzenden Maßnahme, Betroffenen im Rahmen ihrer medizinisch notwendigen Reha und Krankenbehandlung auch sportliche Gruppenaktivitäten auf Kosten der [X.] zu ermöglichen, kommt es damit nicht darauf an, dass der Kläger die formelle Befähigung zum Fachübungsleiter für [X.] besitzt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Meta

B 1 KR 8/10 R

02.11.2010

Bundessozialgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Regensburg, 5. März 2008, Az: S 2 KR 258/07, Urteil

§ 11 Abs 1 Nr 4 SGB 5, § 11 Abs 2 S 1 SGB 5, § 11 Abs 2 S 3 SGB 5, § 12 Abs 1 SGB 5, § 27 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB 5, § 43 Abs 1 Nr 1 SGB 5, § 7 SGB 9, § 44 Abs 1 Nr 3 SGB 9

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 02.11.2010, Az. B 1 KR 8/10 R (REWIS RS 2010, 1773)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 1773

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