Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.06.2015, Az. XI R 18/13

11. Senat | REWIS RS 2015, 9709

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Gegenstand

(Zurückverweisung gemäß § 127 FGO bei Änderungsbescheiden vor und nach Insolvenzeröffnung)


Leitsatz

NV: Hat das FA während des Revisionsverfahrens mehrere Änderungsbescheide sowie einen Aufhebungsbescheid zu einem der Änderungsbescheide erlassen, die teilweise vor und teilweise nach Insolvenzeröffnung ergangen sind, ist die Sache an das FG zurückzuverweisen, wenn aufgrund des Vortrags der Beteiligten sowie der Vorgänge nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sich im Streitfall tatsächliche Fragen stellen, die bisher nicht geklärt sind .

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 20. Februar 2013  3 K 2222/10 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Die X-GmbH (GmbH) vertrieb im Streitjahr (2009) u.a. Waren über Telefon, [X.] und Printmedien. Dabei bediente sich die [X.] an Endverbraucher in der [X.] ([X.]) eines in der [X.] ([X.]) ansässigen externen Dienstleistungsunternehmens, der [X.]irma [X.].

2

Die Waren der GmbH wurden in das Logistikzentrum der [X.] in der [X.] verbracht, logistisch erfasst und gelagert. Nach Eingang einer [X.]estellung aus [X.] wurde die Ware konfektioniert, d.h. insbesondere verpackt, mit Adressaufklebern versehen und zum Verteilerzentrum der [X.], [X.], oder der [X.]irma [X.] in [X.], [X.], verbracht. Von dort wurde die Ware an die Kunden in [X.] (weiter) versendet.

3

Dazu war im Vertrag zwischen der GmbH und der [X.] vereinbart, dass die für das Ausland aus der [X.] abgehenden Sendungen durch die [X.] zur Ausfuhr aus der [X.] angemeldet werden.

4

Gegenüber den Kunden verwendete die GmbH Allgemeine Geschäftsbedingungen (AG[X.]), in denen (unabhängig vom [X.]estellweg) folgende vorformulierte [X.] enthalten war:

      

"Wir können in Ihrem Namen alle für die Einfuhr aus der [X.] nötigen Erklärungen abgeben. [X.]ür alle eventuellen [X.]ölle und Steuern kommt die GmbH für Sie auf. Dieser Service ist gratis."

5

Aufgrund dieser [X.] wurden Waren mit einem Warenwert von bis zu 22 € im [X.] aufgrund von Anträgen auf "[X.]reischreibung" (Steuerbefreiung) von Sendungen im Namen der Endkunden beim [X.]ollamt [X.] ([X.]ollamt) zur Einfuhr nach [X.] zollamtlich abgefertigt. Dabei wurden die einzelnen Leistungsempfänger in einer separaten Liste mit Namen, Adresse, Ware und Warenwert jeweils dokumentiert.

6

[X.]ei Lieferungen mit einem Warenwert von über 22 € erfolgte die [X.]ollabfertigung hingegen zwar gleichfalls im Wege einer Sammelzollanmeldung, aber im Namen und für Rechnung der GmbH.

7

Die GmbH sah die Lieferungen an Endkunden bis zu einem Warenwert von 22 € als nicht im Inland steuerbar an. Der [X.]eklagte und Revisionsbeklagte (das [X.]inanzamt --[X.]A--) unterwarf dagegen nach Durchführung einer Außenprüfung im Änderungsbescheid über die [X.] für den Monat Mai 2009 vom 27. November 2009 diese Lieferungen der [X.] Umsatzsteuer, weil gemäß § 3 Abs. 8 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) der Ort der Lieferung im Inland gelegen habe; es habe keine wirksame [X.]evollmächtigung der GmbH zur Abgabe von [X.]ollanmeldungen durch die Kunden vorgelegen. Der Einspruch der GmbH blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 2010).

8

Im Laufe des Klageverfahrens erließ das [X.]A unter dem 11. Juli 2012 den [X.] für das Streitjahr; es wich dabei aufgrund der [X.]eststellungen der Außenprüfung von der Umsatzsteuererklärung der GmbH vom 10. August 2011 hinsichtlich der Umsätze der Monate Januar bis Mai 2009 ab.

9

Das [X.]inanzgericht ([X.]G) wies die Klage der GmbH, mit der sie geltend machte, der Ort der genannten Lieferungen liege in der [X.], weil sie, die GmbH, von den Kunden wirksam bevollmächtigt worden sei und diese bei der [X.]ollanmeldung wirksam vertreten habe, ab (Entscheidungen der [X.]inanzgerichte 2013, 970). Das [X.]G vertrat die Auffassung, die Lieferungen der GmbH an ihre Kunden in [X.] unterlägen der [X.] Umsatzsteuer. Es könne dahingestellt bleiben, ob bei einer Übertragung der Steuerschuldnerschaft auf die in [X.] ansässigen Kunden der GmbH ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten i.S. des § 42 der Abgabenordnung ([X.]) vorliege; denn mangels einer wirksamen [X.]evollmächtigung durch die Kunden der GmbH seien die Kunden nicht Steuerschuldner der [X.] geworden. Die von der GmbH bei Abschluss der [X.] jeweils verwendeten AG[X.] zur Vertretung der Kunden bei der [X.] seien unwirksam und damit nicht [X.]estandteil der jeweiligen [X.] geworden. Sollte sich aus der [X.]evollmächtigung keinerlei finanzielle [X.]elastung für die Kunden ergeben können, handelte die GmbH als Vertreter nicht "für Rechnung eines anderen", so dass es an der entsprechenden Voraussetzung für die Vertretung in Art. 5 Abs. 2 der im Streitjahr geltenden Verordnung ([X.]) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur [X.]estlegung des [X.]ollkodex der Gemeinschaften ([X.] vom 19. Oktober 1992 Nr. L 302, S. 1, --[X.]K--) fehlte und somit ebenfalls keine wirksame Vertretung vorliege.

Im Laufe des Revisionsverfahrens ist am 21. Juni 2013 ein Änderungsbescheid über Umsatzsteuer für das [X.] ergangen. Dabei hat das [X.]A auch die genannten Umsätze der GmbH in den Monaten Juni bis Dezember 2009 als steuerbar und im Inland steuerpflichtig behandelt. Die [X.]eteiligten haben mitgeteilt, dass die tatsächlichen Grundlagen des Streitstoffs nicht berührt werden. Die GmbH hat erklärt, die verwendete [X.] sei in den Monaten Juni bis Dezember 2009 unverändert geblieben und die rein zahlenmäßige Richtigkeit der [X.]eträge werde nicht in [X.]rage gestellt.

Mit ihrer Revision hat die GmbH die Verletzung von § 3 Abs. 6 und 8, § 13 Abs. 2, § 21 Abs. 2 UStG sowie Art. 201 Abs. 3 Satz 1, Art. 5 Abs. 4 [X.]K, § 305c des [X.]ürgerlichen Gesetzbuchs gerügt. Die verwendeten AG[X.] seien wirksam. Hilfsweise enthalte der Auftrag des Kunden eine konkludente individuelle Vollmacht. Das Handeln "für fremde Rechnung" sei bei direkter Stellvertretung stets erfüllt.

Die GmbH hat beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und unter Änderung des [X.] für das [X.] vom 21. Juni 2013 die Umsatzsteuer auf … € herabzusetzen.

Das [X.]A beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Es verteidigt die angefochtene Vorentscheidung.

Durch [X.]eschluss des [X.] ist über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet sowie der Kläger und Revisionskläger (Kläger) zum Insolvenzverwalter bestellt worden. Der Kläger hat die vom [X.]A zur Tabelle angemeldete [X.]orderung wegen Umsatzsteuer 2009 im Prüfungstermin bestritten und durch Schriftsatz vom 28. Oktober 2014 erklärt, dass er das Revisionsverfahren aufnehme.

Mit Schreiben vom 29. Mai 2015 hat das [X.]A einen Änderungsbescheid vom 14. April 2015, mit dem zugleich der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben worden ist, sowie einen auf "§ 172 Abs. 1 Nr. 2 [X.]" gestützten Aufhebungsbescheid vom 4. Mai 2015 zum Änderungsbescheid vom 14. April 2015 übersandt. Damit werde wieder der [X.]escheid vom 21. Juni 2013 Gegenstand des Revisionsverfahrens.

Außerdem hat das [X.]A am 9. Oktober 2014 die [X.]orderungsanmeldung auf … € reduziert und am 23. April 2015 in voller Höhe zurückgenommen, im Schreiben vom 29. Mai 2015 aber mitgeteilt, dass die [X.]orderung in Höhe von … € zur Tabelle nachgemeldet werde.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist aus verfahrensrechtlichen Gründen begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] (§ 127 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Es ist aufgrund des Vortrags der Beteiligten sowie der Vorgänge nach Insolvenzeröffnung nicht auszuschließen, dass sich im Streitfall tatsächliche Fragen stellen, die bisher nicht geklärt sind.

1. Der Senat ist nicht gehindert, über die Revision zu entscheiden; die gemäß § 155 [X.]O i.V.m. § 240 der Zivilprozessordnung mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH eingetretene Unterbrechung des Revisionsverfahrens wurde durch die Aufnahmeerklärung des [X.] beendet. Da der Antrag des [X.] im Erfolgsfall dazu führen würde, dass Umsatzsteuer in die Masse zu gelangen hätte, liegt ein sog. insolvenzrechtlicher Aktivprozess vor (vgl. Urteile des [X.] --[X.]-- vom 27. Oktober 2011 III R 60/09, [X.], 576, Rz 10; vom 19. Februar 2014 XI R 1/12, [X.], 1398, Rz 16; [X.] vom 2. Juli 2009 [X.] (PKH), [X.], 1660, Rz 15). Der Kläger als Insolvenzverwalter der GmbH ist gemäß § 85 Abs. 1 der Insolvenzordnung befugt, den Rechtsstreit aufzunehmen ([X.]-Urteil vom 7. März 2006 VII R 11/05, [X.], 11, [X.], 573, unter II.2.; [X.] vom 10. August 2011 V B 84/10, [X.] 2011, 2010, Rz 2).

2. Das Urteil des [X.] vom 20. Februar 2013 ist aus verfahrens-rechtlichen Gründen aufzuheben. Das [X.] hat nach Ergehen dieses Urteils den Umsatzsteuerbescheid vom 11. Juli 2012, der Gegenstand des Urteils war, geändert. Zunächst ist der Änderungsbescheid vom 21. Juni 2013 nach § 68 Satz 1, § 121 Satz 1 [X.]O Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden. Da dem Urteil des [X.] ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt, kann es keinen Bestand haben (vgl. z.B. [X.]-Urteile vom 14. Dezember 2011 XI R 33/10, [X.], 1009; vom 24. April 2013 XI R 3/11, [X.], 410, [X.], 86).

3. Ist während des Revisionsverfahrens ein neuer oder geänderter Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens geworden, so kann der [X.] nach § 127 [X.]O das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen (vgl. dazu z.B. [X.]-Urteil vom 21. Januar 2015 XI R 12/14, [X.] 2015, 957, Rz 25 ff., m.w.N.).

Von dieser Möglichkeit macht der Senat im Streitfall Gebrauch; denn durch den Umsatzsteuerbescheid vom 21. Juni 2013 wurden erstmals auch die Umsätze der Monate Juni bis Dezember 2009 der [X.] Umsatzsteuer unterworfen.

Außerdem sind die notwendigen tatsächlichen Feststellungen zu treffen, um beurteilen zu können, ob der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangene Änderungsbescheid vom 14. April 2015 (vgl. dazu [X.]-Urteile vom 13. Mai 2009 XI R 63/07, [X.]E 225, 278, [X.], 11, unter [X.]; vom 25. Juli 2012 VII R 29/11, [X.]E 238, 307, [X.], 36, Rz 19; vom 11. Dezember 2013 XI R 22/11, [X.]E 244, 209, [X.], 332, Rz 20 ff., [X.]. 4.3.1 des Anwendungserlasses zu § 251 AO), mit dem auch der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben worden ist, sowie der Aufhebungsbescheid vom 4. Mai 2015 wirksam sind.

4. Bezüglich der zwischen den Beteiligten streitigen materiellen Rechtsfrage weist der Senat auf die [X.]-Urteile vom 21. März 2007 V R 32/05 ([X.]E 217, 66, [X.], 153) und vom 29. Januar 2015 V R 5/14 ([X.], 567, [X.] 2015, 934) sowie das anhängige Revisionsverfahren XI R 17/13, das einen ähnlichen Streitfall betrifft, hin.

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

XI R 18/13

16.06.2015

Bundesfinanzhof 11. Senat

Urteil

vorgehend FG München, 20. Februar 2013, Az: 3 K 2222/10, Urteil

§ 127 FGO, § 155 FGO, § 240 ZPO, § 85 InsO, § 3 Abs 8 UStG 2005, UStG VZ 2009

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.06.2015, Az. XI R 18/13 (REWIS RS 2015, 9709)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 9709

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