Bundesgerichtshof, Urteil vom 21.11.2012, Az. 2 StR 309/12

2. Strafsenat | REWIS RS 2012, 1142

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Gegenstand

Heimtückemord an einem Kleinkind: Schutzbereitschaft eines Dritten


Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 8. März 2012 im Fall II. 3 der Urteilsgründe sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

I.

1

Das [X.] hat die Angeklagte wegen Totschlags in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Die auf die Verurteilung im Fall II. 3 der Urteilsgründe und den Ausspruch über die Gesamtstrafe beschränkte, vom [X.] vertretene Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s tötete die Angeklagte im Oktober 2004 ihre zwei Wochen alte Tochter [X.], indem sie ihr das Spucktuch so weit wie möglich in den Mund stopfte und ihr gleichzeitig für ca. 15 Minuten die Nase zuhielt. Die Angeklagte handelte dabei aus einem Gefühl der Überforderung heraus, weil sie das schreiende Kind nicht beruhigen konnte. Nachdem dieses nicht mehr atmete, verständigte sie den Notarzt. Eine Obduktion ergab keinen Hinweis auf einen unnatürlichen Tod, weshalb man von einem plötzlichen Kindstod als Todesursache ausging (Fall II. 1). Im August 2006 tötete die Angeklagte in einer vergleichbaren Situation ihren eineinhalb-monatigen [X.] auf dieselbe Art und Weise. Als Todesursache wurde wiederum plötzlicher Kindstod angenommen (Fall II. 2). Für ihren im März 2009 geborenen [X.] [X.] verschrieben die Ärzte nunmehr einen [X.], der den Herzschlag und die Atmung des Kindes während des Schlafs kontrollieren sollte. Sie empfahlen der Angeklagten und ihrem Ehemann, das Kind nachts nicht alleine schlafen zu lassen. Der Ehemann der Angeklagten schlief daher zunächst mit seinem [X.] im Schlafzimmer, während die Angeklagte im Wohnzimmer schlief. Nach etwa vier Wochen schlief die Angeklagte mit dem Säugling im Schlafzimmer, während ihr Ehemann nachts wach blieb. Er verbrachte die Nächte damit, am Bett des Kindes zu wachen und spielte zwischendurch am [X.]. Den [X.] schlossen die Eheleute lediglich rund vier Stunden am Tag an. Am 25. Juni 2009 gegen 5.00 Uhr morgens weckte der Ehemann die Angeklagte. Während diese aufstand, legte er sich schlafen. Um 5.53 Uhr schaltete die Angeklagte den [X.] aus. Sie fütterte ihren [X.] und legte ihn über die Schulter. Als er zu schreien begann, geriet sie erneut in eine Situation der Überforderung und tötete ihn auf dieselbe Art und Weise wie ihre anderen Kinder. Als der Säugling nicht mehr atmete, weckte sie ihren Ehemann, der sofort mit Reanimationsmaßnahmen begann. Die Angeklagte verständigte um 6.04 Uhr den Notarzt (Fall II. 3).

3

Das [X.] hat die Angeklagte in allen drei Fällen wegen Totschlags verurteilt. Es hat im Fall II. 3 der Urteilsgründe auch unter Berücksichtigung einer möglichen Arg- und Wehrlosigkeit des Kindesvaters als schutzbereitem [X.] nicht feststellen können, dass die Angeklagte heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB handelte. Der Ehemann der Angeklagten sei nicht als schutzbereiter Dritter zugegen gewesen, denn er habe bereits geschlafen. Die Angeklagte habe diesen auch nicht zur Tatbegehung weggelockt. Ihren Entschluss, ihren [X.] [X.] zu töten, habe die Angeklagte vielmehr erst gefasst, nachdem sich ihr Ehemann bereits von sich aus schlafen gelegt hatte.

II.

4

Diese Erwägungen des [X.]s sind rechtsfehlerhaft. Das [X.] hat die Voraussetzungen eines "[X.]" verkannt. Dies führt zur Aufhebung des Urteils im Fall II. 3 der Urteilsgründe. Der Wegfall der in diesem Fall verhängten [X.] hat die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe zur Folge.

5

1. Zutreffend hat das [X.] für die Frage der Heimtücke nicht auf eine Arg- und Wehrlosigkeit des Kleinkindes abgestellt, da dieses aufgrund seines Alters noch zu keinerlei Argwohn oder Gegenwehr fähig war (vgl. [X.], Urteil vom 4. November 1952 - 2 StR 261/52, [X.]St 4, 11, 13), sondern auf die Arg- und Wehrlosigkeit eines im Hinblick auf das Kind schutzbereiten [X.] (vgl. [X.], Urteil vom 7. Juni 1955 - 5 StR 104/55, [X.]St 8, 216, 218; [X.], Urteil vom 2. Oktober 1962 - 1 StR 299/62, [X.]St 18, 37, 38). Die Begründung, mit der das [X.] das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Ehemanns der Angeklagten als schutzbereiten [X.] abgelehnt und im Ergebnis das Mordmerkmal der Heimtücke verneint hat, beruht dagegen auf der Anwendung eines falschen rechtlichen Maßstabs.

6

a) Entgegen der Ansicht des [X.]s ist es nicht erforderlich, dass der potentiell schutzbereite Dritte "zugegen" ist. [X.] Dritter ist vielmehr jede Person, die den Schutz eines Kleinkindes vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut (vgl. [X.], Urteil vom 7. Juni 1955 - 5 StR 104/55, [X.]St 8, 216, 219; [X.], Urteil vom 10. März 2006 - 2 StR 561/05, [X.], 338, 339 f.). Der schutzbereite Dritte muss auf Grund der Umstände des Einzelfalls den Schutz allerdings auch wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumliche Nähe erforderlich ist ([X.], Urteil vom 18. Oktober 2007 - 3 [X.], [X.], 93, 94).

7

Der Ehemann der Angeklagten war der Vater des Kindes. Die bisherigen Feststellungen lassen auf seine Schutzbereitschaft schließen. Er lebte mit dem Kind in einem Haushalt und wachte regelmäßig über dessen Schlaf. Offen geführte Angriffe auf dessen Leben hätte er bemerkt und wäre diesen entgegengetreten. Aufgrund der räumlichen Nähe im Nebenzimmer und der Konzentration auf das Kind wäre er zum wirksamen Schutz des Kindes auch in der Lage gewesen. Tatsächlich konnte er aber den tödlichen Angriff auf das Leben seines Kindes nicht abwehren, da er sich im Vertrauen auf die Angeklagte schlafen gelegt hatte, ohne mit einem Angriff auf das Leben des Kindes zu rechnen.

8

b) Entgegen der Auffassung des [X.]s scheitert ein Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des zur Tatzeit schlafenden Ehemanns auch nicht daran, dass die Angeklagte diesen nicht weglockte und damit dessen Arg- und Wehrlosigkeit nicht herbeiführte, ihn also weder von der Überwachung des Kindes ablenkte noch sonst gezielt in Sicherheit wog. Für das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit eines schutzbereiten [X.] ist es - wie bei der Heimtücke gegenüber dem [X.] selbst, bei der es nicht darauf ankommt, ob der Täter die Arglosigkeit herbeiführte oder bestärkte (vgl. [X.], Urteil vom 10. März 2006 - 2 StR 561/05, [X.], 338, 339) - vielmehr ausreichend, dass der Täter die von ihm erkannte Arglosigkeit des [X.] bewusst zur Tatbegehung ausnutzt, und zwar unabhängig davon, worauf diese beruht (vgl. [X.], Beschluss vom 13. Oktober 2005 - 5 StR 401/05, [X.], 43; [X.], Urteil vom 18. Oktober 2007 - 3 [X.], [X.], 93, 94).

9

2. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das [X.] bei Anwendung des zutreffenden rechtlichen Maßstabes zu einer Verurteilung wegen Heimtückemords gekommen wäre. Auch vor dem Hintergrund der Spontanität des Tatentschlusses sowie des psychischen Zustands der Angeklagten bei Tatbegehung erscheint es nicht ausgeschlossen, dass insbesondere noch weitere Feststellungen zur subjektiven Tatseite der Heimtücke der Angeklagten getroffen werden können. Die Sache bedarf daher in dem aufgezeigten Umfang neuer Verhandlung und Entscheidung.

[X.]                               Appl                          Berger

                [X.]

Meta

2 StR 309/12

21.11.2012

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Limburg, 8. März 2012, Az: 2 Ks - 3 Js 13546/11

§ 211 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 21.11.2012, Az. 2 StR 309/12 (REWIS RS 2012, 1142)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 1142

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

6 StR 231/23

2 StR 132/20

1 StR 340/14

2 StR 309/12

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