Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21.09.2022, Az. 5 C 5/21

5. Senat | REWIS RS 2022, 8281

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Gegenstand

Örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers bei Eltern mit unterschiedlichem Aufenthalt


Leitsatz

1. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist nicht nur anwendbar, wenn die Eltern bei Beginn der Leistung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk desselben Jugendhilfeträgers haben, sondern auch dann, wenn sie nach Beginn der Leistung erstmalig oder erneut einen solchen gemeinsamen Aufenthalt begründen.

2. Die Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 SGB VIII kommt auch dann zur Anwendung, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, die bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten und nach deren Beginn zwischenzeitlich einen Aufenthalt im Bereich desselben Jugendhilfeträgers (i. S. v. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) genommen haben, erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 17. September 2020 insoweit aufgehoben, als es die Klage unter Abänderung des Urteils des [X.] Verwaltungsgerichts vom 16. April 2019 abgewiesen hat. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe über die Verpflichtung des beklagten [X.], der klagenden [X.] von ihr in einem Jugendhilfefall aufgewandte Kosten zu erstatten.

2

Die Klägerin leistete für ein 2005 geborenes Kind, für das das Sorgerecht beiden Elternteilen zustand, Hilfe zur Erziehung nach dem [X.]. Bei Beginn der Hilfe lebten das Kind und seine Mutter in [X.], während der Vater des Kindes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in [X.] im Zuständigkeitsbereich des Beklagten hatte. Nachdem die Mutter das Kind nicht mehr betreuen konnte, beantragten die Eltern bei der Klägerin die Gewährung von [X.], die diese im Zeitraum von März 2012 bis Juni 2019 in unterschiedlicher Weise erbrachte.

3

[X.] gab ihre Wohnung in [X.] Mitte Dezember 2012 auf, meldete sich im Zeitraum vom 24. Januar bis 12. März 2013 unter der Adresse des [X.] in [X.] an und beantragte dort Leistungen nach dem [X.]. Am 13. März 2013 meldete sie sich im [X.] unter einer Adresse in [X.] an und teilte der Klägerin im März 2013 im Rahmen eines Hilfeplangesprächs mit, in [X.] zu wohnen.

4

Die Klägerin forderte den Beklagten im Jahr 2014 vergeblich auf, seine örtliche Zuständigkeit für die gewährte Hilfe anzuerkennen, den [X.] zu übernehmen und von der Klägerin aufgewendete Kosten für den Zeitraum vom 24. Januar 2013 bis zur Fallübernahme zu erstatten. Ihre auf Erstattung der bezifferbaren Kosten sowie Feststellung der Erstattungsverpflichtung des Beklagten hinsichtlich der noch nicht bezifferbaren Kosten erhobene Klage hatte erstinstanzlich Erfolg.

5

Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die vorinstanzliche Entscheidung in der Weise geändert, dass es die Klage zum ganz überwiegenden Teil abgewiesen und den Beklagten lediglich zur Zahlung von 1 057,58 € nebst Prozesszinsen für die im Zeitraum vom 24. Januar bis zum 12. März 2013 erbrachten [X.] verurteilt hat. Der Beklagte sei ab dem 13. März 2013 nicht mehr örtlich zuständiger Jugendhilfeträger gewesen. § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] sei nach der Rechtsprechung des [X.] nur anwendbar, wenn gemeinsam sorgeberechtigte Eltern - anders als hier - erstmals nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründeten. Diese Einschränkung ergebe sich aus der Systematik des Gesetzes, seiner Historie sowie Sinn und Zweck der Vorschrift.

6

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision tritt die Klägerin dem Berufungsurteil, soweit damit die Klage abgewiesen wurde, entgegen und rügt eine Verletzung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.].

Entscheidungsgründe

7

Die Revision, über die der [X.] im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1, § 141 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Das Urteil des [X.] steht mit Bundesrecht nicht in Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - [X.] der Bekanntmachung vom 11. September 2012 ([X.] [X.]) - [X.] - mangels "erstmaliger" Begründung eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts nach Leistungsbeginn hier nicht anwendbar und deshalb ein Erstattungsanspruch der Klägerin nach § 89c Abs. 1 [X.] ausgeschlossen sei (1). Ob die von der Klägerin begehrte Erstattung in dem geltend gemachten Umfang besteht, kann der [X.] jedoch mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen des [X.] zur Gesetzeskonformität der im fraglichen [X.]raum erbrachten Leistungen (§ 89f Abs. 1 [X.]) nicht abschließend entscheiden. Das angefochtene Urteil ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (2).

8

1. Rechtsgrundlage für den von der Klägerin für die [X.] ab dem 13. März 2013 geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch ist § 89c Abs. 1 Satz 1 [X.] [X.] der Bekanntmachung vom 11. September 2012 ([X.] [X.]), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juni 2022 ([X.] [X.]). Danach sind die Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c [X.] aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

9

Die Klägerin hat nach den Feststellungen der Vorinstanz als örtliche Trägerin der Jugendhilfe in dem im Revisionsverfahren im Streit stehenden [X.]raum von März 2013 bis Juni 2019 Hilfe zur Erziehung erbracht und dafür die Kosten getragen. Sie erfüllt auch die weitere Voraussetzung des Erstattungsanspruchs aus § 89c Abs. 1 Satz 1 [X.], weil sie diese Kosten für den Jugendhilfefall im Rahmen ihrer Verpflichtung nach § 86c [X.] aufgewandt hat. Gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 [X.] bleibt der bisher zuständige Träger im Falle eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Zwischen den Beteiligten steht nicht im Streit, dass der Beklagte den [X.] im streitgegenständlichen [X.]raum bis Juni 2019 nicht in die eigene Zuständigkeit übernommen und demzufolge in dieser [X.] auch keine [X.] erbracht hat. Ihr Streit konzentriert sich vielmehr darauf, ob der Beklagte aufgrund eines Übergangs der örtlichen Zuständigkeit in diesem [X.]raum örtlich zuständig gewesen ist und die Klägerin demgemäß die in Rede stehenden Leistungen in Erfüllung einer Verpflichtung nach § 86c Abs. 1 Satz 1 [X.] aufgewendet hat. Das ist zu bejahen.

a) Die Klägerin war ursprünglich gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 [X.] örtlich zuständige Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe. Danach ist, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) haben, der Träger örtlich zuständig, bei dem das Kind vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach den Feststellungen des [X.] hatten hier die Eltern bei Beginn der Hilfe verschiedene gewöhnliche Aufenthalte, während das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor und bei Beginn der Hilfeleistung im März 2012 mit seiner Mutter teilte, die wiederum ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Klägerin hatte.

b) Diese Zuständigkeit wechselte (spätestens) am 24. Januar 2013 gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] auf den Beklagten. Danach ist für die Gewährung von [X.] der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Das Innehaben eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern im Bereich eines [X.] ist nach dieser Vorschrift das allein entscheidende Kriterium zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit eines [X.]. Auf das Sorgerecht kommt es nicht an. § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist nicht nur dann anwendbar, wenn die Eltern bei Beginn der Leistung einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk eines [X.] haben, sondern auch dann, wenn sie während bzw. nach Beginn der Leistung (erstmalig oder erneut) einen solchen Aufenthalt begründen (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Mai 2011 - 5 [X.] 4.10 - BVerwGE 139, 378 Rn. 25 und vom 14. November 2013 - 5 [X.] 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 20; [X.], Urteil vom 15. Dezember 2015 - 12 A 2645/14 - juris Rn. 41; [X.], in: jurisPK-[X.], 3. Aufl., Stand Oktober 2022, § 86 Rn. 95 f.; [X.] u. a., in: [X.]Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 21 m. w. N.; a. A. OVG [X.], Beschluss vom 12. Juli 2019 - 2 A 208/18 - [X.] 2020, 472). Hier haben die Eltern des Kindes am 24. Januar 2013 einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in [X.] im Bereich des Beklagten begründet. Dies hat das Oberverwaltungsgericht sowohl hinsichtlich des rechtlichen Maßstabs (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) als auch der Tatsachenfeststellung und -würdigung in nicht zu beanstandender und von den Beteiligten auch nicht angezweifelter Weise dargelegt.

c) Die ab 24. Januar 2013 gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] bestehende örtliche Zuständigkeit des Beklagten endete nicht - wie das Oberverwaltungsgericht meint - gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 [X.] mit dem Umzug der Mutter in den [X.] und ihrer dortigen Registrierung beim Einwohnmeldeamt am 13. März 2013. Der Beklagte blieb ab diesem [X.]punkt vielmehr gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] weiterhin örtlich zuständig.

Nach dieser Vorschrift bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen, solange die Personensorge - wie es hier im gesamten streitbefangenen [X.]raum der Fall war - beiden Elternteilen zusteht. § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] nimmt die Tatbestandsvoraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 [X.] umfänglich in Bezug (BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 [X.] 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 26 f.) und setzt demnach - ebenso wie diese Vorschrift - voraus, dass die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Hingegen ist es für die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 [X.] und damit auch des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] - entgegen der Auffassung des [X.] - nicht erforderlich, dass die nach Beginn der Leistung erfolgte Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte erstmals geschieht. Vielmehr ist die Vorschrift auch dann anwendbar, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, die bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten und nach deren Beginn zwischenzeitlich einen Aufenthalt im Bereich desselben [X.] (i. S. v. § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.]) genommen haben, erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen (vgl. zu § 86 Abs. 5 Satz 1 [X.] [X.], in: jurisPK-[X.], 3. Aufl., Stand Oktober 2022, § 86 Rn. 143; [X.] u. a., in: [X.]Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 36; [X.], in: [X.]/[X.]/[X.], [X.] Kommentar [X.], 9. Aufl. 2022, § 86 Rn. 16; [X.]. auch [X.]/[X.], in: LPK-[X.], 8. Aufl. 2022, § 86 Rn. 49). Das ergibt sich (auch für die seit dem 1. Januar 2014 geltende Fassung der Vorschrift durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes vom 29. August 2013, [X.] I S. 3464) aus der Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 [X.] anhand der anerkannten Auslegungsmethoden. Dabei stellt der [X.] klar, dass über die umstrittene Auslegung der Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 [X.] ([X.] des Gesetzes vom 29. August 2013, [X.] I S. 3464, vgl. zum Streitstand etwa [X.], in: jurisPK-[X.], 3. Aufl., Stand Oktober 2022, § 86 Rn. 151 ff., 160 f. m. w. N.), die den Fall erfasst, dass keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht, im vorliegenden Kontext mangels Entscheidungserheblichkeit nicht zu befinden ist.

aa) § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] verlangt nach dem klaren Wortlaut des systematisch in Bezug genommenen § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 [X.] nur das Begründen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Beginn der Leistung. Ein solches Begründen setzt voraus, dass die Eltern vor der zuständigkeitsrelevanten Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts eines oder beider Elternteile einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] hatten (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 [X.] 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 19). Der Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 [X.] enthält keine Einschränkung dahin, dass der Vorgang des [X.] nur einmal stattfinden könne. Insbesondere enthält er weder die Wörter "erstmalig" oder "erstmals" noch ein anderes in diese Richtung [X.] Wort. Der Gesetzeswortlaut spricht deshalb für ein Verständnis, wonach § 86 Abs. 5 [X.] ("begründen") als Spezialregelung gegenüber § 86 Abs. 2 bis 4 [X.] ("haben") auch Fälle erfasst, in denen die Eltern - wie hier - bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten und nach einem zwischenzeitlichen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt (i. S. v. § 86 Abs. 1 [X.]) wieder verschiedene gewöhnliche Aufenthalte nehmen.

bb) Die Systematik des Gesetzes stützt das aus dem Wortlaut gewonnene Normverständnis. Die Regelungen des § 86 [X.], die im Falle des Aufenthaltswechsels der Eltern die Vor-Ort-Betreuung ermöglichen und einen engen Kontakt zwischen Eltern bzw. Elternteil und Jugendamt gewährleisten sollen, gehen vom Grundsatz der dynamischen Zuständigkeit aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 [X.] 7.20 - NVwZ-RR 2021, 979 Rn. 16; [X.]/[X.][X.]/[X.], [X.] 2020, 282 m. w. N.). Daraus folgt jedoch nicht - wie das Oberverwaltungsgericht ausgeführt hat - eine mit Absatz 1 beginnende (strikte) Rangfolge der Absätze des § 86 [X.], wonach die Anwendung eines folgenden Absatzes ausscheide, wenn der Tatbestand eines vorgehenden erfüllt sei, weshalb es sich bei § 86 Abs. 5 [X.] nicht um eine gegenüber § 86 Abs. 2 Satz 2 [X.] unter dem Gesichtspunkt der Spezialität vorrangig anzuwendende Regelung handele. Denn § 86 Abs. 5 [X.] steht insgesamt in unmittelbarem Bezug zu § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] und kann nicht direkt einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 bis 4 [X.] nachfolgen (vgl. [X.] u. a., in: [X.]Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 36). Auf eine Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] folgt, wenn die Eltern (erstmals oder erneut) verschiedene Aufenthalte nehmen, die Zuständigkeitsbestimmung nach § 86 Abs. 5 [X.], dessen Satz 1 im Übrigen ebenfalls den Grundsatz der dynamischen Zuständigkeit verwirklicht. Demzufolge ergibt sich die in § 86 Abs. 5 Satz 2 [X.] angesprochene "bisherige Zuständigkeit" ebenfalls zwingend aus § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 [X.] 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 20 f.; [X.] u. a., in: [X.]Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 36). Da § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] dem gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern für die Festlegung der örtlichen Zuständigkeit des [X.] überragende Bedeutung beimisst und auch die Fälle erfasst, in denen die Eltern diesen Aufenthalt erst während der Leistung begründen, ist auch in solchen Fällen die örtliche Zuständigkeit bei sich anschließender Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] zu bestimmen.

cc) Sinn und Zweck der Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] sowie die Gesetzeshistorie weisen in die gleiche Richtung. Zwar geht das Oberverwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass den Zuständigkeitsbestimmungen des § 86 [X.] das Prinzip der dynamischen Zuständigkeit zugrunde liegt und es sich bei der durch § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] angeordneten statischen Zuständigkeit um eine Ausnahmeregelung handelt. Dem daraus gezogenen Schluss, es stünde dem Prinzip der dynamischen Zuständigkeit entgegen, wenn eine Norm, die ausnahmsweise die statische Zuständigkeit vorsehe (§ 86 Abs. 5 Satz 2 [X.]), eine Norm (hier: § 86 Abs. 2 Satz 2 [X.]) verdrängen könne, die den Regelfall der dynamischen Zuständigkeit umsetze, sodass § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] vor diesem Hintergrund nur anzuwenden sei, wenn nach den Absätzen 1 bis 4 keine "sachnähere Anknüpfung der Zuständigkeit" ersichtlich sei, ist jedoch nicht beizupflichten. Ansonsten bedürfte es schon nicht der dynamischen Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 5 Satz 1 [X.], die dieselbe Rechtsfolge wie § 86 Abs. 2 Satz 1 [X.] vorsieht. Die in § 86 Abs. 5 [X.] enthaltene spezielle Regelung zur Bestimmung der Zuständigkeit soll die Regelung des § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] für den Fall ergänzen, dass der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Eltern, dem das Gesetz, wenn er besteht, für die Bestimmung des zuständigen [X.] den allein entscheidenden Stellenwert für den (erhofften und beabsichtigten) Erfolg der [X.] zumisst, nicht beibehalten wird. Der Gesetzgeber hat hierzu in § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] gegenüber § 86 Abs. 2 Satz 2 [X.] bei ansonsten gleicher Ausgangslage (die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern haben verschiedene gewöhnliche Aufenthalte) mit der Anordnung der statischen Zuständigkeit eine andere Rechtsfolge als in jener Vorschrift gewählt. Ausschlaggebend waren insoweit vom Gesetzgeber angenommene Schwierigkeiten, in Fällen eines zuvor bestehenden gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen ([X.]. 12/2866 [X.]). Denn wegen des gemeinsamen Sorgerechts fehlt bei einer nachträglichen Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte ein Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit unter dem Gesichtspunkt des [X.] zwischen einem Elternteil und dem Jugendamt. Dementsprechend lässt sich nicht abstrakt-generell feststellen, welcher Elternteil künftig der Unterstützung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bei der Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung bedarf (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 [X.] 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 29). Aus diesem Grund soll es bei der bisherigen Zuständigkeit bleiben. Die genannten Schwierigkeiten bestehen dabei unabhängig davon, ob die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern einen schon bei Beginn der Leistung bestehenden oder einen erst während der Leistung begründeten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt aufgeben. [X.] weist der [X.] in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die in dem Urteil vom 14. November 2013 - 5 [X.] 34.12 - (unter Rn. 18 ff.) verwendeten und möglicherweise Missverständnisse hervorrufenden Wörter "erstmals" und "erstmalig" auf die im konkreten Fall zu entscheidende Sachverhaltskonstellation bezogen waren und sich nicht zu der hier im Streit stehenden Konstellation der erneuten Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte verhielten.

dd) Ferner greift auch die Überlegung des [X.] nicht durch, es liefe dem Zweck der Regelung des § 86 [X.] zuwider, eine praktikable und sachnahe Bestimmung des örtlich zuständigen [X.] zu ermöglichen, wenn die statisch wirkende Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] die Zuständigkeit eines [X.] begründe, der keine Verbindung zum [X.] habe. Der Gesetzgeber hat die statische Zuständigkeit nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] im Interesse eines eindeutigen Ergebnisses angeordnet und dabei - der Vielgestaltigkeit denkbarer Lebensverhältnisse Rechnung tragend - in Kauf genommen, dass jede generell-abstrakte Zuständigkeitsregelung insbesondere in einem durch besondere Umstände geprägten Einzelfall (hier: nur kurz bemessener gewöhnlicher Aufenthalt der Mutter des Kindes im Bereich des Beklagten) zu aus fachlicher Sicht mehr oder weniger sachgerecht erscheinenden Ergebnissen führen kann. Schließlich kann das vom Oberverwaltungsgericht befürwortete Verständnis des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 [X.] auch nicht (allein) mit dem Ausnahmecharakter der Vorschrift begründet werden, die daher eng auszulegen sei. Denn auch sogenannte Ausnahmevorschriften sind nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen auszulegen und können je nach der ihnen innewohnenden Zweckrichtung einer einschränkenden oder ausdehnenden Auslegung zugänglich sein (BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2020 - 5 [X.] 9.19 - BVerwGE 171, 49 Rn. 30 m. w. N.).

2. An einer Entscheidung darüber, in welchem Umfang der aus § 89c Abs. 1 [X.] folgende Erstattungsanspruch der Klägerin besteht, ist der [X.] jedoch gehindert. Nach der Regelung des § 89f Abs. 1 [X.], die den Umfang der Kostenerstattung bestimmt (BVerwG, Urteil vom 5. April 2007 - 5 [X.] 25.05 - BVerwGE 128, 301 Rn. 12), sind die aufgewendeten Kosten (nur) zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht. Da das Oberverwaltungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - für die [X.] ab dem 13. März 2013 insbesondere keine Feststellungen zu der vom Beklagten ausdrücklich in Abrede gestellten Gesetzeskonformität der erbrachten [X.] im Sinne von § 89f Abs. 1 [X.] getroffen hat, kann der [X.] nicht selbst abschließend über die Sache entscheiden. Diese ist daher an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Meta

5 C 5/21

21.09.2022

Bundesverwaltungsgericht 5. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 17. September 2020, Az: 3 LB 6/19, Urteil

§ 86 Abs 5 S 2 Alt 1 SGB 8, § 86 Abs 5 S 1 SGB 8

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21.09.2022, Az. 5 C 5/21 (REWIS RS 2022, 8281)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8281

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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M 18 K 18.6316

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