Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31.01.2013, Az. 10 C 17/12

10. Senat | REWIS RS 2013, 8519

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Gegenstand

Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung; Prüfungsumfang im Anfechtungsprozess; Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe


Leitsatz

1. Das Verwaltungsgericht hat im Anfechtungsprozess gegen den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ) den Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. In diese Prüfung hat es auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe und von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen.

2. Ein Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung wegen einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG ) kommt bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe (§§ 53 bis 55 StGB) nur in Betracht, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist.

Tatbestand

1

Der 1973 geborene Kläger ist [X.] [X.] Staatsangehörigkeit. Er reiste im Alter von sechs Jahren in die [X.] ein und lebte zunächst bei seinen Eltern. Ihm wurde ein befristeter Aufenthaltstitel erteilt und in der Folge mehrfach verlängert; mehrere Geschwister haben inzwischen die [X.] Staatsangehörigkeit erworben. Seine Schulausbildung beendete er ohne Abschluss. Seit seinem 13. Lebensjahr konsumierte er Drogen und wurde vielfach straffällig. Im Zeitraum zwischen 1991 und 2010 verbrachte er insgesamt etwa 15 Jahre in Untersuchungs- und Strafhaft; maßgeblich hierfür waren überwiegend Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von jeweils bis zu zwei Jahren. Eine höhere Freiheitsstrafe, nämlich eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, war lediglich durch das Urteil des [X.] vom 24. Januar 2001 ausgesprochen worden. Diesem Urteil lagen eine am 30. Oktober 2000 begangene versuchte schwere räuberische Erpressung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung in einem minderschweren Fall (Einzelstrafe zwei Jahre zehn Monate) und eine am 1. Juli 2000 begangene Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung (Einzelstrafe sechs Monate) zu Grunde.

2

Die Ausländerbehörde der [X.] hörte den Kläger seit 1992 mehrfach zu einer beabsichtigten Ausweisung an. Durch Bescheid vom 29. Dezember 1999 wies sie ihn aus, weil er innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheitsstrafen von zusammen mindestens drei Jahren verurteilt worden sei (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 [X.] 1990). Seine hiergegen gerichtete Anfechtungsklage blieb erfolglos. In der Folge wurden ihm Duldungen erteilt. Einen im Jahre 1996 aus der Haft heraus gestellten Asylantrag lehnte die Beklagte als offensichtlich unbegründet ab, wurde jedoch durch das zuständige Verwaltungsgericht verpflichtet, den Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der [X.] als asylberechtigt anzuerkennen.

3

Durch Bescheid vom 25. Januar 2006 widerrief die Beklagte die Anerkennung des [X.] als Asylberechtigter (Ziffer 1 des Bescheids) sowie die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 [X.] vorlägen (Ziffer 2). Zusätzlich stellte sie fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 [X.] offensichtlich nicht vorlägen (Ziffer 3). Zur Begründung verwies sie auf die Verurteilung des [X.] zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.]). Die weitere Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] nicht vorlägen (Ziffer 4), begründete sie damit, dass [X.] in der [X.] nicht mehr mit Verfolgung oder menschenrechtswidriger Behandlung rechnen müssten.

4

Das [X.] wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Anfechtungsklage durch Urteil vom 11. Dezember 2008 ab. Das Oberverwaltungsgericht hat auf die Berufung des [X.] das Urteil des [X.] durch Beschluss vom 2. Januar 2012 geändert und den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Ein [X.] könne nicht nur dann vorliegen, wenn nachträglich die [X.] wegfielen, sondern auch dann, wenn nachträglich Ausschlussgründe verwirklicht worden seien, etwa wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden sei. Ein solcher Fall sei hier jedoch nicht gegeben. Denn § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] erfasse nicht den Fall, dass im Wege der Gesamtstrafenbildung auf eine dreijährige Freiheitsstrafe erkannt worden sei. Dies folge aus dem Wortlaut der Norm und werde durch Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck bestätigt. Die Möglichkeit eines Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung als Folge einer Gesamtstrafenbildung könne im Übrigen zu Gleichheitsverstößen führen. Denn derjenige Straftäter, bei dem die Ahndung mehrerer Straftaten verbunden werde und in eine dreijährige Gesamtstrafe münde, werde ohne sachlichen Grund gegenüber demjenigen benachteiligt, bei dem dieselben Straftaten verfahrensmäßig getrennt und mit Strafen von jeweils unter drei Jahren abgeurteilt würden. Die Frage, ob der Widerruf der Asylanerkennung auch darauf gestützt werden könne, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die [X.] auf Grund einer Veränderung der Umstände keine asylrelevante Verfolgung oder Folter bzw. unmenschliche Behandlung mehr drohe, habe die Beklagte in ihren Bescheid weder angesprochen noch habe sie entsprechende Überlegungen im Gerichtsverfahren vorgetragen. Die Möglichkeit einer derartigen Veränderung der maßgeblichen Umstände in der [X.] liege auch nicht ohne Weiteres auf der Hand.

5

Die Beklagte rügt mit der Revision die Verletzung materiellen Rechts sowie die Verletzung der Amtsaufklärungspflicht. Sie ist der Auffassung, dass auch die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingseigenschaft begründen könne.

6

Der Kläger verteidigt die Entscheidung des [X.] und hält hilfsweise sein Begehren auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung unionsrechtlicher bzw. nationaler Abschiebungsverbote aufrecht.

7

Der Vertreter des [X.] beim [X.] beteiligt sich an dem Verfahren und unterstützt die Revision.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat allerdings ohne Verstoß gegen [X.] Recht entschieden, dass die Beklagte den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des [X.] nicht auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] stützen durfte. Es hat jedoch die im Verfahren ebenfalls aufgeworfene Frage, ob der Widerruf stattdessen auf den Wegfall der verfolgungsbegründenden Umstände gestützt werden konnte (§ 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), nicht im Einklang mit revisiblem Recht beantwortet. Da hinreichende Sachverhaltsfeststellungen hierzu fehlen, kann der Senat die Frage, ob sich die Berufungsentscheidung aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO), nicht abschließend beantworten. Der Rechtsstreit ist deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO.

9

1. Gegenstand des Verfahrens ist der [X.] der Beklagten vom 25. Januar 2006. Auf die Anfechtungsklage des [X.] ist die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids uneingeschränkt zu überprüfen. Eine Beschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle auf einen von mehreren möglichen [X.] würde der Verpflichtung des [X.] widersprechen, die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen unteilbaren Verwaltungsakts umfassend zu prüfen. Dabei muss das Verwaltungsgericht zum einen auch solche Anfechtungsgründe berücksichtigen, die der Kläger nicht geltend gemacht hat (st[X.]pr seit Urteil vom 20. Februar 1956 - BVerwG 5 [X.] 36.55 - NJW 1956, 804; vgl. auch Urteil vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 [X.] 3.10 - BVerwGE 139, 109, Rn. 14 a.E. im [X.] an [X.], Urteil vom 2. März 2010 - [X.]. [X.]-175/08 u.a., [X.] u.a. - NVwZ 2010, 505 Rn. 76). Zum anderen hat es die Rechtmäßigkeit eines nicht im Ermessen der Behörde stehenden Verwaltungsakts auch unter Gesichtspunkten zu prüfen, die von der Behörde im Bescheid oder im Gerichtsverfahren nicht angeführt worden sind. Denn die Aufhebung eines solchen Verwaltungsakts setzt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO u.a. seine objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er unter einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Die vorliegende Klage ist also nicht schon dann begründet, wenn der im [X.] allein angeführte [X.] des § 60 Abs. 8 [X.] nicht vorliegt, sondern nur dann, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Nur diese Sichtweise wird im Übrigen der im Asylverfahren geltenden Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime gerecht, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (Urteil vom 8. September 2011 - BVerwG 10 [X.] 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 10; Beschluss vom 10. Oktober 2011 - BVerwG 10 B 24.11 - juris Rn. 4).

2. Ohne Verstoß gegen [X.] Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Beklagte den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung im vorliegenden Fall zu Unrecht auf § 60 Abs. 8 [X.] gestützt hat.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG müssen die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Sicherheit der [X.] (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 1 [X.]) oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.]). Im letztgenannten Fall muss zusätzlich eine konkrete Wiederholungsgefahr bestehen. Diese liegt nur vor, wenn von dem Ausländer in Zukunft neue vergleichbare Straftaten ernsthaft drohen (vgl. Urteil vom 16. November 2000 - BVerwG 9 [X.] 6.00 - BVerwGE 112, 185 <188 ff.> noch zu § 51 Abs. 3 Alt. 2 [X.] 1990).

Die nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] erforderliche rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren kann grundsätzlich unabhängig davon vorliegen, ob die verhängte Freiheitsstrafe auf tateinheitlich oder tatmehrheitlich begangene und gleichzeitig abgeurteilte Delikte (§ 52 oder §§ 53 bis 55 StGB) zurückgeht. Bei der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe ist jedoch erforderlich, dass zumindest eine der Einzelstrafen, aus denen die Gesamtstrafe gemäß §§ 54 oder 55 StGB gebildet wird, eine wenigstens dreijährige Freiheitsstrafe ist. Falls hingegen die Gesamtfreiheitsstrafe ausschließlich aus Einzelstrafen hervorgegangen ist, die jeweils für sich genommen die Mindestdauer von drei Jahren nicht erreichen, ist der Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] nicht eröffnet. Dies folgt aus dem Wortlaut der Norm und einer teleologisch-systematischen Auslegung im Einklang mit den relevanten völker- und unionsrechtlichen Vorschriften (anders [X.], Urteil vom 8. Februar 2012 - 13 LB 50/09 - und [X.], Urteil vom 21. Juni 2012 - 1 LB 10/10).

Nach dem Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] stellt ein Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, wenn er wegen "eines" Verbrechens oder besonders schweren Vergehens verurteilt worden ist; ein entsprechender Sprachgebrauch findet sich auch in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/[X.] des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (vormals Richtlinie 2004/83/[X.], "wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt") sowie in Art. 33 Abs. 2 der [X.] Flüchtlingskonvention (GFK, "weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonderes schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde"). Im Hinblick darauf, dass das [X.] in einem vergleichbaren Zusammenhang Rechtsfolgen ausdrücklich an das Vorliegen "einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten" knüpft (§ 53 Nr. 1, § 54 Nr. 1 [X.]), spricht der Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] eher für als gegen die Annahme, dass die Gefahrenschwelle der Vorschrift nicht überschritten wird, wenn die Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Gesamtstrafe auf einer Zusammenfassung mehrerer Freiheitsstrafen von jeweils unter dreijähriger Dauer beruht.

Diese Annahme wird durch den Zweck der Vorschrift bestätigt. Sie geht auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/[X.] zurück, der Art. 33 Abs. 2 GFK und der darin normierten Ausnahme vom völkerrechtlichen Refoulement-Verbot nachgebildet ist: Sie soll Gefahren von dem Aufnahmestaat eines Flüchtlings abwehren, die durch dessen kriminelles Verhalten verursacht werden. Im Hinblick darauf, dass § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/[X.] darüber hinausgehend sogar die Möglichkeit eines Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung vorsehen (krit. dazu [X.], [X.] Immigration and Asylum Law, [X.], S. 1133 f. Rn. 15; [X.], Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 37 Rn. 47 ff.), muss die Vorschrift jedoch restriktiv so ausgelegt werden, dass die Sicherungen insbesondere des völkerrechtlichen Flüchtlingsrechts gegen eine Abschiebung in den Verfolgerstaat nicht relativiert werden. Der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsgewährung kann deshalb gegenüber kriminellen Flüchtlingen nur als ultima ratio in Betracht kommen, wenn ihr kriminelles Verhalten die Schwelle der besonders schweren Strafbarkeit überschreitet (vgl. Urteil vom 7. Oktober 1975 - BVerwG 1 [X.] 46.69 - BVerwGE 49, 202 <208 ff.> zu § 14 Abs. 1 Satz 2 [X.] 1965).

Aus diesen Gründen kommt es nach der Konzeption des [X.] Rechts für die Anwendung des § 60 Abs. 8 [X.] unabhängig davon, dass die Umsetzung der Mindestgewährleistung des Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/[X.] in nationales Recht durch die Mitgliedstaaten eine erhebliche Bandbreite aufweist (vgl. European [X.]ouncil on Refugees and Exilies, [X.] oft the [X.] Qualification Directive on International Protection, 2008, [X.] ff., 179 bis 182 mit einer Zusammenstellung der Umsetzungsmaßnahmen, vgl. auch [X.]. S. 33 f.), im Übrigen auch nicht auf die abstrakte Strafdrohung, sondern auf die konkret verhängte Freiheitsstrafe an. Denn die Mindeststrafenregelung soll sicherstellen, dass der Entzug des Asyl- und Flüchtlingsstatus nur gegenüber besonders gefährlichen Tätern in Betracht kommt. Nur sie bedeuten eine Gefahr für die Allgemeinheit, die gegenüber dem Ziel des Flüchtlingsschutzes im Ausnahmefall überwiegen kann, nicht aber solche Täter, die sich zwar eines mit hoher Strafdrohung bewehrten Vergehens oder Verbrechens schuldig gemacht haben, dabei aber im unteren oder mittleren Bereich der Strafbarkeit geblieben sind, so dass sie eine Freiheitsstrafe von weniger als drei Jahren verwirkt haben. Ist ein Flüchtling rechtskräftig zu einer mindestens dreijährigen (Einzel-)Freiheitsstrafe verurteilt worden, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles weiter zu prüfen, ob diese Verurteilung die Annahme rechtfertigt, dass er tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] darstellt.

Aus demselben Grund reicht es nicht aus, wenn ein Täter nur deshalb zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, weil mehrere von ihm begangene Taten geringeren oder mittleren Gewichts im Rahmen eines einzigen Strafverfahrens oder - wenn eine frühere Strafe noch nicht vollstreckt ist - im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung abgeurteilt worden sind. Die von der Beklagten für richtig gehaltene Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] würde hingegen dazu führen, dass die von rein verfahrenspraktischen Aspekten, nicht aber von der Gefährlichkeit des [X.] abhängige Frage, ob eine Straftat in einem Strafverfahren für sich genommen oder zusammen mit anderen Straftaten abgeurteilt wird, ausschlaggebend dafür werden könnte, ob der Täter die Voraussetzungen für einen Widerruf seines Asyl- oder Flüchtlingsstatus erfüllt oder nicht.

Auch die Entstehungsgeschichte der [X.] (vgl. [X.]/[X.], [X.] Geneva convention relating to the status of refugees, 1990, [X.] f., 344 ff., sowie [X.], [X.] analysed with a commentary, abrufbar bei [X.], ab Seite 233) bestätigt die Erforderlichkeit einer restriktiven Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.]. Während im ursprünglichen Textentwurf eine Einschränkung des Refoulement-Verbots (Art. 28 des Entwurfs) noch nicht vorgesehen war, setzte sich der Gedanke, dass [X.] zur Hinnahme von Gefahren für ihre Sicherheit oder für die Allgemeinheit nicht unbeschränkt gezwungen sein dürften, erst nach einer intensiven Debatte über die Grenzen des [X.] durch. Der schließlich verabschiedeten Textfassung lag die Einschätzung zu Grunde, dass die Abschiebung eines Flüchtlings nur ausnahmsweise und als Reaktion auf besonders schwerwiegendes kriminelles Verhalten des Flüchtlings zulässig sei, wenn eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder der Allgemeinheit bestehe. Die Auffassung des Vertreters des [X.], auch in derartigen Fällen könne über die Merkmale einer Gefahr für die Allgemeinheit oder der Wiederholungsgefahr im Rahmen einer Einzelfallwürdigung eine Unterschreitung des völker- und unionsrechtlich gebotenen Mindeststandards verhindert werden (ebenso [X.] a.a.[X.] Rn. 45), wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Denn sie verschiebt die untere Grenze für die Möglichkeit eines Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung in einen Bereich, der bereits die durch eine Mehrzahl von Taten der mittleren Kriminalität ausgelösten Gefahren erfasst und sich damit gerade nicht auf Fälle besonders schwerer Verbrechen (Art. 14 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2011/95/[X.]) beschränkt.

Aus der Entstehungsgeschichte des § 60 Abs. 8 [X.] ergibt sich nichts Abweichendes. Die Mindeststrafengrenze des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] war weder im [X.] vom 28. April 1965 ([X.] 1965, dort § 14 Abs. 1 Satz 2, gültig bis Ende 1990) noch in der bis Oktober 1997 gültigen Fassung des [X.]es vom 9. Juli 1990 ([X.] 1990, dort § 51 Abs. 4) enthalten und fehlt auch in Art. 33 Abs. 2 der durch das [X.] 1965 in Bezug genommenen [X.]. Sie wurde erst durch Gesetz vom 29. Oktober 1997 als § 51 Abs. 3 [X.] (gültig bis Ende 2004) mit der Begründung in das Gesetz eingefügt, die bisher nur selten angewandte Vorschrift solle konkretisiert und ihre praktische Anwendung angesichts der aktuellen politischen Lage erleichtert werden (BTDrucks 13/4948 S. 9). Weder durch das [X.] in der Fassung vom 30. Juli 2004 noch durch das erste Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 ist sie nachfolgend geändert worden. Aus diesem Ablauf lässt sich lediglich die Absicht des [X.] ableiten, die Ausweisung von Straftätern durch eine leicht handhabbare Regelung zu erleichtern, nicht aber eine Aussage zu der - in den Materialien nicht angesprochenen - Frage, ob die Mindeststrafengrenze auch durch eine aus mehreren Einzelstrafen von jeweils unter drei Jahren gebildete Gesamtstrafe erfüllt werden sollte oder nicht. Vielmehr folgt aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 33 Abs. 2 GFK in der Begründung für die Einführung einer Mindestfreiheitsstrafe (BTDrucks 13/4948 S. 9), dass die dort verbindlich vereinbarte hohe Schwelle für eine Relativierung des Flüchtlingsschutzes nicht angetastet werden sollte.

3. Das Berufungsgericht hat jedoch die im vorliegenden Verfahren ebenfalls aufgeworfene Frage, ob der angegriffene [X.] auf § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG gestützt werden kann, nicht im Einklang mit revisiblem Recht beantwortet. Dabei kann offenbleiben, ob das Berufungsgericht dieser Frage überhaupt nicht nachgegangen ist oder ob es die Frage zwar aufgeworfen, aber unter Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO - da ohne jede Sachverhaltsaufklärung - beantwortet hat.

Der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auch dann geboten, wenn der Ausländer es nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (§ 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Nach der Rechtsprechung kann dies allerdings erst dann angenommen werden, wenn sich die verfolgungsbegründenden Umstände erheblich und dauerhaft verändert haben (Urteile vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 [X.] 25.10 - BVerwGE 140, 22 und vom 24. Februar 2011 a.a.[X.] Rn. 16 ff.; [X.], Urteil vom 2. März 2010 - [X.]. [X.]-175/08 u.a., [X.] u.a. - NVwZ 2010, 505 Rn. 72 ff.). Die bei der Anerkennung als Asylberechtigter oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft festgestellte Verfolgungsgefahr fällt also erst weg, wenn durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte und zugleich stabile Grundlage für die Verfolgungsprognose entstanden ist, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Betroffenen nach seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mehr besteht. Die einen Wegfall der [X.] begründenden Tatsachen müssen zur Überzeugung des Gerichts feststehen, wenn auch nicht - wie das Berufungsgericht es formuliert hat - "auf der Hand liegen".

4. Das Berufungsgericht hat keine Tatsachen festgestellt, aus denen sich ein Wegfall der [X.] ableiten ließe. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass im angegriffenen Bescheid Ausführungen zur Situation von Angehörigen der [X.] in der [X.] enthalten sind, wenn auch lediglich im Zusammenhang mit einem denkbaren Anspruch des [X.] auf subsidiären Schutz. Denn es wäre Aufgabe des [X.] und des Berufungsgerichts gewesen, die Richtigkeit dieser Ausführungen durch eigene tatsächliche Feststellungen zu überprüfen. Deshalb kann der Senat die Frage, ob die Berufungsentscheidung aus anderen Gründen richtig ist (§ 144 Abs. 4 VwGO) nicht beantworten und auch nicht zu Lasten des [X.] in der Sache selbst entscheiden. Vielmehr ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um diesem die Gelegenheit zu geben, die für § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG maßgeblichen Tatsachen aufzuklären.

Meta

10 C 17/12

31.01.2013

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, 2. Januar 2012, Az: 4 Bf 26/09.A, Beschluss

§ 60 Abs 8 S 1 Alt 2 AufenthG 2004, § 73 Abs 1 S 1 AsylVfG 1992, Art 33 Abs 2 FlüAbk, § 54 StGB, § 55 StGB, Art 14 Abs 4 Buchst b EGRL 83/2004, Art 14 Abs 4 Buchst b EURL 95/2011

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31.01.2013, Az. 10 C 17/12 (REWIS RS 2013, 8519)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 8519

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