Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.03.2012, Az. 1 StR 648/11

1. Strafsenat | REWIS RS 2012, 7984

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen


BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
1
StR
648/11

vom
20. März
2012
in der Strafsache
gegen

wegen Vergewaltigung u.a.

-
2
-
Der 1.
Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom
20. März 2012, an der teilgenommen haben:
[X.] am Bundesgerichtshof
Nack

und [X.] am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Graf,
Prof. Dr. Jäger,
Prof. Dr. Sander,

Staatsanwalt

als Vertreter der [X.],

Rechtsanwalt

als Verteidiger,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

-
3
-
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 23. August 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entschei-dung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten vom Tatvorwurf der [X.] freigesprochen. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Re-vision der Staatsanwaltschaft, die von dem [X.] vertreten wird, hat Erfolg.

I.
1. Das [X.] hat folgende Feststellungen getroffen:
a) Von 2002 bis 2010 lebten die Geschädigte [X.]

, die zu 100 % schwerbehindert ist, und der Angeklagte in der Wohnung der Geschädigten zusammen. Nachdem die Geschädigte spätestens seit einer [X.] Schmerzen beim Geschlechtsverkehr verspürte und entsprechen-den Wünschen des Angeklagten eher widerwillig nachkam, zog sie vom 18.
September bis zum 27. Dezember 2010 ins Frauenhaus, um keinen Ge-1
2
3
-
4
-
schlechtsverkehr mehr haben zu müssen. Als die Geschädigte danach in ihre Wohnung zurückkehrte, zog der Angeklagte auf ihren Wunsch am [X.] 2010 aus der Wohnung aus, worauf sie anschließend das [X.] auswechseln ließ, so dass der Angeklagte keinen aktuellen Schlüssel mehr für die Wohnung besaß. Dennoch kam es bis zu dem [X.] am 14. Januar 2011 nicht ausschließbar noch [X.] zum Geschlechtsverkehr zwischen dem Angeklagten und der Zeugin [X.]

.
b) Am 14. Januar 2011 öffnete der Angeklagte gegen 21.00 Uhr unter Benutzung einer Scheckkarte die Wohnung der Zeugin [X.]

, ging in die Küche, wo er sich nackt auszog, und danach ins Schlafzimmer. Die nur mit [X.] bekleidete Zeugin hatte bereits geschlafen. Nach der Ankündigung des Angeklagten, er wolle jetzt ins Bett kommen, lehnte die Zeugin dies ab, was den Angeklagten aber nicht abhielt. Er zog die Bettdecke weg und würgte die Zeugin. Dadurch wollte er erfahren, wer das Türschloss ausgewechselt hatte und warum die Zeugin bei einem Telefonanruf von ihm im Laufe des [X.] nicht ans Telefon gegangen war. Nachdem die Zeugin ihm insoweit Auskunft gegeben hatte, hörte er mit dem Würgen auf. Anschließend kniete er über ih-rem Oberkörper und führte sein Glied in den Mund der Geschädigten ein. Dann rutschte er nach unten, zog die Unterhose der Geschädigten mit deren Hilfe aus, drang mit seinem erigierten Glied in die Scheide ein und führte den Ge-schlechtsverkehr
aus. Dabei wehrte sich die Geschädigte nicht und sagte ihm auch nicht, dass sie keinen Geschlechtsverkehr wolle. Danach zog sich der Angeklagte an und verließ die Wohnung.
2. Das [X.] hat den Angeklagten freigesprochen, weil auch der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht vorliege. Zwar habe er gegen die Zeugin [X.]

Gewalt ausgeübt; dies sei aber nicht geschehen, um sie zu sexuellen Handlungen zu nötigen. Vielmehr habe er durch das Würgen nur 4
5
-
5
-
in Erfahrung bringen
wollen, wer das Schloss ausgetauscht und warum sie nicht mit ihm telefoniert hatte. Die beim Würgen angewendete Gewalt habe beim späteren Geschlechtsverkehr nicht weitergewirkt. Das Würgen sei zu die-sem Zeitpunkt bereits beendet gewesen, und die Geschädigte habe auch keine Angst gehabt, dass der Angeklagte sie schlagen oder erneut würgen würde, falls sie den Geschlechtsverkehr nicht geduldet hätte.
Hinsichtlich des vorangegangenen Würgevorgangs hat das [X.] keine rechtliche Würdigung vorgenommen und dazu auch keine Ausführungen gemacht. Dies könnte darauf beruhen, dass sich in den Akten kein Strafantrag der Geschädigten wegen Körperverletzung (§ 223 StGB) befindet und die Staatsanwaltschaft insoweit bei der Hauptverhandlung das besondere öffentli-che Interesse an der Strafverfolgung ausdrücklich verneint hat.
3. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer auf die Sachrüge ge-stützten Revision, dass das [X.] die Beweise nicht erschöpfend [X.],
dabei sich auch nicht ausreichend mit der Frage befasst habe, ob die Ge-schädigte möglicherweise mit ihrer Aussage dem Angeklagten helfen wollte. Auch habe das [X.] überspannte Anforderungen an die eigene Über-zeugungsbildung gestellt. Im Übrigen sei rechtsfehlerhaft nicht geprüft worden, ob sich die Angeklagte -
hinsichtlich des Würgevorgangs
-
nicht auch wegen

II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat im Umfang der [X.] Erfolg.
6
7
8
-
6
-
1. Dabei kann dahinstehen, ob die von der Revision beanstandeten Mängel in der Beweiswürdigung gegeben sind. Denn auch auf der Grundlage der landgerichtlichen Feststellungen erweist sich das Urteil schon deshalb als rechtsfehlerhaft, weil das [X.] den Unrechtsgehalt der festgestellten Tat nicht ausgeschöpft hat und somit seiner Kognitionspflicht nicht nachgekommen ist.
a) Nach §
264 StPO muss das Gericht die in der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, unter allen rechtlichen Gesichtspunkten aburteilen. Es ist verpflichtet, den [X.], sofern keine rechtlichen Hindernisse im Wege stehen ([X.], Beschluss vom 9.
November 1972 -
4 [X.], [X.]St 25, 72). Der Tatbegriff des §
264 Abs.
1 StPO entspricht dabei demjenigen des §
200 Abs.
1 Satz 1 StPO ([X.], Beschluss vom 30.
März 2011 -
4 [X.]/11).
b) Die Feststellungen des [X.] legen es nahe, dass sich der Angeklagte nicht nur
wegen Nötigung (§ 240 StGB) zum Nachteil der [X.] [X.]

, sondern auch wegen einer tateinheitlich begangenen gefährlichen Körperverletzung (§
224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) strafbar gemacht
hat.

Nach den Feststellungen bemächtigte sich der Angeklagte der [X.] zwar zunächst nicht, um sie zur Duldung des Geschlechtsverkehrs zu nötigen. Jedoch können Würgegriffe am Hals lebensgefährlich sein, wobei [X.] nicht jeder Griff an den Hals ausreicht. Von maßgeblicher Bedeutung sind hierbei vielmehr
Dauer und Stärke der Einwirkung, die zwar nicht dazu füh-ren muss, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät. Erforderlich, aber auch genügend ist, dass die Art der Behandlung durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls geeignet ist, das Leben des 9
10
11
12
-
7
-
Opfers zu gefährden; einer konkreten Gefährdung bedarf es nicht (st. Rspr.;
[X.], Urteil vom 25. Februar 2010 -
4 [X.], [X.], 176).
Dazu hat das [X.] keine Feststellungen getroffen, obgleich der fehlende Strafantrag der Geschädigten nur einer Verurteilung wegen vorsätzli-cher Körperverletzung, nicht auch wegen gefährlicher Körperverletzung [X.] hätte. Schließlich hat der Angeklagte nach den Feststellungen des [X.] mit dem Würgen auch erfolgreich den Zweck verfolgt, von der Geschädigten in Erfahrung zu bringen, wer das Schloss an der Wohnungstür ausgetauscht und weshalb sie seinen Telefonanruf am Nachmittag nicht ange-nommen hatte, so dass insoweit eine vollendete Nötigung vorliegt, für deren Verfolgung es
keines Strafantrags bedarf.

An der Aburteilung dieses Verhaltens unter diesen rechtlichen [X.] war das [X.] nicht gehindert, auch wenn die Geschädigte of-fenbar keinen Strafantrag gestellt und die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung verneint hat.
Danach konnte vorliegend mangels Strafantrags zwar keine Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung ergehen; dies betrifft aber nicht die (mög-liche) Nötigung der Geschädigten und eine eventuell vorliegende gefährliche Körperverletzung durch das Würgen.
Diese von der Anklage umfassten Tathandlungen hatte das Gericht -
ggf.
unter Erfüllung seiner Hinweispflicht nach §
265 Abs.
1 StPO (vgl. [X.], Urteil vom 20.
Februar 2003 -
3 [X.], [X.]St 48, 221, 223)
-
bei seiner Urteils-findung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Dieser Pflicht ist das [X.] vorliegend jedoch rechtsfehlerhaft nicht nachge-kommen. Dies stellt nicht nur eine Verletzung der Verfahrensvorschrift des 13
14
15
16
-
8
-
§
264 StPO dar, sondern auch einen sachlich-rechtlichen Mangel, auf dem das Urteil beruht (vgl. [X.], Urteile vom 10.
Dezember 1974 -
5 [X.] und vom 16.
Dezember 1982 -
4 [X.], [X.], 174 mwN).

III.
Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils, da sich die [X.] der Nötigung bei Durchführung des Ge-schlechtsverkehrs nicht von den Feststellungen zum übrigen Tatgeschehen trennen lassen.
[X.]

Wahl Graf

Jäger Sander
17

Meta

1 StR 648/11

20.03.2012

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.03.2012, Az. 1 StR 648/11 (REWIS RS 2012, 7984)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 7984

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 StR 648/11 (Bundesgerichtshof)

Notwendige Feststellungen im Strafurteil: Ausschöpfen des Unrechtsgehalts der angeklagten Tat


1 StR 233/02 (Bundesgerichtshof)


4 StR 105/14 (Bundesgerichtshof)

Rücktritt vom Versuch: Beendigung des Versuchs eines Totschlags und Fehlschlag eines Tötungsversuchs durch Würgen


3 StR 315/13 (Bundesgerichtshof)

Konkurrenzverhältnis zwischen Nötigung und Vergewaltigung


2 StR 283/23 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

4 StR 42/11

4 StR 575/09

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.