Bundesfinanzhof, Urteil vom 09.02.2012, Az. III R 47/08

3. Senat | REWIS RS 2012, 9343

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Gegenstand

Kindergeld: Unfähigkeit zum Selbstunterhalt eines studierenden Kindes, Nachweis der Behinderung eines Kindes


Leitsatz

NV: Macht der Kindergeldberechtigte eine seelische Behinderung als Grund für die nichtabgeschlossene Ausbildung seines Kindes geltend, kann das FG die Frage der Behinderung nicht einfach dahinstehen lassen und stattdessen auf einen wiederholten Studienfachwechsel abstellen, ohne die Gründe für diesen weiter aufzuklären.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) bezog für seinen am 25. Mai 1978 geborenen [X.] [X.] bis zur Vollendung dessen 27. Lebensjahres im Mai 2005 laufend Kindergeld. Nach dem [X.]bitur im [X.] 2000 begann [X.] zunächst im Wintersemester 2000/2001 ein Studium mit Fachrichtung Maschinenwesen an der [X.] Nach zwei Semestern wechselte er sowohl [X.] als auch Fachrichtung und studierte ab dem Wintersemester 2001/2002 nun Volkswirtschaftslehre in [X.] Zum Wintersemester 2004/2005 wechselte [X.] abermals die Fachrichtung und begann ein Studium der Pädagogik, Soziologie und Politikwissenschaft.

2

Der Kläger beantragte --unter Beifügung mehrerer Schreiben und ärztlicher [X.]tteste-- die Fortzahlung des Kindergeldes für [X.] über das 27. Lebensjahr hinaus und verwies darauf, sein [X.] leide seit Jahren unter Ängsten und Depressionen, die das Beenden einer [X.]usbildung bislang unmöglich gemacht hätten. [X.]ufgrund der psychischen Erkrankung sei [X.] nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten.

3

Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den [X.]ntrag durch Bescheid vom 26. Juli 2005 ab. Sowohl Einspruch als auch Klage blieben erfolglos.

4

Mit der Revision rügt der Kläger die fehlerhafte [X.]nwendung des § 32 [X.]bs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG).

5

Der Kläger beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

6

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur [X.]ufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht --[X.]-- (§ 126 [X.]bs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O).

8

Der Senat kann auf der Grundlage der vom [X.] getroffenen Feststellungen nicht abschließend prüfen, ob [X.] über sein 27. Lebensjahr hinaus als behindertes Kind i.S. des § 32 [X.]bs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist und das [X.] den Kindergeldanspruch des [X.] deshalb zu Unrecht verneint hat. Das Fehlen ausreichender Feststellungen stellt einen materiell-rechtlichen Mangel des Urteils dar, der zur [X.]ufhebung der Vorentscheidung führt (Urteile des [X.] --BFH-- vom 27. [X.]pril 1999 [X.], [X.], 255, [X.] 1999, 670; vom 10. Juni 2008 [X.], [X.], 313, [X.] 2008, 937).

9

1. Gemäß § 62 [X.]bs. 1, § 63 [X.]bs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 [X.]bs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein volljähriges Kind ein [X.]nspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 27. (jetzt des 25.) Lebensjahres eingetreten ist.

Die Behinderung muss --wie der Wortlaut eindeutig erkennen lässt ("[X.] nach den Gesamtumständen des Einzelfalles für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein. Dem Kind muss es daher objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (Senatsurteil vom 19. November 2008 [X.]/07, [X.], 365, [X.] 2010, 1057, m.w.N.). Im Zusammenhang mit einem arbeitslosen behinderten Kind hat der Senat entschieden, dass nicht jede einfache Mitursächlichkeit ausreicht, sondern dass die Mitursächlichkeit der Behinderung vielmehr erheblich sein muss (Senatsurteil in [X.], 365, [X.] 2010, 1057). Die Frage, ob eine Behinderung für die mangelnde Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt in erheblichem Umfang mitursächlich ist, hat das [X.] unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (Senatsurteil in [X.], 365, [X.] 2010, 1057).

2. In [X.]nwendung der vorgenannten Grundsätze kann die Entscheidung des [X.] keinen Bestand haben.

a) Das [X.] hat seiner Entscheidung nicht alle relevanten Umstände zugrunde gelegt. Es hat insbesondere nicht festgestellt, ob [X.] (seelisch) behindert ist. Entgegen der [X.]nsicht des [X.] kann diese Frage nicht dahinstehen. Die Schlussfolgerung des [X.], der wiederholte [X.] zeige die Leistungs- und [X.]usbildungsfähigkeit von [X.], kann ohne Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand nicht getroffen werden.

[X.]uch die von dem [X.] für seine Entscheidung maßgebend herangezogene Stellungnahme der Reha/SB-Stelle der [X.] vom 2. Oktober 2006, in der diese durch schlichtes [X.]nkreuzen bescheinigt, [X.] sei in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden [X.]rbeitsmarkts auszuüben, lässt nicht den vom [X.] hieraus gezogenen Schluss zu, dies stehe der [X.]nnahme entgegen, dass [X.] aufgrund einer Behinderung nicht zum Selbstunterhalt in der Lage sei. Ein Kind in [X.]usbildung ist typischerweise (noch) nicht zum Selbstunterhalt in der Lage. Insoweit kommt es in einem Fall wie dem vorliegenden allein darauf an, ob behinderungsbedingte Gründe den [X.]bschluss der Berufsausbildung noch nicht zugelassen haben.

Ist [X.] zwar psychisch krank, nicht aber behindert, scheidet ein Kindergeldanspruch bereits aus diesem Grund aus. Liegt jedoch eine seelische Behinderung bei [X.] vor, so ist es --je nach den konkreten Umständen hinsichtlich Form und Umfang-- möglich, dass die Behinderung allein oder zumindest in erheblichem Umfang mitursächlich für den wiederholten [X.] und damit für die über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus dauernde [X.]usbildung ist. Erst wenn das [X.] konkrete Feststellungen zum Gesundheitszustand und den Hintergründen der [X.] getroffen hat, kann es beurteilen, ob eine mögliche seelische Behinderung die Ursache für den wiederholten [X.] war oder ob dieser auf Gründen beruhte, die ihre Ursache nicht in einer etwaigen Behinderung des [X.] hatten, beispielsweise weil ihm die zunächst gewählte Studienrichtung im Nachhinein nicht zusagte.

b) Im zweiten Rechtsgang wird das [X.] deshalb zunächst festzustellen haben, ob und ggf. inwiefern [X.] behindert ist.

Der Nachweis der Behinderung kann dabei nicht nur durch Vorlage eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises oder Feststellungsbescheids gemäß § 69 des [X.] ([X.]) sowie eines Rentenbescheids erfolgen, sondern auch in anderer Form wie beispielsweise durch Vorlage einer Bescheinigung bzw. eines Zeugnisses des behandelnden [X.]rztes oder auch eines ärztlichen Gutachtens erbracht werden (vgl. BFH-Urteil vom 16. [X.]pril 2002 [X.]/99, [X.], 567, [X.] 2002, 738, m.w.N.; Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. [X.]bschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2011, 63.3.6.2 [X.]bs. 1 Satz 2, [X.], 1030, 1069, [X.], 716). Ein [X.]nscheinsbeweis reicht indessen nicht aus. Das [X.] soll dabei im Regelfall zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht ein ärztliches Gutachten einholen oder entsprechende Erkenntnisse durch Einvernahme der behandelnden Ärzte als Zeugen gewinnen (Senatsbeschluss vom 30. November 2005 [X.], [X.], 540).

c) Für den Fall, dass eine Behinderung vorliegt, wird das [X.] weiter die Hintergründe der [X.] aufzuklären haben, um abschließend würdigen zu können, ob [X.] sich nach Vollendung seines 27. Lebensjahres behinderungsbedingt noch in [X.]usbildung befand und deshalb nicht in der Lage war, sich selbst zu unterhalten. Kommt das [X.] zu dem Ergebnis, dass die fortdauernde [X.]usbildung letztlich auf anderen Umständen beruhte, hat es zu ermitteln, ob die Behinderung einer Erwerbstätigkeit, mittels derer [X.] seinen gesamten Lebensbedarf (existenziellen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) hätte decken können, entgegenstand (vgl. hierzu Senatsurteil vom 22. Oktober 2009 [X.]/07, [X.], 17, [X.] 2011, 38).

Meta

III R 47/08

09.02.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Nürnberg, 22. Dezember 2006, Az: VI 210/2006, Urteil

§ 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2002, § 69 SGB 9

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 09.02.2012, Az. III R 47/08 (REWIS RS 2012, 9343)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9343

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