Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.07.2016, Az. X R 57/13

10. Senat | REWIS RS 2016, 8694

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Gegenstand

Erlass eines inhaltsgleichen Änderungsbescheids nach einvernehmlicher Beendigung des Finanzrechtsstreits in der mündlichen Verhandlung


Leitsatz

Hebt das FA aufgrund einer mit dem Steuerpflichtigen getroffenen Verständigung über die einvernehmliche Beendigung des Finanzrechtsstreits einen Steuerbescheid in der mündlichen Verhandlung vor dem FG auf und erklärt den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt, ist es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (Verbot des "venire contra factum proprium") daran gehindert, erneut einen inhaltsgleichen Steuerbescheid zu erlassen, wenn der Steuerpflichtige in Einhaltung dieser Absprache über einen verfahrensrechtlichen Besitzstand disponiert hat. Letzteres ist der Fall, wenn er seinen Einspruch zurückgenommen und ebenfalls die Hauptsache für erledigt erklärt hat (Fortentwicklung der Senatsrechtsprechung, s. Urteil vom 29. Oktober 1987 X R 1/80, BFHE 151, 118, BStBl II 1988, 121) .

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 4. März 2013 12 K 279/12 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erzielte im Streitjahr 2006 gewerbliche Einkünfte aus dem [X.]etrieb einer Gaststätte (§ 15 des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Den Gewinn ermittelte sie durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG.

2

Am 19. Juni 2006 schloss die Klägerin mit der [X.]rauerei ([X.]) einen "[X.]ierbezugsvertrag". [X.]estandteil dieses Vertrags war --neben den Konditionen des [X.]ezugs und Ausschanks von durch [X.] vertriebener Getränke-- u.a. die Gewährung eines "Abschreibungsdarlehens" über 31.000 € [X.] 16 % Umsatzsteuer, das im [X.] an die Klägerin ausgezahlt und von dieser zur Renovierung der Gaststätte eingesetzt wurde. Die diesbezügliche [X.] sah von der künftigen [X.]ierbezugsmenge abhängige Gutschriften zugunsten des "[X.]" der Klägerin vor.

3

Aufgrund eines Hinweises der [X.] beantragte die Klägerin am 24. Oktober 2006 bei dem [X.]eklagten und Revisionskläger (Finanzamt --[X.]--) unter Vorlage des "[X.]ierbezugsvertrags" eine verbindliche Auskunft über die umsatzsteuerrechtliche [X.]ehandlung des "Abschreibungsdarlehens". Eine solche lehnte das [X.] ab, teilte aber gleichwohl seine Rechtsauffassung mit, wonach es sich bei dem "Abschreibungsdarlehen" um eine "vorgezogene Umsatzrückvergütung" handele, die "bereits im Zeitpunkt der Zahlung der Umsatzsteuer unterliege".

4

Da die Klägerin trotz Aufforderung keine Gewinnfeststellungserklärung für das Streitjahr abgegeben hatte, schätzte das [X.] die [X.]esteuerungsgrundlagen und stellte am 10. Dezember 2007 einen Gewinn aus dem [X.]etrieb der Gaststätte im [X.] in Höhe von 10.000 € gesondert fest. Dieser [X.]escheid stand nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

5

Im Zuge des [X.] reichte die Klägerin eine Feststellungserklärung für 2006 nach, in der sie einen Verlust in Höhe von 1.469,71 € angab.

6

Am 9. August 2010 erließ das [X.] während des nach wie vor andauernden [X.] einen auf "§ 172 Abs. 1 Nr. [X.]" gestützten, geänderten [X.], in dem es den Gewinn nach Ansatz des "Abschreibungsdarlehens" sowie weiteren nicht streitbefangenen Korrekturen auf 26.143 € erhöhte. Den auch dagegen gerichteten Einspruch der Klägerin (§ 365 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung --[X.]--) wies es am 22. Dezember 2010 als unbegründet zurück.

7

Dagegen erhob die Klägerin Klage. In der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht ([X.]) fand im [X.] an die Erörterung der Streitsache eine Zwischenberatung des Gerichts statt, zu der es in der Sitzungsniederschrift nachstehende Feststellungen traf:

        

"Der Vorsitzende erläuterte den [X.]eteiligten das Ergebnis der Zwischenberatung, wonach mindestens zweifelhaft sei, ob im Streitfall die Voraussetzungen einer Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] mit der Folge vorgelegen hätten, dass es eines Verböserungshinweises bedurft hätte. In diesem Zusammenhang wies der Vorsitzende darauf hin, dass in den dem Gericht vorliegenden Akten des beklagten Finanzamts eine Heftung 'Abschreibungsdarlehen' enthalten sei, in der auch der [X.]ierbezugsvertrag enthalten gewesen sei, und zwar auch bereits zu einem Zeitpunkt, als die erstmalige Schätzung durch den [X.]escheid vom 10. Dezember 2007 erfolgte.

        

Vor diesem Hintergrund wurde dem Vertreter des beklagten Finanzamts empfohlen, die Klägerin dadurch klaglos zu stellen, dass der Einspruchsbescheid und der während des [X.] geänderte Feststellungsbescheid aufgehoben werden.

        

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin sollte sich für den Fall einer entsprechenden Aufhebung überlegen, ob er bereits heute zu Protokoll die Rücknahme seines Einspruchs erklärte.

        

Die [X.]eteiligten erklärten sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden."

8

Daraufhin hob das [X.] den Änderungsbescheid vom 9. August 2010 sowie die Einspruchsentscheidung vom 22. Dezember 2010 im Einvernehmen mit dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin noch während der mündlichen Verhandlung auf und erklärte den Rechtsstreit "bereits jetzt" in der Hauptsache für erledigt. "Im Hinblick auf die Aufhebung der [X.]escheide" (so das Protokoll weiter) nahm der Prozessbevollmächtigte der Klägerin deren Einspruch zurück und gab seinerseits "bereits jetzt" die Erklärung ab, der Rechtsstreit sei in der Hauptsache erledigt.

9

Sechs Wochen später erließ das [X.] am 20. Juni 2012 einen inhaltlich identischen Änderungsbescheid, den es nunmehr ausdrücklich auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] stützte und in einer Anlage näher begründete.

Nach Einspruch und Klage hob das [X.] den Änderungsbescheid vom 20. Juni 2012 sowie die Einspruchsentscheidung vom 24. August 2012 auf. Es erkannte unter Hinweis auf die Rechtsprechung des [X.]undesfinanzhofs ([X.]FH) zur Anwendung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] nach einer vorangegangenen Gewinnschätzung (u.a. [X.]FH-Urteile vom 28. März 1985 IV R 159/82, [X.]FHE 144, 521, [X.]St[X.]l II 1986, 120; vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, [X.]FHE 148, 208, [X.]St[X.]l II 1987, 161, und III R 164/82, [X.]FH/NV 1987, 353), die Tatbestandsvoraussetzungen der Änderungsvorschrift seien nicht erfüllt.

Das [X.] begründet seine Revision mit der Verletzung materiellen Rechts und sieht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] weiter als gegeben an.

Es beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des [X.] hat keinen Erfolg. Das [X.] hat im Ergebnis zu Recht der Klage stattgegeben und den Feststellungsbescheid 2006 vom 20. Juni 2012 sowie die Einspruchsentscheidung vom 24. August 2012 aufgehoben. Die Revision ist daher gemäß § 126 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zurückzuweisen.

Der erkennende Senat kann dahinstehen lassen, ob das [X.] die bei der Anwendung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nach einer vorangegangenen Gewinnschätzung zu beachtenden Rechtsgrundsätze zutreffend auf den Streitfall übertragen hat. Das [X.] war nämlich bereits aufgrund seiner Erklärungen in der mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2012 nach dem Grundsatz von [X.] und Glauben daran gehindert, die streitgegenständliche Änderung erneut vorzunehmen.

1. Der Grundsatz von [X.] und Glauben ist im Steuerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz uneingeschränkt anerkannt. Er gebietet, dass im [X.] jeder Beteiligte auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich zu seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt. Er bringt keine [X.] und -schulden zum Entstehen oder Erlöschen, sondern kann allenfalls ein bestehendes konkretes [X.] dahingehend modifizieren, dass eine Forderung nicht mehr geltend gemacht bzw. ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 1. Dezember 2015 VII R 44/14, [X.], 881, unter II.3., m.w.N.).

Dabei kann die Verdrängung gesetzten Rechts durch den Grundsatz von [X.] und Glauben nur in besonders gelagerten Fällen in Betracht kommen, in denen das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach dem allgemeinen Rechtsgefühl in einem so hohen Maße schutzwürdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen. Hierzu verlangt der Grundsatz von [X.] und Glauben einen Vertrauenstatbestand, aufgrund dessen der Steuerpflichtige disponiert hat. Erforderlich ist eine bestimmte Position oder ein bestimmtes Verhalten des einen Teils, aufgrund dessen der andere Teil bei objektiver Beurteilung annehmen konnte, jener werde an seiner Position oder seinem Verhalten konsequent und auf Dauer festhalten. Ein schützenswertes nachhaltiges Vertrauen in den Fortbestand der früheren Auffassung ist demzufolge nur dann und solange gegeben, als der Steuerpflichtige nicht mit ihrer Änderung rechnen musste oder ihm zumindest Zweifel hätten kommen müssen (ebenfalls ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsurteil vom 25. Juni 2014 [X.], [X.], 172, [X.], 889, unter [X.], m.w.N.).

2. Von diesen allgemeinen Maßstäben ausgehend, stand der vorliegend allein streitgegenständlichen erneuten Änderung des [X.] vom 10. Dezember 2007 durch den Feststellungsbescheid vom 20. Juni 2012 entgegen, dass das [X.] den ersten Änderungsbescheid in der mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2012 mit Zustimmung der Klägerin aufgehoben und den Rechtsstreit ohne jede Einschränkung oder Bedingung in der Hauptsache für erledigt erklärt hat.

a) Durch dieses Verhalten ist auf Seiten der Klägerin ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden, der sich dahingehend auswirkte, dass sie ihren Einspruch entsprechend der mit dem [X.] getroffenen Verfahrensverständigung im unmittelbaren [X.] zurückgenommen und den Rechtsstreit --aus prozessualen Gründen unwiderruflich (vgl. zuletzt [X.] vom 1. Juli 2014 VIII B 21/14, [X.] 2014, 1900, unter [X.] in der Hauptsache für erledigt erklärt hat. Ein solches Verhalten stellt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats eine wirtschaftliche Disposition in Gestalt der Aufgabe eines verfahrensrechtlichen Besitzstandes dar (vgl. insoweit grundlegend Senatsurteil vom 29. Oktober 1987 [X.], [X.], 118, [X.] 1988, 121, unter 3.; dem ausdrücklich folgend BFH-Urteil vom 22. August 1990 III R 27/88, [X.] 1991, 572, unter 2.).

Auch darin kann nach den Umständen des Einzelfalls ein tauglicher Anknüpfungspunkt für die Gewährung von Vertrauensschutz liegen (z.B. BFH-Urteile in [X.] 1991, 572, unter 2.; vom 16. November 2000 XI R 28/99, [X.], 494, [X.] 2001, 303, unter [X.], und vom 10. März 1989 III R 190/85, [X.] 1990, 358, unter [X.]; s. ferner Senatsurteil vom 8. April 1987 [X.], [X.] 1988, 214, unter 2.b, zu § 227 AO).

b) Im Streitfall durfte die Klägerin aufgrund des zielstrebigen und vorbehaltslosen Hinwirkens des [X.] auf eine umgehende Beendigung des Finanzgerichtsprozesses "ohne Urteil" uneingeschränkt darauf vertrauen, dieses werde sich dazu auch künftig nicht mehr in Widerspruch setzen (Verbot des "venire contra factum proprium"). Anhaltspunkte, die Anlass gegeben hätten, hieran zu zweifeln (z.B. wenn das [X.] durch das Gericht auf offensichtlich unlautere Weise zur "einvernehmlichen" Verfahrensbeendigung gedrängt worden wäre), sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Dass die Klägerin das für sie nach den Ergebnissen der Zwischenberatung des [X.] nach damaligem Sach- und Streitstand augenscheinlich aussichtsreiche finanzgerichtliche Verfahren nicht zu Ende geführt, sondern den von ihrer Zustimmung abhängigen Wegfall des ersten Änderungsbescheids zugelassen und auch ihrerseits die Hauptsacheerledigung erklärt hat, beruhte allein auf der Verabredung einer einvernehmlichen Streitbeilegung mit dem [X.] in der konkreten Verfahrenssituation. Aufgrund dieser Disposition verzichtete die Klägerin auf ein in Rechtskraft erwachsendes Sachurteil des [X.], dessen Bindungswirkung den künftigen Korrekturrahmen nach Maßgabe der Änderungssperre des § 110 Abs. 2 [X.]O eingeschränkt hätte (s. dazu z.B. BFH-Urteil vom 9. Juni 2005 IX R 75/03, [X.] 2005, 1765, unter 3.).

3. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

X R 57/13

06.07.2016

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 4. März 2013, Az: 12 K 279/12, Urteil

§ 4 AO, § 173 Abs 1 Nr 1 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.07.2016, Az. X R 57/13 (REWIS RS 2016, 8694)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 8694

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14 K 69/19

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