Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.10.2023, Az. 4 StR 94/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2023, 9477

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Gegenstand

Ordnungswidrigkeitenverfahren: Fortwirkung des Beschlusses über die Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins


Leitsatz

Die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG wirkt bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins fort, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin nicht erneut beantragt und erlassen werden muss.

Tenor

Die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG wirkt bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins fort, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin nicht erneut beantragt und erlassen werden muss.

Gründe

I.

1

Der Polizeipräsident in [X.] hat am 8. Dezember 2020 gegen den [X.]etroffenen wegen eines fahrlässigen qualifizierten Rotlichtverstoßes in Tateinheit mit fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften einen [X.]ußgeldbescheid erlassen, in dem eine Geldbuße in Höhe von 250 € und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt wurden. Hiergegen hat der [X.]etroffene form- und fristgerecht Einspruch eingelegt. Nach Aussetzung der Hauptverhandlung hat das zuständige [X.] den [X.]etroffenen und seinen Verteidiger unter dem 31. August 2021 zu einem neuen [X.] am 11. Oktober 2021 geladen. Mit [X.]eschluss vom 28. September 2021 ist der [X.]etroffene auf den für ihn von seinem Verteidiger gestellten Antrag hin, in dem er (nur) die Fahrereigenschaft eingeräumt hat, „antragsgemäß vom persönlichen Erscheinen entbunden“ worden.

2

Mit Verfügung vom 7. Oktober 2021 hat das Amtsgericht den [X.] auf den 3. November 2021 verlegt. Die Verteidiger und [X.]etroffenem zugestellte „Terminverlegung“ nebst Ladung enthielt – jenseits des Hinweises, dass bislang kein Vortrag zum Fahrverbot erfolgt und eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren nicht möglich sei, worüber der Verteidiger seinen Mandanten informieren solle – keine inhaltlichen Ausführungen oder Anordnungen. Zum [X.] am 3. November 2021 sind weder der Verteidiger noch der [X.]etroffene erschienen. Das Amtsgericht hat daraufhin den Einspruch im Termin am 3. November 2021 durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Der [X.]etroffene sei dem Termin ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben, obwohl er von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nicht entbunden gewesen sei.

3

Der [X.]etroffene hat gegen das Verwerfungsurteil vom 3. November 2021 form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Mit der Verfahrensrüge wendet sich der [X.]etroffene gegen die Anwendung von § 74 Abs. 2 OWiG im vorliegenden Fall, da er wirksam von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden gewesen sei; das angefochtene Urteil verletze ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.

4

Das [X.] hält die Verfahrensrüge für zulässig. An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde als unbegründet sieht es sich durch den [X.]eschluss des [X.] vom 30. März 2016 (3 Ss OWi 1502/15, [X.], 25) gehindert, dem zufolge die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen auch für den verlegten [X.] gelte. Das [X.] ist demgegenüber der Auffassung, dass sich die Entbindung infolge der Terminsverlegung nicht auf den neuen Termin erstrecke. Es hat die Sache daher mit [X.]eschluss vom 28. Februar 2022 (3 Ws ([X.]) 31/22 – 162 Ss 16/22, [X.], 94) gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG dem [X.]undesgerichtshof zur [X.]eantwortung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

„Führt die Verlegung eines [X.]s dazu, dass die vorangegangene Entbindung des [X.]etroffenen von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens ‚verbraucht‘ ist, so dass sie für den neuen Termin gegebenenfalls neu beantragt und angeordnet werden muss?“

5

Auf Anfrage des [X.] hat das nunmehr zuständige [X.]ayerische Oberste Landesgericht mit [X.]eschluss vom 25. April 2022 (201 AR 44/22) mitgeteilt, an der Rechtsprechung des [X.] festzuhalten, wonach die antragsgemäße Entbindung des [X.]etroffenen nach § 73 Abs. 2 OWiG bei einer bloßen Verlegung des [X.]s regelmäßig fortwirkt.

6

Der [X.] ist der Rechtsauffassung des [X.] beigetreten und beantragt, die [X.] zu verneinen.

II.

7

Die Vorlage ist gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG zulässig.

8

1. Die [X.] betrifft die Reichweite einer gerichtlichen Entbindungserklärung nach § 73 Abs. 2 OWiG und damit eine Rechtsfrage. Diese ist auch entscheidungserheblich. Das [X.] will eine Verfahrensrüge des [X.]etroffenen, mit der er § 74 Abs. 2 OWiG infolge seiner erfolgten Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen als verletzt rügt, für nicht durchgreifend erachten und seine Rechtsbeschwerde verwerfen. Dabei will es in der Sache von tragenden Gründen der Entscheidung des [X.] vom 30. März 2016 zur Auslegung des § 73 Abs. 2 OWiG abweichen. Die dem vorgelagerte Annahme des [X.]s, dass die Verfahrensrüge zulässig und deshalb insoweit eine Entscheidung in der Sache geboten sei, ist nicht willkürlich (vgl. hingegen zu den Vortragserfordernissen bei verweigerter Entbindung [X.], [X.], 52; [X.], [X.], 400, 401; jeweils mwN) und damit für den [X.] im Vorlageverfahren bindend (vgl. [X.]GH, [X.]eschluss vom 16. März 2023 – 4 StR 84/22 Rn. 8 mwN; [X.]eschluss vom 9. Oktober 2018 – 4 [X.], NStZ-RR 2019, 60, 61).

9

2. Die [X.] ist allerdings zu weit gefasst. In ihrer Formulierung durch das [X.] schließt sie hier nicht vorliegende Fallkonstellationen ein, in denen die Reichweite des Entbindungsbeschlusses jeweils besonderer [X.]etrachtung bedürfen könnte. Dies steht etwa bei [X.] in Rede, die sich – ohne eine Terminsverlegung zu begehren – auf die Hauptverhandlung an einem bestimmten Tag beschränken. Eigener [X.]eurteilung bedürfen womöglich auch Gerichtsbeschlüsse, die ungeachtet eines allgemein für „die Hauptverhandlung“ gestellten Antrags den [X.]etroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen an einem mit Datum benannten [X.] entbinden (vgl. hierzu auch [X.], [X.], 471, 472; [X.], [X.], 232, 233 f.). Die zu der Vorlage führende Divergenz erfasst demgegenüber allein die gesetzliche Grundkonstellation eines allgemeinen [X.]s und eines antragsgemäß ergehenden Entbindungsbeschlusses.

Der [X.] fasst daher die [X.] wie folgt:

„Ist die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des [X.]etroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG infolge der Verlegung des [X.]s ‚verbraucht‘, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin gegebenenfalls erneut beantragt und erlassen werden muss?“

III.

Der [X.] entscheidet die [X.] wie aus der [X.]eschlussformel ersichtlich. [X.] bei einer Verlegung des [X.]s ergibt sich aus Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 73 Abs. 2 OWiG.

1. Der Wortlaut des Gesetzes stellt hinsichtlich der Entbindung des [X.]etroffenen von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen auf die Hauptverhandlung, nicht auf anberaumte einzelne Termine ab.

Die in § 73 Abs. 2 OWiG geregelte Entbindung von „dieser Verpflichtung“ knüpft an § 73 Abs. 1 OWiG an, wonach der [X.]etroffene „zum Erscheinen in der Hauptverhandlung“ verpflichtet ist. [X.]eide Regelungen betreffen mithin die ggf. aufzuhebende Erscheinenspflicht des [X.]etroffenen für die gesamte Hauptverhandlung im Sinne von § 229 StPO (vgl. [X.], [X.], 471; OLG [X.]amberg, [X.], 25; [X.], [X.], 258; [X.], Die Anwesenheit des [X.]etroffenen in der Hauptverhandlung, 2016, [X.]; [X.]/[X.], 5. Aufl., § 73 Rn. 15; [X.], [X.], 232, 233; [X.], [X.], 496, 497; vgl. insoweit auch [X.], [X.], 498). Denn anders als etwa § 329 Abs. 1 Satz 1, § 330 Abs. 2 Satz 2 StPO verwendet das Gesetz nicht den [X.]egriff des „[X.]s“ (s. auch §§ 141, 273 Abs. 2 Nr. 3 ZPO zum persönlichen Erscheinen der [X.] in einem Termin zur mündlichen Verhandlung).

Der Gesetzeswortlaut legt damit nahe, dass die Entbindung gemäß § 73 Abs. 2 OWiG grundsätzlich terminübergreifend für die gesamte Hauptverhandlung gilt. Hiervon geht das [X.] bei deren Unterbrechung und Fortsetzung ebenfalls aus (vgl. Ziffer 2. des [X.]). An „der Hauptverhandlung“ als [X.]ezugspunkt für die Entbindung ändert jedoch auch eine Verlegung des (ersten) Termins nichts.

2. [X.] bei Verlegung des [X.]s entspricht dem Normzweck des § 73 Abs. 2 OWiG.

a) Die Vorschrift begrenzt die in § 73 Abs. 1 OWiG normierte Anwesenheitspflicht des [X.]etroffenen, die ihrerseits der Sachaufklärung dient (vgl. OLG [X.]amberg, [X.], 25; [X.]/[X.], 5. Aufl., § 73 Rn. 28 ff.). Mit dieser [X.]egrenzung geht die gesetzliche Anerkennung eines legitimen Interesses des [X.]etroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren einher, eine gerichtliche Überprüfung zu erreichen, ohne dieser selbst beiwohnen zu müssen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird hierdurch gewahrt (vgl. [X.]eck-OKOWiG/[X.], [X.]., § 73 Rn. 1). Ist sein persönliches Erscheinen zur Aufklärung des [X.] oder sonstiger für die Rechtsfolgenbemessung wesentlicher Umstände nicht erforderlich, muss daher das Gericht den [X.]etroffenen auf seinen Antrag hin von der Anwesenheitspflicht entbinden (vgl. [X.]T-Drucks. 13/5418 S. 9; [X.]/[X.] in [X.], OWiG, 18. Aufl., § 73 Rn. 5; [X.]eck-OKOWiG/[X.], [X.]., § 73 Rn. 1; [X.]/[X.], 5. Aufl., § 73 Rn. 15; [X.], [X.] 2021, 113). In der Folge kann das Gericht den Entbindungsbeschluss von sich aus nur aufheben, wenn sich die Anwesenheit des [X.]etroffenen in der Hauptverhandlung über die von § 73 Abs. 2 OWiG gezogenen Grenzen hinaus doch als zur Wahrheitsfindung notwendig erweist (vgl. [X.]/[X.], OWiG, 7. Aufl., § 73 Rn. 10; [X.]/[X.], 5. Aufl., § 73 Rn. 35).

b) Die Entbindungsvoraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG werden durch die Verlegung des [X.]s als solche nicht berührt. Mit einer bloßen Terminsverlegung – gleichgültig ob als Umladung oder in Form der Aufhebung und Neubestimmung des Termins – als rein formalem Akt geht auch grundsätzlich kein Erklärungswert einher, dass sich die zur Entbindung des [X.]etroffenen geeignete Sachlage geändert habe. Vielmehr werden die prozessualen Voraussetzungen für die Entbindung des [X.]etroffenen, wie etwa in Fällen einer Verhinderung des Verteidigers oder des Gerichts, regelmäßig weiterhin vorliegen (vgl. [X.], Die Anwesenheit des [X.]etroffenen in der Hauptverhandlung, 2016, [X.]; [X.], [X.], 496, 497). Dies spricht für die Fortwirkung der gebundenen Entscheidung des Gerichts.

Dessen Entbindungsbeschluss betrifft zudem als prozessleitende Maßnahme ungeachtet der Terminsverlegung dieselbe in dem Verfahren durchzuführende Hauptverhandlung (a.A. [X.], NStZ-RR 2023, 292). Anders als nach einer Aussetzung findet keine neue Hauptverhandlung im Rechtssinne statt. Erst eine Aussetzung hat zudem – wie auch § 265 Abs. 4 StPO nahelegt – regelmäßig ihren Grund in einer veränderten Sachlage, womit für diesen Fall der „Verbrauch“ des Entbindungsbeschlusses (und des ihm zugrunde liegenden [X.]es) begründet werden kann (vgl. insofern KG, [X.]eschluss vom 17. November 2017 – 3 Ws ([X.]) 318/17, juris Rn. 3; KG, [X.] 2017, 714; [X.], [X.], 342; OLG [X.]randenburg, [X.], 276; [X.], [X.] 2006, 522; [X.]urhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., Rn. 1582; [X.]/[X.] in [X.], OWiG, 18. Aufl., § 73 Rn. 5; s. zudem zur Zurückverweisung OLG [X.]amberg, [X.], 25, 26). Die Verlegung des [X.]s ist hingegen keine der Aussetzung vergleichbare Zäsur, welche die Entbindungsanordnung entfallen ließe.

c) Mit deren Fortwirkung bei einer Terminsverlegung ist auch den [X.]elangen des [X.]etroffenen Rechnung getragen, sollte er – vom [X.] als „empirischer Umstand“ bezeichnet (a.A. auch insofern [X.]ayObLG, [X.]eschluss vom 25. April 2022, 201 AR 44/22) – „in aller Regel ein Interesse an der Teilnahme an der Hauptverhandlung“ haben. Denn seine Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen lässt sein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung unberührt. Der entbundene [X.]etroffene darf gleichwohl an dieser teilnehmen und muss zu ihr geladen werden (vgl. [X.], [X.], 258; [X.]eckOK-OWiG/[X.], [X.]., § 73 Rn. 3; [X.], [X.], 413, 416).

Gibt der [X.]etroffene trotz antragsgemäßer Entbindung zu erkennen, dass er an der Hauptverhandlung teilnehmen will, und ist er hieran ohne eigenes Verschulden gehindert, darf das Gericht auch nicht in seiner Abwesenheit nach § 74 Abs. 1 OWiG verhandeln (vgl. KG, [X.]eschluss vom 17. März 2022 – 3 Ws ([X.]) 37/22, juris Rn. 9). Ist der [X.]etroffene in einem solchen Fall außerstande, das Gericht rechtzeitig zu verständigen – „etwa wenn er in einem Verkehrsstau auf der Autobahn steckenbleibt“ ([X.]T-Drucks. 13/8655 [X.]) –, kann er gegen das Abwesenheitsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG ebenso um Wiedereinsetzung nachsuchen wie derjenige, gegen den mangels Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen ein Verwerfungsurteil ergangen ist (vgl. § 74 Abs. 4 OWiG). Den [X.] zurücknehmen kann der [X.]etroffene vor der Hauptverhandlung ohnehin (vgl. [X.], [X.], 172).

d) Über eine Entbindung nach § 73 Abs. 2 OWiG und deren Folgen ist der [X.]etroffene darüber hinaus gemäß § 74 Abs. 3 OWiG in der Ladung zur Hauptverhandlung zu belehren. Die insofern vorgeschriebene Transparenz, die zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und aus Gründen der [X.] erforderlich ist, spricht ebenfalls gegen die vom [X.] vertretene Rechtsansicht.

Denn die weitere Ladung des [X.]etroffenen bei einer Terminsverlegung muss die [X.]elehrungen nach § 74 Abs. 3 OWiG erneut enthalten (vgl. [X.], [X.], 43; [X.], [X.], 179; [X.]eckOK-OWiG/[X.], [X.]., § 74 Rn. 22; [X.]/[X.], 5. Aufl., § 74 Rn. 29). Sie sind auch bei einem von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbundenen [X.]etroffenen gefordert und sinnvoll, um ihm die Konsequenzen seines [X.] zu verdeutlichen. Diese darf er aber mangels Änderung der Sachlage bei einer bloßen Terminsverlegung in einer Abwesenheitsverhandlung (§ 74 Abs. 1 OWiG) sehen, wie sie für den [X.] auch Gegenstand der [X.]elehrung ist. Daher erscheint es unter dem Gesichtspunkt der [X.] zumindest fragwürdig, hier von einem – nicht hinweispflichtigen – „Verbrauch“ eines allgemeinen Entbindungsbeschlusses ausgehen zu wollen.

3. Die Entstehungsgeschichte von § 73 Abs. 2 OWiG steht der Auslegung, dass der Entbindungsbeschluss bei einer Terminsverlegung fortwirkt, nicht entgegen. Denn sie spricht jedenfalls nicht für einen „Verbrauch“ der Entbindung in diesem Fall.

a) Ihre gegenwärtige Fassung haben die §§ 73, 74 OWiG durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und anderer Gesetze vom 26. Januar 1998 ([X.]G[X.]l. I S. 156) erhalten. Nach der Vorgängerregelung war der [X.]etroffene grundsätzlich nicht verpflichtet, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, das Gericht konnte jedoch sein persönliches Erscheinen anordnen. Das grundlegende Reformmotiv des Gesetzgebers bestand darin, die Justiz durch rechtsstaatlich vertretbare Maßnahmen zur Verfahrensvereinfachung zu entlasten (vgl. [X.]T-Drucks. 13/5418 S. 1; [X.]R-Drucks. 392/96 S. 1). Die bis dahin für rechtliche Auseinandersetzungen anfällige Frage, ob die Anordnung des persönlichen Erscheinens des [X.]etroffenen gerechtfertigt war oder nicht, sollte aus Gründen der Rechtsklarheit und zur Entlastung der Gerichte entfallen, indem die grundsätzliche Anwesenheitspflicht des [X.]etroffenen in der Hauptverhandlung eingeführt wurde ([X.]T-Drucks. 13/5418 S. 9).

b) Eine Aussage zur Reichweite des nach § 73 Abs. 2 OWiG ergehenden Entbindungsbeschlusses bei einer späteren Verlegung des [X.]s ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Allerdings verfängt auf dem dargestellten Hintergrund der Gesetzesänderung auch das Argument des [X.]s nicht, Dauer und Reichweite der Entbindung nach § 73 Abs. 2 OWiG seien als Ausnahme von der Anwesenheitspflicht eng auszulegen.

Denn die Gesetzesmaterialien (vgl. [X.]T-Drucks. 13/5418 S. 9) lassen erkennen, dass der Gesetzgeber in erster Linie aus pragmatischen – nicht etwa aus dogmatischen – Erwägungen heraus eine Anwesenheitspflicht des [X.]etroffenen mit einer Entbindungsmöglichkeit vorgesehen hat. Letztere ist durch Gründe der Verhältnismäßigkeit bedingt. Dies ergibt sich auch aus der umgesetzten Empfehlung des Rechtsausschusses, die notwendige Anwesenheit des [X.]etroffenen auf die Aufklärung „wesentlicher Gesichtspunkte“ des Sachverhalts zu begrenzen (vgl. [X.]T-Drucks. 13/8655 [X.]; s. ferner [X.]eckOK-OWiG/[X.], [X.]., § 73 Rn. 1). Die insoweit gewählte Regelungstechnik ist demnach weniger als ein geschlossenes Regel-Ausnahme-System denn als eine mögliche Ausgestaltung des erforderlichen Interessenausgleichs zwischen den [X.]elangen der Rechtspflege und des [X.]etroffenen zu sehen. Aufgrund dessen legt das Normgefüge nicht nahe, dass der Regelungsgehalt von § 73 Abs. 2 OWiG eng zu fassen ist (ebenso [X.], [X.], 232, 233).

4. Aus den vorstehenden Gründen ist die (neugefasste) [X.] wie aus der [X.]eschlussformel ersichtlich zu beantworten. Hierfür muss der [X.] nicht entscheiden, ob im Einzelfall – etwa zur Verhinderung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens bei einer evident veränderten Sachlage – ausnahmsweise die Wirkung des Entbindungsbeschlusses auch im Zuge einer Terminsverlegung entfallen kann.

[X.]     

      

[X.]artel     

      

Rommel

      

Scheuß     

      

Momsen-Pflanz     

      

Meta

4 StR 94/22

10.10.2023

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend KG Berlin, 28. Februar 2022, Az: 3 Ws (B) 31/22, Vorlagebeschluss

§ 46 OWiG, § 73 Abs 2 OWiG, § 79 Abs 3 S 1 OWiG, § 121 Abs 2 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.10.2023, Az. 4 StR 94/22 (REWIS RS 2023, 9477)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9477

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