Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.07.2020, Az. 4 StR 603/19

4. Strafsenat | REWIS RS 2020, 11350

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[X.]:[X.]:B[X.]H:2020:300720U4STR603.19.0

BUN[X.]S[X.]ERICHTSHOF

IM NAMEN [X.]S VOLKES

URTEIL
4 StR 603/19

vom
30. Juli
2020
in der Strafsache
gegen

1.

2.

wegen
des Verdachts der Misshandlung eines Schutzbefohlenen u.a.

-
2
-
Der 4.
Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 30.
Juli
2020, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende
[X.]in
am [X.]
Sost-Scheible,

[X.] am [X.]
Bender,
Hoch,
Dr. Sturm,
Rommel

als beisitzende [X.],

Oberstaatsanwältin beim [X.]

-
in der Verhandlung -,
Staatsanwalt

-
bei der Verkündung -

als Vertreter
des [X.]s,

Rechtsanwalt

-
in der Verhandlung -

als Verteidiger
der Angeklagten T.

H.

,

Rechtsanwalt

-
in der Verhandlung -

als Verteidiger des Angeklagten M.

H.

,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin
der [X.]eschäftsstelle,

für Recht erkannt:
-
3
-
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 9.
Januar 2019 mit den [X.] aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere [X.] des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen
[X.]ründe:
Das [X.] hat die Angeklagten vom Vorwurf der schweren Miss-handlung ihres am 2.
September 2016 geborenen [X.] L.

H.


225
Abs.
1 Nr.
1, Abs.
3 Nr.
2 St[X.]B)
aus tatsächlichen [X.]ründen freigesprochen. Die hiergegen gerichteten, vom [X.] vertretenen
Revisionen der Staatsanwaltschaft haben mit der Sachrüge Erfolg.
I.
1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legt der Angeklagten T.

H.

zur Last, in der [X.] bis zum 1.
November 2016
an drei nicht näher bestimmbaren [X.]punkten dem Säugling erhebliche Verlet-zungen, nämlich zahlreiche Knochenbrüche sowie ein Hämatom am Auge zu-gefügt zu haben. Der Angeklagte M.

H.

habe, obwohl ihm die Misshand-
1
2
-
4
-
lungen seines [X.] nicht verborgen geblieben seien, nichts veranlasst, um (weiter)
drohende Übergriffe von dem Kind abzuwenden.
2. Nach den Feststellungen des [X.] wurde L.

H.

eine
Woche nach seiner [X.]eburt aus dem Krankenhaus
entlassen. In der Folgezeit
wurde er
weit überwiegend allein durch seine Mutter, die Angeklagte T.

H.

,
betreut. Sein Vater, der Angeklagte M.

H.

,
arbeitete viel
und lange. Wenn er zu einzelnen seltenen Anlässen auf das Kind aufpasste, war die Angeklagte immer in einem Nebenraum. Er war zu keinem [X.]punkt mit L.

allein. Einmal passten die [X.]roßeltern väterlicherseits auf L.

auf;
zweimal übernachtete der Säugling bei den [X.]roßeltern mütterlicherseits. Die Zeugin
S.

, die [X.]roßmutter mütterlicherseits, hütete das Kind zudem tags-
über. Mehrfach
wöchentlich
passte auch die Schwägerin des Angeklagten M.

H.

, die Zeugin I.

H.

, fünf bis zehn Minuten auf L.

auf, während
die Angeklagte den
Hund der Familie ausführte. Außer den genannten [X.] war niemand mit L.

allein. Die die Angeklagten betreuende Hebamme be-
merkte erstmals am 26.
Oktober 2016 äußerlich sichtbare Auffälligkeiten, näm-lich einen

einer eingeschränkten Beweglichkeit
des linken Armes führte dies zu einer ärztlichen Untersuchung am 1.
November 2016 in dem kinderärzt-lichen Notdienst der Kinder-
und Jugendklinik in [X.].

. Die hierbei
ge-
fertigten Röntgenaufnahmen ergaben mindestens 14 Frakturen
an allen vier Extremitäten sowie an der sechsten, siebten und achten
Rippe links. Nach dem [X.]utachten der Sachverständigen wurden die nach außen nicht erkennbaren Verletzungen dem [X.]eschädigten zu mindestens zwei unterschiedlichen [X.]-punkten zugefügt. Nach
dem [X.]utachten eines weiteren
Sachverständigen be-3
-
5
-
ruhten sie auf einer nicht-akzidentiellen stumpfen [X.]ewalteinwirkung. Zwar sei die Diskrepanz zwischen den zahlreichen Frakturen einerseits und den [X.] äußeren Anzeichen auffällig. Hierfür gebe es aber zwei Erklärungsansätze:
Zum einen sei aus Obduktionen von Säuglingen bekannt, dass es bei diesen zu [X.] kommen könne, die äußerlich nicht wahrnehmbar seien. Zum anderen komme in Betracht, dass die Verletzungen von einer Person zu-gefügt worden s. Hierfür sei erhebliches Fachwis-sen erforderlich.
3. Das [X.] hat noch festzustellen
vermocht, dass L.

wann genau die Verlet-zungen entstanden, auch nicht, um wie viele einzelne Vorgänge
es sich [X.]. Es hat sich nicht davon überzeugen können, dass die die Vorwürfe bestrei-tenden Angeklagten die Taten begangen haben: Die [X.] hat
eine Ak-tivtäterschaft der Angeklagten T.

H.

für wahrscheinlich
gehalten, habe aber

nicht überwinden können, da weitere Personen ernsthaft als Täter in Frage kommen würden.
II.
Die den Freisprüchen zugrundeliegende
Beweiswürdigung hält rechtli-cher Überprüfung nicht stand.
1.
Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§
261 [X.]).
Ihm obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der [X.] ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bil-4
5
6
-
6
-
den.
Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrich-ter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Zudem muss das Urteil erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die
Entscheidung zu [X.]unsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu be-einflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet werden, sondern müssen in eine umfassende [X.]esamtwürdigung eingestellt worden sein (st. Rspr.; vgl. die Nachweise bei Brause, [X.], 329, 330
f.; Meyer-[X.]oßner/[X.], [X.], 63.
Aufl., §
337 Rn.
26
ff.). Schließlich unterliegt der revisionsgerichtlichen Überprüfung auch, ob der Tatrichter überspannte Anfor-derungen an die für die Verurteilung erforderliche [X.]ewissheit gestellt hat (st. Rspr.; vgl. B[X.]H, Urteile
vom 6.
Dezember 2012

4
StR 360/12, [X.], 180;
vom
5.
Dezember
2013

4
StR 371/13, jew.
mwN).
2.
Daran gemessen weist die Beweiswürdigung des [X.] durch-greifende Rechtsfehler zum Vorteil der Angeklagten T.

H.

auf; das
gilt bereits für die Verneinung einer Aktivtäterschaft dieser Angeklagten.
a) Soweit das [X.] gemeint
hat, die Zeugin I.

H.

komme
ernsthaft als Alternativtäterin in Frage, enthält
das Urteil einen durchgreifenden Widerspruch. Die Zeugin hat unter anderem bekundet, sie habe regelmäßig auf
L.

aufgepasst, wenn die Angeklagte ihren
Hund ausgeführt habe. Der Säug-

be ihn nie selbst gewickelt, sei aber dabei gewesen, wenn die Angeklagte L.

gebadet habe. Auch dabei habe es keine Besonderheiten gegeben. Sie, die Zeugin, habe keine Erklärung
für die Verletzungen. Das [X.] hat die 7
8
-
7
-

aber bleibt kein Raum für eine tatsachengestützte Annahme, die Zeugin komme als Alternativtäterin in Betracht.
Zudem hat die [X.] einen guten Ein-druck von der Zeugin gewonnen; sie
hat keinen [X.]rund auszumachen
vermocht, der die
Zeugin
veranlasst haben könnte, das Kind in den wenigen Minuten, in denen es jeweils bei ihr war, zu misshandeln. Ihre insoweit die Beweiswürdi-gung abschließende Erwägung, Kindesmisshandlungen würden gerichtsbe-kannt auch ohne nach außen erkennbaren [X.]rund vorkommen, verbleibt im
Be-reich einer rein abstrakten Spekulation, welche der Bildung einer tatsachenge-stützten richterlichen Überzeugung nicht entgegensteht (vgl. B[X.]H, Urteil vom 30. März 2004

1 [X.], [X.], 238, 240; Meyer-[X.]oßner/[X.], [X.], 63. Aufl., § 261 Rn.
2 mwN).
b) Soweit das [X.] eine Alternativtäterschaft der Zeugin
S.

, der Mutter
der Angeklagten T.

H.

,
in Betracht
gezo-
gen
hat, stützt
es sich ebenfalls nur auf bloße Vermutungen, für die es keine tatsächlichen Anhaltspunkte anzuführen vermocht hat. Das gilt insbesondere für ihre Erwägung, dass die
Zeugin aufgrund ihrer beruflichen Expertise als staatlich examinierte [X.]esundheits-
und Krankenpflegerin genau gewusst habe, wie sie äußerlich nicht sichtbare Verletzungen herbeiführen kön-

in Betracht, dass die Zeugin S.

L.

miss-
handelt habe, um bei der Angeklagten eine durch gesundheitliche Beeinträchti-gungen
des Kindes hervorgerufene Hilflosigkeit oder zumindest Hilfsbedürftig-keit herbeizuführen
und sich so
bei
ihr unentbehrlich zu machen. Wieso die Zeugin dieses

ohnehin spekulativ anmutende

Ziel ausgerechnet durch die Zufügung äußerlich nicht sichtbarer Verletzungen verfolgt haben soll, hat
das [X.] nicht
erläutert. Auch hat es sich nicht damit auseinandergesetzt, dass die Angeklagte selbst
über eine fast abgeschlossene Ausbildung zur me-9
-
8
-
dizinischen Fachangestellten in einer orthopädischen Praxis verfügt. Ohnehin wurde die Zeugin, die nach ihrer von der [X.] insoweit als glaubhaft bewerteten Aussage

gemeinsam mit ihrem Ehemann vielfach von der Angeklagten von sich aus zur Unterstützung hinzugezogen.
c) Für
ihre weitere Erwägung, dass sie auch den Angeklagten M.

H.

als (aktiver)
Alternativtäter nicht ausschließen könne, hat
die [X.]
keine tatsächlichen
Anhaltspunkte angeführt. Sie hat
insoweit lediglich den

aus ihrer Sicht

gerade gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechen-den Umstand mitgeteilt, dass dieser nie mit dem Kind allein in der Wohnung war.
d) Schließlich fehlt es an der gebotenen [X.]esamtwürdigung aller für und gegen die Angeklagte T.

H.

sprechenden Umstände. Die Beweis-
würdigung der [X.] lässt nicht erkennen, dass sich das [X.] des Umstandes bewusst war, dass einzelne Belastungsindizien, die für sich genommen zum Beweis der Täterschaft nicht ausreichen, doch in ihrer [X.]e-samtheit die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung des Tatgerichts begründen können (B[X.]H, Urteil vom 2. September 2010, 102; vgl. weiter B[X.]H, Urteile vom 17. September 1986

2 [X.], B[X.]HR [X.] § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 1; vom 5. November 2014

1 [X.], [X.], 83, 85; vom 6. Juni 2018

2 StR 20/18, NStZ-RR 2018, 289; vom 19. Dezember 2018

2 [X.]). Es hat die gegen die Angeklagte sprechenden Umstände vielmehr isoliert abgehandelt und ausge-dafür sprächen, dass die Angeklagte dem Kind
die Verletzungen zugefügt habe. Zahlreichen Indizien hat
das [X.] wegen möglicher unverfänglicher Erklärungen al-10
11
-
9
-
lein keinen Beweiswert beigemessen. Das gilt hier insbesondere für das wie-derholte Lügen der Angeklagten, die Anstiftung ihres Schwiegervaters, eine falsche eidesstattliche Erklärung gegenüber dem Jugendamt abzugeben,
sowie das
Vorbringen immer anderer, von der sachverständig
beratenen [X.] ausgeschlossener Erklärungsversuche
für die Verletzungen. Diese
Umstände
hat die [X.] zudem rechtsfehlerhaft nur bei der Prüfung
einer Unterlas-sungstäterschaft der Angeklagten erörtert.
e) Der Senat lässt mit

dahinstehen, ob
die Beweiswürdigung auch deshalb rechtsfehlerhaft ist, weil das [X.] an die zur Verurteilung der Angeklagten erforderliche [X.]ewissheit überspannte Anforderungen gestellt hat
(vgl. B[X.]H, Urteil vom 30. März 2004

1 [X.], [X.], 238, 240). Es ist weder im Hinblick auf den [X.] noch sonst geboten, zu
[X.]unsten der
Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. etwa B[X.]H, Urteile vom 19.
Dezember 2018

2
StR 291/18; vom 22.
September 2016

2
StR 27/16).
3.
Danach kann auch der Freispruch des Angeklagten M.

H.

keinen Bestand haben. Er steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem Frei-spruch seiner Ehefrau. Da sich die Erwägungen, mit denen das [X.] eine Aktivtäterschaft der Angeklagten
T.

H.

ausgeschlossen hat, als
durchgreifend rechtsfehlerhaft erweisen, kann auch der Freispruch des Ange-klagten nicht bestehen bleiben. Vielmehr kann eine Unterlassungstäterschaft dieses Angeklagten sinnvoll und
umfassend nur geprüft werden, wenn rechts-fehlerfrei über die Frage einer Täterschaft der Angeklagten T.

H.

ent-schieden worden ist. Allein hierauf bezieht sich der gegen ihn erhobene Vorwurf 12
13
-
10
-
der Anklage, sich durch Unterlassen der
schweren Misshandlung
eines Schutz-befohlenen schuldig gemacht zu haben, indem er die zum Schutze seines [X.] vor (weiteren) Übergriffen
seiner Ehefrau erforderlichen Maßnahmen unter-lassen habe.

Sost-Scheible

Bender

Hoch

RiB[X.]H Dr. Sturm

Rommel

befindet sich
im

Urlaub und ist daher

gehindert zu unter-

schreiben.

Sost-Scheible

Vorinstanz:
[X.], L[X.], 09.01.2019 -
413 [X.]

Meta

4 StR 603/19

30.07.2020

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.07.2020, Az. 4 StR 603/19 (REWIS RS 2020, 11350)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 11350

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 StR 327/14

2 StR 20/18

2 StR 247/18

4 StR 603/19

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