Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.06.2023, Az. IX B 75/22

9. Senat | REWIS RS 2023, 3567

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Gegenstand

Terminänderung bei infektionsschutzrechtlicher Isolationspflicht (Selbsttest)


Leitsatz

NV: Zu den erheblichen Gründen i.S. des § 227 Abs. 1 ZPO gehört auch die Verpflichtung zur Absonderung in häuslicher Quarantäne aufgrund der Corona-Pandemie. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Kläger nicht zumutbar auf eine anderweitige Vertretung verwiesen werden kann (Anschluss an BSG, Beschlüsse vom 20.04.2021 - B 5 R 18/21 B, juris und vom 02.08.2022 - B 7 AS 10/22 B, juris).

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 22.08.2022 - 4 K 77/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet. Das Finanzgericht ([X.]) hat in Abwesenheit des [X.] und Beschwerdeführers (Kläger) verhandelt und entschieden, obwohl es den Termin zur mündlichen Verhandlung hätte verlegen müssen. Es hat damit den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör verletzt. Das angefochtene Urteil konnte deshalb keinen Bestand haben. Der Senat macht von der Möglichkeit der Zurückverweisung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) Gebrauch.

2

1. a) Einem Verfahrensbeteiligten wird rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, §§ 96 Abs. 2, 119 Nr. 3 [X.]O) versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl er einen Antrag auf Terminsverlegung gemäß § 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 227 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat. Das [X.] ist in einem solchen Fall verpflichtet, den anberaumten Verhandlungstermin zu verlegen (z.B. Senatsbeschluss vom 22.10.2021 - IX B 15/21, [X.], 29).

3

b) Nach § 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann das Gericht einen Termin aus erheblichen Gründen vor seiner Durchführung aufheben oder (unter Bestimmung eines neuen Termins) verlegen. Welche Gründe als erheblich anzusehen sind, richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls. Zu den erheblichen Gründen i.S. des § 227 ZPO gehört auch die Verpflichtung zur Absonderung in häuslicher [X.] aufgrund der Corona-Pandemie. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Kläger nicht zumutbar auf eine anderweitige Vertretung verwiesen werden kann ([X.] -BSG-, Beschlüsse vom 20.04.2021 - B 5 R 18/21 B, juris und vom 02.08.2022 - B 7 AS 10/22 B, juris). Der Senat schließt sich der Auffassung des BSG an.

4

c) Auf Verlangen des Vorsitzenden sind die erheblichen Gründe glaubhaft zu machen (§ 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO). Die Glaubhaftmachung erfordert nicht den vollen Beweis, wohl aber die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Umstände, aus denen der erhebliche Grund abgeleitet wird, tatsächlich vorliegen. Die erhöhten Anforderungen an die Darlegung eines "in letzter Minute" geltend gemachten erheblichen Grundes, insbesondere bei kurzfristiger Erkrankung eines Beteiligten oder seines Prozessvertreters (vgl. Senatsbeschluss vom 10.03.2005 - IX B 171/03, [X.] 2005, 1578), sind auf den Fall einer rechtlichen Unmöglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wegen einer infektionsschutzrechtlichen Pflicht zur Absonderung nicht anwendbar (vgl. Verwaltungsgerichtshof [X.], Beschluss vom 25.07.2022 - A 9 S 696/22, juris, Rz 7).

5

2. Nach diesen Grundsätzen hätte das [X.] den auf Montag, den 22.08.2022 um 11:00 Uhr anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung aufheben müssen, denn der Kläger war aus rechtlichen Gründen ([X.]) daran gehindert, den Termin wahrzunehmen.

6

a) Mit [X.], den 21.08.2022, hat der im finanzgerichtlichen Verfahren nicht vertretene Kläger um Aufhebung und Verlegung des Termins gebeten und zur Begründung ausgeführt, es hätten sich bei ihm am Vortag (Samstag, 20.08.2022) Symptome einer Grippe (Husten, Fieber und Halsschmerzen) eingestellt. Er habe deshalb am Sonntag einen [X.] durchgeführt, der positiv ausgefallen sei. Er sei danach verpflichtet, sich in den nächsten fünf Tagen zu isolieren und könne deshalb an der Verhandlung nicht teilnehmen.

7

b) Der Einzelrichter des [X.] hat den Kläger am Verhandlungstag schriftlich aufgefordert, "die Gründe für die Verlegung entsprechend durch einen personifizierten [X.] glaubhaft zu machen". Das Schreiben ist dem Kläger am Verhandlungstag um kurz nach 8:00 Uhr per Fax übermittelt worden. Bei Eröffnung der mündlichen Verhandlung um 11:00 Uhr erschien für den Kläger niemand. Das Gericht wartete sodann bis 11:20 Uhr ab, ob noch eine Äußerung des [X.] eingehen würde und trat dann nach erneutem Aufruf in die mündliche Verhandlung ein. Der Kläger war mit der Ladung gemäß § 91 Abs. 2 [X.]O darauf hingewiesen worden, dass auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden könne. Die Sitzung endete mit dem Beschluss, dass eine Entscheidung zugestellt werden solle. Am 23.08.2022 übergab der Einzelrichter das von ihm um 11:15 Uhr elektronisch unterzeichnete Urteil der Geschäftsstelle.

8

c) Der Kläger war aus Rechtsgründen gehindert, seine häusliche Umgebung zu verlassen und an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Rechtsgrundlage ist die Allgemeinverfügung des [X.] über die Anordnung zur Absonderung (Isolation) vom 26.07.2022 (gültig ab [X.], abrufbar unter: www.schleswig-flensburg.de/Aktuelles/Bekanntmachungen/Archiv/). Die anordnende Wirkung trat u.a. für Personen ein, bei denen ein selbst vorgenommener SARS-CoV-2 Antigenschnelltest ("Selbsttest") auf das Vorhandensein von SARS-CoV-2-Viren ein positives Ergebnis aufweist. Weitere Voraussetzungen waren nicht erforderlich. Insbesondere verlangte die anordnende Behörde keinerlei Nachweis oder Glaubhaftmachung.

9

Personen, die der [X.] unterlagen, waren verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnisnahme auf direktem Weg in ihre Häuslichkeit zu begeben und sich dort für fünf Tage oder bis zum Vorliegen eines negativen PCR-Tests aufzuhalten. Sie durften ihre Häuslichkeit innerhalb dieser Frist nur einmal verlassen, um das Testergebnis durch eine molekularbiologische Untersuchung in einem Testzentrum, einer Teststation oder bei einer Ärztin oder einem Arzt bestätigen zu lassen.

d) Die Allgemeinverfügung des [X.] entfaltet [X.]. Das bedeutet, dass ihre rechtliche Richtigkeit von anderen (sachlich für den Infektionsschutz nicht zuständigen) Behörden und Gerichten nicht überprüft oder infrage gestellt werden darf. An den Nachweis der rechtlichen Verhinderung wegen einer [X.] dürfen andere Behörden auch keine strengeren Anforderungen stellen als die anordnende Behörde. Die rechtliche Verhinderung des [X.] bedurfte deshalb keiner weiteren Glaubhaftmachung.

e) Das Verlangen des [X.], einen personifizierten [X.] beizubringen, wäre allenfalls im Hinblick auf eine krankheitsbedingte Verhinderung des [X.] von Belang gewesen. Darum ging es jedoch nicht. Der Kläger hat nicht geltend gemacht, wegen einer akuten Erkrankung an der Verhandlung nicht teilnehmen zu können, sondern aus Rechtsgründen an der Teilnahme gehindert zu sein. Im Übrigen war das Verlangen auch unerfüllbar. Soweit dem [X.] ein personifizierter Schnelltest genügt hätte, war das Verlangen aus rechtlichen Gründen unerfüllbar, denn der Kläger durfte nach positivem Selbsttest die eigene Häuslichkeit während der [X.] nur einmalig und nur für die Kontrolltestung verlassen. Dazu war aber eine molekularbiologische Untersuchung (z.B. PCR-Test) erforderlich, und ein [X.] war innerhalb von drei Stunden aus tatsächlichen Gründen nicht erreichbar. Das ist allgemein bekannt und bedarf keiner tatsächlichen Feststellungen. Nicht zuletzt hätte der Kläger, der in der Nähe von [X.] wohnt, die mündliche Verhandlung in [X.] nach Durchführung eines PCR-Tests ohnehin aus Zeitgründen nicht mehr erreichen können. Eine Vertretung des [X.] in der mündlichen Verhandlung konnte ebenfalls nicht erwartet werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IX B 75/22

14.06.2023

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, 22. August 2022, Az: 4 K 77/18, Urteil

§ 155 S 1 FGO, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 2 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, § 96 Abs 2 FGO, § 119 Nr 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.06.2023, Az. IX B 75/22 (REWIS RS 2023, 3567)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3567

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