Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.01.2012, Az. XII ZR 15/10

12. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 10006

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Gegenstand

Kindesunterhalt: Selbstbehalt gegenüber volljährigen Kindern


Leitsatz

Es ist nicht zu beanstanden, einem Elternteil gegenüber dem Unterhaltsanspruch seines erwachsenen Kindes, das seine bereits erlangte wirtschaftliche Selbstständigkeit wieder verloren hat, einen ebenso erhöhten angemessenen Selbstbehalt zu belassen, wie ihn die unterhaltsrechtlichen Tabellen und Leitlinien für den Elternunterhalt vorsehen.

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des 25. Zivilsenats des [X.] vom 19. Januar 2010 wird auf Kosten des [X.] zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger, ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe, gewährt der 1958 geborenen, inzwischen erwerbsunfähigen Tochter des Beklagten seit Februar 2007 fortlaufend Eingliederungshilfe. Er nimmt den 1935 geborenen Beklagten, der als Rentner über Einkünfte von 1.372,24 € und seit Juli 2009 von 1.408,21 € verfügt, aus übergegangenem Recht gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII auf rückständigen und laufenden Unterhalt in Höhe von monatlich 26 € seit 1. März 2007 und in Höhe von 27,69 € seit 1. Januar 2009 in Anspruch.

2

Die Vorinstanzen haben die Klage unter der Annahme abgewiesen, dass dem Beklagten ein angemessener Selbstbehalt von 1.400 € verbleiben müsse. Dagegen wendet sich der Kläger mit der zugelassenen Revision, mit der er den Unterhaltsanspruch weiter verfolgt.

Entscheidungsgründe

3

Die zulässige Revision hat keinen Erfolg.

4

Für das Verfahren ist gemäß Art. 111 Abs. 1 [X.] noch das bis Ende August 2009 geltende Prozessrecht anzuwenden, weil der Rechtsstreit vor diesem [X.]punkt eingeleitet wurde (vgl. Senatsbeschluss vom 3. November 2010 - [X.] 197/10 - FamRZ 2011, 100).

I.

5

Das [X.] hat zur Begründung seiner in [X.], 1739 veröffentlichten Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Ein Unterhaltsanspruch scheitere jedenfalls daran, dass der [X.] nicht leistungsfähig im Sinne von § 1603 Abs. 1 BGB sei. Zwar ergebe sich die Leistungsunfähigkeit nicht schon aus dem konkreten Bedarf des [X.]n. Auch ergebe sich bei Ansatz eines angemessenen Selbstbehalts von 1.100 € gegenüber volljährigen Kindern gemäß der [X.] Tabelle bzw. den Leitlinien des [X.]s Köln und dem tatsächlichen Renteneinkommen des [X.]n selbst bei Abzug krankheits- und altersbedingter Mehrkosten immer noch eine Differenz von rund 100 €, so dass der [X.] die verlangten Unterhaltsbeträge durchaus zahlen könnte. In Fällen wie dem vorliegenden - der Unterhaltspflichtige befinde sich seit mehreren Jahren im Rentenalter - sei jedoch ein pauschaler Selbstbehalt von 1.400 € anzusetzen, wie er auch im Rahmen des Elternunterhalts Anwendung finde.

6

§ 1603 Abs. 1 BGB gewährleiste jedem Unterhaltspflichtigen vorrangig die Sicherung seines eigenen angemessenen Unterhalts; ihm sollten grundsätzlich die Mittel belassen bleiben, die er zur Deckung des seiner Lebensstellung entsprechenden allgemeinen Bedarfs benötige. Die Bemessung im konkreten Einzelfall obliege dem Tatrichter, der sich dabei an den in den Tabellen und Leitlinien angeführten Erfahrungswerten orientieren könne. Die [X.] Tabelle sowie die Leitlinien des erkennenden [X.]s Köln und anderer [X.]e wiesen den Selbstbehalt eines Elternteils gegenüber seinem dem Grunde nach unterhaltsberechtigten Kind in unterschiedlicher Höhe aus. Er betrage gegenüber minderjährigen sowie volljährigen privilegierten Kindern bei nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen 770 €, bei Erwerbstätigen 900 € (notwendiger Selbstbehalt), gegenüber den übrigen Kindern jedoch in der Regel mindestens 1.100 € (angemessener Selbstbehalt). Demgegenüber betrage der angemessene Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen gegenüber unterhaltsberechtigten Eltern mindestens 1.400 € monatlich zuzüglich der Hälfte des darüber hinausgehenden Einkommens. Diese Regelung gehe zurück auf die Rechtsprechung des [X.], wonach beim Elternunterhalt andere Lebensverhältnisse zugrunde lägen als in den übrigen Selbstbehaltsfällen. Zwar müssten Eltern damit rechnen, ihren Kindern auch über das 18. Lebensjahr hinaus bis zum Abschluss einer Berufsausbildung bzw. der wirtschaftlichen Selbständigkeit Unterhalt zu gewähren. Danach gelte das jedoch nicht mehr, weil das Kind eine eigene Lebensstellung erlangt habe, also nicht mehr - wie das seine Ausbildung betreibende Kind - seine Lebensstellung noch von der des Pflichtigen ableite. Das entspreche auch der Rechtsprechung des [X.] zum Enkelunterhalt. Auch in solchen Fällen sei die Lebenssituation eine andere als sie den Tabellen und Leitlinien im Übrigen zugrunde liege. Der Unterhaltspflichtige befinde sich selbst bereits in einem höheren Lebensalter, so dass er seine Lebensverhältnisse demzufolge bereits längerfristig seinem Einkommensniveau angepasst habe. Wenn er nicht mehr im Arbeitsleben stehe, könne er die Inanspruchnahme auf Unterhalt auch nicht durch zusätzliche Erwerbstätigkeit ausgleichen.

7

Diese Grundsätze seien mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. Von daher sei es gerechtfertigt, den allgemein gegenüber volljährigen Kindern geltenden Selbstbehalt angemessen zu erhöhen, wobei der für den Elternunterhalt geltende Betrag insoweit als angemessen erscheine.

8

Dem stehe nicht entgegen, dass nach der sozialhilferechtlichen Regelung des § 94 Abs. 2 Satz 2 [X.] eine Vermutung dafür bestehe, dass der Anspruch in Höhe der in Satz 1 der Vorschrift genannten Beträge übergeht und mehrere Unterhaltspflichtige zu gleichen Teilen haften. Denn diese Vermutung sei aufgrund der dargelegten konkreten Umstände im vorliegenden Fall widerlegt.

9

Soweit das Einkommen des [X.]n seit dem 1. Juli 2009 geringfügig über dem Selbstbehalt von 1.400 € liege, sei die an sich als Unterhalt geschuldete Hälfte des [X.] - hier 4,11 € - als [X.] außer Ansatz zu lassen.

II.

Diese Ausführungen halten einer revisionsgerichtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

1. Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 [X.] geht der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch eines Sozialhilfeberechtigten bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Träger der Sozialhilfe über. § 94 Abs. 2 Satz 1 [X.] sieht eine Ausnahme von diesem generellen Anspruchsübergang für Eltern behinderter oder pflegebedürftiger volljähriger Kinder vor. Danach geht der Anspruch einer volljährigen unterhaltsberechtigten Person, die behindert im Sinne von § 53 [X.] oder pflegebedürftig im Sinne von § 61 [X.] ist, gegenüber ihren Eltern wegen geleisteter Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege nur bis zur Höhe von 26 € monatlich, wegen Hilfe zum Lebensunterhalt nur bis zur Höhe von 20 € monatlich auf den Träger der Sozialhilfe über.

Nach § 94 Abs. 2 Satz 2 [X.] wird vermutet, dass ein Anspruch in dieser Höhe übergeht und dass mehrere Unterhaltspflichtige zu gleichen Teilen haften. Diese gesetzliche Vermutung ist widerlegbar (Senatsurteil vom 23. Juni 2010 - [X.]/08 - [X.], 1418 Rn. 22). Das setzt allerdings einen Vortrag des unterhaltspflichtigen Elternteils zur Leistungsunfähigkeit oder zur abweichenden anteiligen Haftung voraus (Senatsurteil vom 23. Juni 2010 - [X.]/08 - [X.], 1418 Rn. 25 mwN; [X.]/[X.] Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 8. Aufl. § 8 Rn. 86). Entgegen der Revision lässt § 94 Abs. 2 Satz 2 [X.] nicht die Prüfung entfallen, dass ein Unterhaltsanspruch dem Grunde und der Höhe nach mindestens in Höhe des beanspruchten Betrages nach den allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen bestehen muss. § 94 Abs. 2 Satz 1 [X.] beinhaltet nur - zugunsten des Unterhaltspflichtigen - eine sozialstaatlich begründete Ausnahme von dem umfassenden Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 1 [X.]. Dagegen enthält § 94 Abs. 2 Satz 2 [X.] eine die Darlegungs- und Beweislast umkehrende Vermutungsregelung, die der Verwaltungsvereinfachung dient. In diesen Regelungen erschöpft sich die Vorschrift; eine Außerkraftsetzung der unterhaltsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen enthält sie nicht.

2. Danach ist der [X.] seiner Tochter nicht unterhaltspflichtig.

a) Zwar erreichte der Unterhaltsbedarf der Tochter (§ 1602 Abs. 1 BGB) wenigstens den geltend gemachten Betrag von monatlich 26 € bzw. 27,69 €, weil sie als Volljährige wegen ihrer Erkrankung erwerbsunfähig ist und weil sie einen über die von ihr bezogene Erwerbsminderungsrente hinaus gehenden konkreten Lebensbedarf hat, den der Kläger in der Form von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Höhe von mindestens 926 € monatlich abdeckt. Wegen der Subsidiarität der Sozialhilfe sind die Leistungen des Klägers jedenfalls im Umfang des in § 94 Abs. 2 [X.] geregelten [X.] nicht bedarfsdeckend (vgl. Senatsurteil vom 23. Juni 2010 - [X.]/08 - [X.], 1418 Rn. 12 mwN).

b) Der [X.] ist jedoch nicht leistungsfähig.

§ 1603 Abs. 1 BGB gewährleistet jedem Unterhaltspflichtigen vorrangig die Sicherung seines eigenen angemessenen Unterhalts; ihm sollen grundsätzlich die Mittel verbleiben, die er zur angemessenen Deckung des seiner Lebensstellung entsprechenden allgemeinen Bedarfs benötigt (Senatsurteile vom 26. Februar 1992 - [X.] - FamRZ 1992, 795, 797 und vom [X.] 1988 - [X.] - FamRZ 1989, 272). In welcher Höhe dieser Bedarf des Verpflichteten zu bemessen ist, obliegt der tatrichterlichen Beurteilung des Einzelfalls. Das dabei gewonnene Ergebnis ist revisionsrechtlich nur darauf zu überprüfen, ob es den anzuwendenden Rechtsgrundsätzen Rechnung trägt und angemessen ist (vgl. Senatsurteile vom 27. April 1983 - [X.] - FamRZ 1983, 678 und vom 6. November 1985 - [X.] - FamRZ 1986, 151). Das ist hier der Fall.

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass den in den [X.] angesetzten Selbstbehaltsbeträgen, die ein Unterhaltsverpflichteter grundsätzlich gegenüber einem minderjährigen oder einem volljährigen Kind verteidigen kann, andere Lebensverhältnisse zugrunde liegen, als im vorliegenden Fall zu beurteilen sind. Zwar müssen Eltern regelmäßig damit rechnen, ihren Kindern auch über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus zu Unterhaltsleistungen verpflichtet zu sein, bis diese ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben und wirtschaftlich selbständig sind. Haben die Kinder danach eine eigene Lebensstellung erlangt, in der sie auf elterlichen Unterhalt nicht mehr angewiesen sind, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass sie diese Elternunabhängigkeit auch behalten. Darauf dürfen sich, wenn nicht bereits eine andere Entwicklung absehbar ist, grundsätzlich auch die Eltern einstellen.

Verliert das erwachsene Kind zu einem späteren [X.]punkt wieder seine wirtschaftliche Selbständigkeit, wie hier durch den Eintritt einer Behinderung, findet die Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen in der Regel erst statt, wenn dieser sich selbst bereits in einem höheren Lebensalter befindet, seine Lebensverhältnisse demzufolge bereits längerfristig seinem Einkommensniveau angepasst hat oder wie hier sogar bereits Rente bezieht und sich dann einer Unterhaltsforderung ausgesetzt sieht, mit der er nach dem regelmäßigen Ablauf nicht mehr zu rechnen brauchte.

In tatsächlicher Hinsicht würde die Notwendigkeit, nicht unerhebliche Abstriche von dem derzeitigen Lebensstandard hinzunehmen, auf eine übermäßige Belastung des Unterhaltspflichtigen hinauslaufen. Das gilt insbesondere, wenn er seinen Abkömmling im Falle eigener Bedürftigkeit nicht seinerseits auf Zahlung von Elternunterhalt wird in Anspruch nehmen können (vgl. Senatsurteil vom 8. Juni 2005 - [X.]/04 - [X.], 26, 28).

Mit Rücksicht darauf ist es gerechtfertigt, dass der Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen gegenüber seinem erwachsenen Kind, das seine bereits erlangte wirtschaftliche Selbständigkeit wieder verloren hat, mit einem erhöhten Betrag, wie er in den Tabellen und Leitlinien insoweit als Mindestbetrag vorgesehen ist, angesetzt und gegebenenfalls noch dadurch erhöht wird, dass dem Unterhaltspflichtigen ein etwa hälftiger Anteil seines für den Elternunterhalt einsetzbaren bereinigten Einkommens zusätzlich verbleibt (ebenso [X.] FamRZ 2004, 484; [X.] FamRZ 1999, 1532; [X.]/[X.] Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 8. Aufl. § 2 Rn. 552; aA: [X.] in [X.]/[X.]/Hohm [X.] 18. Aufl. § 94 Rn. 93).

Der Senat hat mit ähnlichen Erwägungen bereits die Auffassung gebilligt, dass Abkömmlingen, die ihren Eltern Unterhalt schulden, ein erhöhter Selbstbehalt zu belassen sei (Senatsurteile vom 26. Februar 1992 - [X.] - FamRZ 1992, 795, 797 und vom 23. Oktober 2002 - [X.] - FamRZ 2002, 1698, 1700 ff.). Dem ist auch die [X.] Tabelle gefolgt, die den angemessenen Selbstbehalt beim Elternunterhalt für den streitigen Unterhaltszeitraum auf 1.400 € festlegt (seit 2011: 1.500 €).

c) Somit ist das [X.] zu Recht davon ausgegangen, dass das vor Juli 2009 vorhandene bereinigte Nettoeinkommen von 1.372,24 € den zugrunde zu legenden angemessenen Selbstbehaltsbetrag von 1.400 € nicht überstieg und deshalb der [X.] nicht leistungsfähig war.

Für die [X.] ab Juli 2009 hat das [X.] ein bereinigtes Nettoeinkommen von 1.408,21 € zugrunde gelegt, das den erhöhten angemessenen Selbstbehalt für sich genommen um 8,21 € übersteigt. Vor dem Hintergrund der vom [X.] festgestellten krankheits- und altersbedingten eigenen Mehrkosten des [X.]n für Medikamente, Hilfsmittel usw. ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, auch diesen Mehrbetrag nicht für Unterhaltsleistungen an die Tochter heranzuziehen.

[X.]                                                     Dose                                              [X.]

                           [X.]

Meta

XII ZR 15/10

18.01.2012

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Köln, 19. Januar 2010, Az: II-25 UF 48/09, Urteil

§ 1603 Abs 1 BGB, § 94 Abs 2 SGB 12

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.01.2012, Az. XII ZR 15/10 (REWIS RS 2012, 10006)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 10006

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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