Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 14.06.2016, Az. 1 StR 221/16

1. Strafsenat | REWIS RS 2016, 10069

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[X.]:[X.]:[X.]:2016:140616B1STR221.16.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 [X.]/16

vom
14. Juni
2016
in der Strafsache
gegen

wegen
versuchten Totschlags u.a.

-
2
-
Der 1. Strafsenat des [X.] hat
nach Anhörung des [X.] und des [X.]

zu 3.
auf dessen Antrag

am 14.
Juni
2016
gemäß §
349 Abs.

2 und 4 StPO beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 27. Januar 2016 mit den [X.] aufgehoben, jedoch bleiben die Feststellungen zu den
rechtswidrigen Taten aufrecht erhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-tels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkam-mer des [X.]s zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Nötigung zu [X.] verurteilt. Daneben hat es die [X.] in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschluss-formel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des
§
349 Abs.
2 StPO.
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I.
Das [X.] hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und [X.] getroffen:
1. Am Nachmittag des 2.
April 2015 stach der Angeklagte in der Diele seiner Wohnung mit einem Messer mit einer Klingenlänge von 13,5 cm auf den Oberkörper eines Polizeibeamten ein. Der Polizeibeamte war zum Zwecke des Vollzugs eines Beschlusses des Amtsgerichts (Betreuungsgericht) zur Vorfüh-rung des Angeklagten im Bezirkskrankenhaus zur Ermöglichung der Erstellung eines Betreuungsgutachtens beim Angeklagten erschienen. Nachdem dieser sich geweigert hatte, die Wohnungstüre zu öffnen, war der Polizeibeamte über das Badezimmerfenster in die Wohnung eingestiegen. Bei dem Stich, der letzt-lich nur eine Schnittwunde verursachte, nahm der Angeklagte zumindest billi-gend in Kauf, dass der Polizeibeamte tödliche Verletzungen erleiden würde.
Alarmiert durch die Rufe des verletzten Polizeibeamten beschlossen vor dem Anwesen wartende Feuerwehrleute, die Wohnungstüre aufzubrechen. Der Angeklagte, der sich noch immer in der Diele seiner Wohnung aufhielt, erwarte-te die Feuerwehrleute bereits mit einem Beil mit einer Stiellänge von etwa 40
cm und einem Gewicht von 800 g. Um die Eindringlinge zu vertreiben, holte der Angeklagte aus und schlug mit dem Beil in Richtung des Kopfes eines Feu-erwehrmanns. Dieser konnte dem Schlag ausweichen und gemeinsam mit sei-nen Kameraden die Wohnung wieder verlassen.
2. Das sachverständig beratene [X.] ist davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten sowohl zum Tat-
als auch zum Urteilszeitpunkt eine schwere Depression mit paranoiden Zügen (UA S.
3) bzw. psychotischen Inhal-ten (UA S.
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bestanden habe, die als krankhafte seelische Störung im Sinne 2
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des §
20 StGB einzuordnen sei. Aufgrund dieser Krankheit sei die Steuerungs-fähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten bei erhaltener Einsichtsfä-higkeit gravierend beeinträchtigt, aber nicht aufgehoben gewesen. Ohne eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß §
63 StGB seien infolge dieser Krankheit mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche Taten des Angeklagten zum Nachteil Dritter zu erwarten.
II.
Die Revision hat in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Die Schuldfähigkeitsprüfung des [X.]s hält rechtlicher Nach-prüfung nicht stand.
a) Es bestehen bereits Bedenken, ob das [X.] bei der Entschei-dung zu der Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne von §
20 StGB vollständig aufgehoben war, gegen den Zweifelsgrundsatz verstoßen hat.
Bleiben nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht behebbare tat-sächliche Zweifel bestehen, die sich auf die Art und den Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen, ist zugunsten des [X.] zu entscheiden (vgl. [X.], Beschluss vom 19.
November 2014

4 StR 497/14, [X.], 71 [nur Leitsatz] mwN).
Nach den Ausführungen des Sachverständigen, denen sich das [X.] ohne Einschränkung angeschlossen hat, bestanden aufgrund der abnor-men Ausgestaltung der Interessens-
und Verhaltenstendenzen des [X.]n, der sehr zurückgezogen gelebt habe, wenig Interesse an [X.] Interak-6
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tionen gehabt habe und eine nur geringe Fähigkeit zur affektiven Reaktion zei-ge, Anhaltspunkte dafür, dass
beim Angeklagten eine schizoide Persönlich-keitsstörung gegeben sei. Gesicherte Feststellungen hierzu könne der [X.] jedoch nicht treffen, da der Angeklagte nicht bereit gewesen sei, sich einer testpsychologischen Diagnostik im [X.] zu unter-ziehen.
Diese Wendung deutet darauf hin, dass durchaus tatsächliche Anhalts-punkte für das Vorliegen einer schizoiden Persönlichkeitsstörung gegeben [X.], die zu einer vollständigen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit geführt ha-ben kann, das [X.] aber eine sich hieraus ergebende Schuldunfähigkeit schon deshalb für ausgeschlossen erachtet hat, weil dafür kein eindeutiger Nachweis erbracht werden konnte. Dies wäre mit dem [X.] nicht zu vereinbaren. Dem steht nicht entgegen, dass
auch bei einer diagnostizierten schizoiden Persönlichkeitsstörung die Voraussetzungen einer schweren ande-ren seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB nicht ohne weiteres, son-dern nur in Abhängigkeit vom Ausprägungsgrad der Störung und ihrem Einfluss auf die [X.] Anpassungsfähigkeit des Betroffenen gegeben sind (vgl. [X.], Beschlüsse vom 19.
Dezember 2012

4 [X.], [X.]R StGB §
20 Seeli-sche Abartigkeit 6 und vom 21.
September 2004

3
StR 333/04, [X.], 326). Die erforderliche Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung des Zweifels-satzes hat das [X.] nicht vorgenommen.
b) Jedenfalls enthalten die Gründe des angefochtenen Urteils einen Dar-legungsmangel. Sie liefern keine nachvollziehbare Begründung für die Annah-me, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit wegen der vom a-

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aa) Im Grundsatz bestehen keine Bedenken dagegen, dass sich der Tatrichter

wie hier

darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachver-ständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen. Allerdings müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so [X.] werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurtei-lung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 27.
Januar 2016

2 StR 314/15 und vom 17. Juni 2014

4 [X.], [X.], 305, 306 mwN). Die Ausführungen des Sachverständigen, de-nen sich das Tatgericht anschließt, dürfen auch nicht lückenhaft sein und müs-sen geeignet sein, die vom Sachverständigen vorgenommene Beurteilung zu tragen.
bb) Diesen Maßstäben genügt das angefochtene Urteil nicht. Das Land-gericht hat sich ohne nähere Begründung dem Schluss des Sachverständigen angeschlossen, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei zur Tatzeit ledig-lich erheblich vermindert, aber nicht vollständig aufgehoben gewesen. Diese Schlussfolgerung wird jedoch nicht mit Tatsachen tragfähig belegt.
Der Sachverständige ist davon ausgegangen, der Angeklagte leide an einer schweren Depression mit psychotischen Inhalten, die als krankhafte see-lische Störung einzuordnen sei. Hierbei knüpfte der Sachverständige im [X.] an folgende Umstände an: Bei dem Angeklagten bestünden [X.] Anzeichen einer depressiven Verstimmung mit ausgeprägtem Rückzugs-verhalten. Der Angeklagte habe die Kontakte zu seinen Nachbarn eingestellt und auch bei den regelmäßigen Treffen mit seiner Mutter und seinem Bruder nahezu nicht mehr mit diesen gesprochen. Er habe selbst berichtet, dass er seine Wohnung die meiste Zeit auch deshalb abgedunkelt hätte, damit [X.] in die Wohnung hineinschauen könne. Beim Angeklagten habe eine be-13
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sonders weitgehende Beeinträchtigung
seines Antriebs vorgelegen; einer [X.] sei er seit Jahren nicht mehr nachgegangen. Er sei auch bereits seit langer Zeit nicht mehr in der Lage, Alltagsaufgaben zu bewältigen. Dies belege die zunehmende Verwahrlosung seiner Wohnung, die auch Anlass für die Einleitung eines Betreuungsverfahrens gewesen sei. In der Einstellung des Angeklagten komme deutlich ein Gefühl von Wertlosigkeit und eine pessimisti-sche Grundhaltung zum Ausdruck. Darüber hinaus sei festzustellen, dass pa-ranoide Denkinhalte das Leben des Angeklagten prägten. Der Sachverständige habe in einer Vielzahl von Situationen beobachten können, dass der [X.] die sich mit ihm befassenden Personen auf das Heftigste abgelehnt habe. Die Neigung, dauerhaft Groll zu hegen und geringe Fehler anderer bzw. subjek-tiv erlebte Verletzungen nicht zu vergeben, sei ebenso typisch für paranoide Denkinhalte wie das beim Angeklagten zu beobachtende Misstrauen gegen nahezu alle Personen seines Umfelds, die der Angeklagte offensichtlich als ihm feindlich gesinnt erlebe. Es spreche alles dafür, dass die paranoide Wahrneh-mung seiner Umwelt bereits im Vorfeld der Tat vorgelegen habe.
Nach der Einschätzung des Sachverständigen war beim Angeklagten weder die grundsätzliche Einsichtsfähigkeit noch die konkrete Einsicht in das Unrecht seiner Taten aufgehoben. Allerdings sei die Steuerungsfähigkeit des [X.], dass aus seiner Sicht seine Lebenssituation sowie sein Rückzugsort, den er gegen die Außenwelt abgeschottet hatte und an dem allein ein Dasein für ihn noch erträglich gewesen sei, unmittelbar bedroht gewesen sei, habe bei ihm ein starkes Gefühl subjektiver Bedrohung hervorgerufen. Dieses habe sich durch das gewaltsame Eindringen fremder Personen in seinen Schutzraum zu einem Gefühl größter Verzweiflung gesteigert und zu einer erheblichen [X.]
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ihn so notwendigen [X.] habe es sich um eine für den Angeklagten n-nahme einer erheblich verminderten, jedoch nicht der aufgehobenen [X.] rechtfertige (UA S.
30).
Diese Ausführungen sind nicht geeignet, die Wertung des [X.]s zu tragen, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei bei den Taten nicht im Sinne des §
20 StGB vollständig aufgehoben gewesen. Bei der Prüfung der Schuldfähigkeit ist stets die konkretisierende Darstellung erforderlich, in wel-cher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei der Begehung der Ta-ten auf die Einsichts-
und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. [X.], [X.] vom 19.
Dezember 2012

4 [X.], [X.], 145). Im [X.] auf den Ausgangspunkt des Sachverständigen, dem
das [X.] folgt,
dass sich bei dem Angeklagten das Gefühl subjektiver Bedrohung angesichts des gewaltsamen Eindringens fremder Personen in seinen Schutzraum zu ei-nem Gefühl größter Verzweiflung gesteigert hatte, hätte es bei dem diagnosti-zierten Störungsbild näherer Darlegung bedurft, aus welchen Gründen der An-geklagte bei Tatbegehung sein Verhalten noch habe beherrschen können. Die Beeinträchtigung seiner [X.] so zu steuern, dass für ihn eine andere [X.] Nachprüfung nicht stand.
2. Da somit in Betracht kommt, dass der Angeklagte bei Begehung der Taten schuldunfähig war, bedarf die Sache neuer tatrichterlicher Prüfung und Entscheidung. Die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten bleiben hiervon 17
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unberührt. Sie können bestehen bleiben, weil sie rechtsfehlerfrei getroffen [X.] sind. Demgegenüber ist die [X.] aufzuheben, weil sie zu der Schuldfähigkeitsbeurteilung in einem untrennbaren Zusammenhang steht (vgl. auch [X.], Beschluss vom
19.
November 2014

4 StR 497/14).
Raum Graf Jäger

Riin[X.] Dr. Fischer ist

im Urlaub und deshalb an

der Unterschriftsleistung

gehindert.

Raum Bär

Meta

1 StR 221/16

14.06.2016

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 14.06.2016, Az. 1 StR 221/16 (REWIS RS 2016, 10069)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 10069

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1 StR 221/16

4 StR 497/14

4 StR 494/12

2 StR 314/15

4 StR 171/14

4 StR 417/12

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