Bundessozialgericht, Urteil vom 29.05.2019, Az. B 8 SO 14/17 R

8. Senat | REWIS RS 2019, 6749

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 21. Juni 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit ist die zuschussweise Übernahme von Kosten für die Neubeschaffung eines ausländischen Passes ([X.]skosten).

2

Der 1972 geborene, erwerbsfähige Kläger ist Staatsbürger der [X.] und verfügt über eine Niederlassungserlaubnis im Gebiet der [X.]. Er ist [X.] und bezieht laufend Leistungen nach dem [X.] ([X.]). Nachdem die Gültigkeit seines [X.] abgelaufen war, forderte ihn die Ausländerbehörde der Beklagten auf, ihr bis zum 15.6.2015 einen gültigen Pass vorzulegen, da anderenfalls eine Strafanzeige erfolgen und die Aufenthaltserlaubnis widerrufen werden könne. Hierauf beantragte der Kläger beim beklagten Sozialhilfeträger erfolglos die Übernahme der [X.]skosten (Bescheid vom 16.4.2015, Widerspruchsbescheid vom 18.9.2015). Während des laufenden Widerspruchsverfahrens beschaffte sich der Kläger einen neuen Pass. Dazu überwies er die Ausstellungsgebühren in Höhe von 170 [X.] an die Botschaft der [X.]. Für die zur [X.] durchgeführte Reise nach [X.] entstanden ihm Fahrtkosten in Höhe von 32,02 [X.].

3

Das Sozialgericht (SG) [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5.2.2016). Die Berufung des [X.] hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des [X.] <[X.]> vom 21.6.2017). Das [X.] hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf eine zuschussweise Übernahme der [X.]skosten. Insbesondere sei § 73 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]) nicht einschlägig, da eine sog unbenannte, atypische Bedarfslage nicht vorliege. Der laufend [X.] beziehende Kläger könne die [X.]skosten über die im Regelsatz berücksichtigten Aufwendungen für die Beschaffung eines [X.]es bzw aus dem individuell einsetzbaren Ansparanteil der Regelleistung abdecken. Da er die angefallenen Kosten bereits beglichen habe, komme ein Darlehen nach § 24 Abs 1 [X.] und eine Beiladung des Jobcenters nicht in Betracht.

4

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 73 [X.], der auf die nicht im Regelsatz enthaltenen [X.]skosten anwendbar sei. Ausländer hätten neben den Aufwendungen für einen Pass weitere, den [X.]kosten ähnliche Kosten zu tragen, etwa für eine Aufenthaltskarte oder einen Aufenthaltstitel, der alle [X.] verlängert werden müsse, während ein [X.] einen [X.] nur alle zehn Jahre benötige. Bei der [X.] handle es sich um eine verwaltungsrechtliche Pflicht, der sich ein Ausländer nicht entziehen könne. Verstöße könnten sanktioniert werden. Damit bestehe eine gewisse Nähe zur Übernahme von Bestattungskosten nach § 74 [X.]. Auch wenn die Gewährung der Leistung im Ermessen stehe, ergebe sich bei einem verfestigten Aufenthalt ein faktischer Anspruch. Hilfebedürftige könnten nicht auf § 24 [X.] verwiesen werden, weil diese Vorschrift nur eingreife, wenn ein im Einzelfall vom Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasster Bedarf nicht gedeckt sei.

5

Der Kläger beantragt,
die Urteile des [X.] vom 21. Juni 2017 und des Sozialgerichts [X.] vom 5. Februar 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. September 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm [X.]skosten in Höhe von 202,02 [X.] zu erstatten.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält die Entscheidung des [X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des [X.] ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Er hat keinen Anspruch auf Erstattung der [X.] nach § 73 [X.].

9

Gegenstand des mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) geführten Verfahrens ist der Bescheid vom 16.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.9.2015 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Übernahme der [X.] abgelehnt hat. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist eine darlehensweise Leistungsgewährung (vgl § 24 Abs 1 [X.]), weil das Begehren des [X.] (§ 123 SGG) sich ausschließlich auf eine zuschussweise Übernahme der [X.] richtet. Das [X.] konnte daher von einer Beiladung des Jobcenters absehen.

Als Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch kommt nur § 73 [X.] in Betracht. Danach können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen (Satz 1). Geldleistungen können als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden (Satz 2). Die erforderliche Neubeschaffung seines ausländischen Passes löst keine "sonstige Lebenslage" im Sinne dieser Vorschrift aus. Die Kosten für die [X.] sind sowohl im [X.] als auch im [X.] den laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt zuzuordnen.

Eine sonstige Lebenslage iS des § 73 Satz 1 [X.] zeichnet sich dadurch aus, dass sie vom (übrigen) [X.] nicht erfasst ist und damit einen "Sonderbedarf" (atypische Bedarfslage) darstellt ([X.] vom 16.12.2010 - [X.] [X.] 7/09 R - [X.], 169 = [X.]-3500 § 28 [X.], Rd[X.]3 mwN; BSG vom 11.12.2007 - [X.]/9b [X.] 12/06 R - [X.]-3500 § 21 [X.] Rd[X.]). Die Vorschrift des § 27a Abs 4 [X.] (in der Fassung des [X.] [X.] sowie zur Änderung des [X.] und des [X.] ) macht deutlich, dass eine Bedarfslage, die vom Regelbedarf erfasst ist, aber beim Leistungsempfänger in atypischem Umfang besteht, durch eine vom Regelsatz abweichende Bemessung des Bedarfs gedeckt wird; eine atypische Bedarfslage iS des § 73 [X.] ist in solchen Konstellationen nicht begründet.

So liegt der Fall hier. Bei den Kosten für die [X.] bei Ausländern handelt sich um solche Kosten, die vom Regelbedarf (vgl § 20 Abs 1 und 2 iVm Abs 5 [X.] bzw § 27a Abs 2 Satz 1 [X.], jeweils iVm § 28 [X.]) erfasst sind. Die Notwendigkeit der Beschaffung eines neuen kongolesischen Passes stellte für den Kläger deshalb keine unbenannte Bedarfslage dar (BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 33/17 R - [X.]-4200 § 20 [X.]). Der Senat schließt sich der Rechtsprechung des 4. Senats an. Der Kläger bezog im Jahr 2015, als der streitige Bedarf anfiel, laufend Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem [X.]. In die Ermittlung und Berechnung der ihm nach § 20 [X.] gewährten Regelbedarfsleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts waren mWv 1.1.2011 auch Verwaltungsgebühren, ua auch für die [X.], eingeflossen.

Die dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 [X.] ([X.] vom 24.3.2011, [X.] 2011 ) zugrundeliegende Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ([X.]) 2008 erfasste in der "Abt S Sonstige Waren und Dienstleistungen" in der Rubrik [X.] als "Sonstige Dienstleistungen" ua auch "sonstige Verwaltungsgebühren (zB für Personalausweis, Reisepass, Beglaubigungen) usw." ([X.], Wirtschaftsrechnungen, Fachserie 15 Heft 7, 26.3.2013, Anlage: Erhebungsunterlagen der [X.] 2008 - Haushaltsbuch, [X.], abrufbar unter [X.]), die bei der Ermittlung des Regelbedarfs unter dem Code 1270 900 "Sonstige Dienstleistungen, nicht genannte" berücksichtigt wurden (BT-Drucks 17/3404 [X.] f; vgl BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 33/17 R -[X.]-4200 § 20 [X.] RdNr 23). Der Abteilung S im Haushaltsbuch entspricht die Abteilung 12 "Andere Waren und Dienstleistungen" in der [X.] 2008 sowie dem [X.] 2011 (vgl für Einpersonenhaushalte die Tabelle des § 5 Abs 1 [X.]; BT-Drucks 17/3404 [X.]). Von den in der Rubrik [X.] ermittelten durchschnittlichen monatlichen Ausgaben der Referenzhaushalte (2,44 Euro) hat der Gesetzgeber des [X.] 2011 im Zuge einer wertenden Entscheidung als regelbedarfsrelevanten Anteil 0,25 Euro als Kosten für die Beschaffung eines Personalausweises berücksichtigt (BT-Drucks 17/3404 [X.] f). Mit diesem berücksichtigten Bedarf ua für "sonstige Verwaltungsgebühren" ist ein Bedarf in den Regelsatz eingeflossen, wie er seiner Art nach auch vom Kläger für seinen Pass zu decken war. Damit sind diese Kosten dem Regelbedarf und nicht einem "Sonderbedarf" (atypische Bedarfslage) im Sinne einer sonstigen Lebenslage gemäß § 73 Satz 1 [X.] zuzuordnen (BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 33/17 R -[X.]-4200 § 20 [X.] RdNr 22 ff, 39).

Auch die am 13.8.2015 einmalig angefallenen Fahrkosten unterfallen dem Regelbedarf, da sie in der [X.] 2008 unter der Rubrik J/13 "sonstige fremde Verkehrsdienstleistungen" ua Personenbeförderung im Öffentlichen Personennahverkehr und Schienenverkehr (Eisenbahn, [X.], [X.], [X.]) erfasst ([X.], Wirtschaftsrechnungen, Fachserie 15 Heft 7, 26.3.2013, Anlage: Erhebungsunterlagen der [X.] 2008 - Haushaltsbuch, [X.]) und bei der Ermittlung des Regelbedarfs in Abteilung 7 (Verkehr) unter dem Code 0730901 "Fremde Verkehrsdienstleistungen" berücksichtigt sind (BT-Drucks 17/3404 S 59).

Die Bestimmung der Höhe des Regelbedarfs durch den Gesetzgeber im Rahmen des [X.] 2011 genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine hinreichend transparente, auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe ([X.] <[X.]> vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - [X.] 137, 34 = [X.]-4200 § 20 [X.], RdNr 89 ff; BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 153/11 R - [X.], 211 = [X.]-4200 § 20 [X.]7, RdNr 26 ff). Bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums hat der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die sachgerecht zu treffende wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs umfasst ([X.] vom [X.] - 1 BvL 1/09, 1 [X.], 1 [X.] - [X.] 125, 175 = [X.]-4200 § 20 [X.]2, Rd[X.]38, 171). Der Gesetzgeber darf außerdem grundsätzlich darauf verweisen, dass punktuelle Unterdeckungen intern ausgeglichen werden, wenn ein im Regelbedarf nicht berücksichtigter Bedarf nur vorübergehend anfällt oder ein Bedarf - wie hier - deutlich kostenträchtiger ist als der statistische Durchschnittswert, der zu seiner Deckung berücksichtigt worden ist ([X.] vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - [X.] 137, 34 = [X.]-4200 § 20 [X.] Rd[X.]17 ff). Das Eintreten einer existenzgefährdenden Unterdeckung beim Kläger, der während des Widerspruchsverfahrens die Kosten für den neuen Pass beglichen hat, ist nicht ersichtlich.

Eine erweiternde oder analoge Anwendung des § 73 [X.] kommt mangels Regelungslücke nicht in Betracht, weil für Bedarfe, die der Sache nach vom Regelbedarf umfasst sind, neben den Fällen der abweichenden Bemessung nach § 27 Abs 4 [X.] nur die - vom Kläger nicht gewollte - darlehensweise Gewährung von Leistungen in Betracht kommt (§ 24 Abs 1 [X.]; vgl dazu BSG vom 29.5.2019 - [X.] [X.] 8/17 R - für [X.] vorgesehen). Soweit § 73 Satz 1 [X.] in der früheren Rechtsprechung des BSG aus verfassungsrechtlichen Gründen auf bestimmte Fälle eines der Höhe nach atypischen laufenden ([X.] erweiternd ausgelegt worden ist, ist auch für diese Auslegung nach Schaffung einer Mehrbedarfsregelung in § 21 Abs 6 [X.] kein Bedürfnis mehr (vgl bereits BSG vom [X.] AS 13/10 R - [X.]-3500 § 73 [X.] Rd[X.]).

Ein Anspruch des [X.] aus § 21 Abs 6 [X.] scheidet schon deshalb aus, weil trotz fortlaufender Passpflicht der Bedarf hinsichtlich der Kosten des Passes nur im Zeitpunkt seiner Beschaffung entsteht und die Erneuerung nach zehn Jahren den Bedarf nicht zu einem "laufenden" iS des § 21 Abs 6 Satz 1 [X.] macht (BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 33/17 R - [X.]-4200 § 20 [X.], Rd[X.]8).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Meta

B 8 SO 14/17 R

29.05.2019

Bundessozialgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Dresden, 5. Februar 2016, Az: S 42 SO 305/15, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 29.05.2019, Az. B 8 SO 14/17 R (REWIS RS 2019, 6749)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 6749

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 4 AS 33/17 R (Bundessozialgericht)

Arbeitslosengeld II - Regelbedarf - Kosten für die Beschaffung eines ausländischen Reisepasses


B 14 AS 13/18 R (Bundessozialgericht)

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bildung und Teilhabe - Kosten für Schulbücher - kein persönlicher Schulbedarf …


B 14 AS 6/18 R (Bundessozialgericht)


B 8 SO 8/17 R (Bundessozialgericht)

Sozialhilfe - Ablehnung der Übernahme von Passbeschaffungskosten - Bindungswirkung bis zur Bestandskraft des Ablehnungsbescheides - …


B 8 SO 11/20 R (Bundessozialgericht)

Sozialhilfe - Hilfe zum Lebensunterhalt - notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen - weiterer notwendiger Lebensunterhalt - …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvL 1/09

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.