Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.08.2011, Az. 5 StR 255/11

5. Strafsenat | REWIS RS 2011, 3974

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Gegenstand

Strafverfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge: Erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit nach erheblichem Alkoholkonsum; Unterbringung eines sprachunkundigen Ausländers in einer Entziehungsanstalt


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 7. Februar 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel Erfolg. Soweit es sich gegen den Schuldspruch richtet, ist das Rechtsmittel gemäß § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s liegt der Tat eine Auseinandersetzung im „so genannten Trinkermilieu am [X.] [X.]“ ([X.]) zugrunde. Der im Zeitpunkt der Tat 27 Jahre alte, aus [X.] stammende und erheblichen Alkoholmissbrauch treibende Angeklagte traf dort auf den später verstorbenen 59 Jahre alten alkoholkranken R.     . Gemeinsam mit anderen Personen wurde auf einem kleinen Vorplatz des Bahnhofs Alkohol konsumiert. Als der Angeklagte den auf einer niedrigen Mauer sitzenden alkoholkranken R.    verdächtigte, ihm Zigaretten weggenommen zu haben, schrie er ihn an und versetzte ihm schließlich einen kräftigen Tritt seitlich gegen den Kopf. R.     fiel nach hinten in eine Rabatte und blieb dort liegen, ohne dass sich die umstehenden Personen um ihn kümmerten. Erst als zwei Zeugen mehrere Stunden später bei ihm keine Lebenszeichen mehr feststellen konnten, riefen sie einen Rettungswagen. Der Tritt des Angeklagten hatte zu einer Verletzung des Gehirns des Geschädigten geführt, wahrscheinlich zu einem Riss eines Aneurysmas in der Nähe des Hirnstamms; der Geschädigte verstarb wenig später.

3

2. Die Verneinung erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

4

a) Die beim Angeklagten etwa sieben bis acht Stunden nach dem Tatzeitpunkt ermittelten Blutalkoholwerte vermochte die sachverständig beratene [X.] ihrer Bewertung nicht zugrunde zu legen, da der Angeklagte, der am Nachmittag mit dem [X.] von Alkohol angefangen hatte, damit auch nach dem festgestellten Tatgeschehen fortfuhr. Auch konnten keine zuverlässigen Trinkmengenangaben erhoben werden.

5

b) Angesichts dessen hat das [X.] seine Annahme, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei nicht erheblich vermindert gewesen, im [X.] an die Ausführungen des Sachverständigen auf folgende Umstände gestützt: Zeugen hätten den Angeklagten als angetrunken, jedoch „nicht total betrunken“ bezeichnet. Auf einer Videoaufzeichnung, die sein Verhalten in Tatzeitnähe zeige, sei erkennbar, dass der Angeklagte ohne weiteres in der Lage gewesen sei, aus der Hocke am Boden aufzustehen, sich wieder hinzuhocken und [X.]; augenfälliges Torkeln oder Schwanken sei nicht zu erkennen. Entscheidend sei schließlich der festgestellte Tatablauf selbst, wonach der Angeklagte fähig gewesen sei, einen Tritt gegen den Kopf des vor ihm sitzenden Geschädigten auszuführen. Aufgrund der Größe des Geschädigten und dessen Sitzhöhe erfordere eine derartige Handlung ein deutliches Heben des Beines und damit ein Maß an Koordinationsfähigkeit, das einer stark betrunkenen Person nicht mehr möglich gewesen wäre.

6

aa) Die [X.] hat nicht bedacht, dass selbst bei hochgradiger Alkoholisierung des [X.] grobmotorische Fertigkeiten erhalten geblieben sein können (vgl. [X.], Urteil vom 21. Oktober 1981  – 2 [X.]). Denn die vom [X.] angeführten Umstände belegen nur, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht völlig aufgehoben war; aus ihnen ist indes nicht mit genügender Sicherheit abzuleiten, dass seine Steuerungsfähigkeit nicht erheblich vermindert gewesen ist. Dazu hätte es aussagekräftiger psychodiagnostischer Beweisanzeichen bedurft. Als solche sind nur Umstände in Betracht zu ziehen, die Hinweise darauf geben können, dass die Steuerungsfähigkeit des [X.] trotz erheblicher Alkoholisierung nicht in erheblichem Maße beeinträchtigt gewesen ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 13. Mai 2005 – 2 [X.], [X.]R StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 38, und vom 28. April 2009 – 4 [X.], [X.], 270). Eine alkoholische Beeinflussung mit der Folge erheblich verminderter Schuldfähigkeit ist weder zwingend noch regelmäßig von schweren ins Auge fallenden Ausfallerscheinungen begleitet (vgl. [X.], Beschluss vom 26. März 1997 – 3 StR 35/97, [X.], 349).

7

bb) Soweit sich die Urteilsbegründung auf Aussagen von Zeugen stützt, die sich selbst zum Zweck des Alkoholkonsums am Ort des Geschehens aufhielten, wären deren Alkoholisierung in Bedacht zu nehmen und ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Bewertung des Verhaltens des Angeklagten zu erörtern gewesen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 29. November 2005 – 5 [X.], [X.], 72, und vom 26. Mai 2009  – 5 StR 57/09, [X.]R StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 41).

8

c) Obgleich die verhängte Strafe eher maßvoll erscheint, vermag der Senat nicht auszuschließen, dass sie bei Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB noch geringer ausgefallen wäre. Dies gilt insbesondere, da dieser benannte [X.] im Rahmen der Prüfung des § 213 Alternative 2, § 227 Abs. 2 StGB – nachrangig zu unbenannten Strafmilderungsgründen – zu berücksichtigen wäre. Der Senat weist darauf hin, dass die in diesem Zusammenhang zu Lasten des Angeklagten angestellte Erwägung, er habe „keinen bzw. jedenfalls keinen nachvollziehbaren Grund“ ([X.]) für den körperlichen Übergriff auf R.        gehabt, angesichts des nicht aufgeklärten Diebstahlsverdachts nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist.

9

3. Darüber hinaus hat das [X.] die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt.

a) Dem Sachverständigen folgend hat die [X.] bei dem Angeklagten einen Hang im Sinne des § 64 StGB und den [X.] der verfahrensgegenständlichen Tat festgestellt. Von der Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB hat sie gleichwohl im Hinblick auf ungenügende Sprachkenntnisse des Angeklagten abgesehen. Mangels konstruktiver Kommunikationsmöglichkeiten könne keine Erfolg versprechende Therapie durchgeführt werden. In derartigen Fällen sehe die derzeitige Fassung des § 64 StGB vor, von einer Unterbringung Abstand zu nehmen.

b) Auch nach der Umgestaltung des § 64 StGB zur Sollvorschrift mit der Gesetzesnovelle vom 16. Juli 2007 ([X.] I 1327) sollte es im Grundsatz dabei verbleiben, dass die Sprachunkundigkeit eines Ausländers nicht ohne weiteres allein ein Grund für einen Verzicht auf seine Unterbringung sein kann (vgl. Bericht und Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5137, [X.]). Indes muss nicht gegen jeden Sprachunkundigen, insbesondere wenn eine therapeutisch sinnvolle Kommunikation mit ihm schwer möglich sein wird, eine Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet werden (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Oktober 2008 – 5 [X.], [X.], 204). Bei dem Angeklagten handelt es sich um einen [X.] mit Lebensmittelpunkt in [X.]. Angesichts dessen hätte es jedenfalls der Klärung bedurft, inwieweit das für den Vollzug einer Unterbringung des Angeklagten zuständige Krankenhaus des [X.] Behandlungsmöglichkeiten für polnischsprachige Patienten bietet (vgl. [X.]/[X.]/[X.] in Festschrift [X.], 2011, [X.], 62 ff.).

Raum                                       [X.]

                    [X.]                                     [X.]

Meta

5 StR 255/11

17.08.2011

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Berlin, 7. Februar 2011, Az: 522 Ks 11/10, Urteil

§ 21 StGB, § 64 StGB, § 213 Alt 2 StGB, § 227 Abs 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.08.2011, Az. 5 StR 255/11 (REWIS RS 2011, 3974)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3974

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