Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.01.2019, Az. 1 StR 448/18

1. Strafsenat | REWIS RS 2019, 11181

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Gegenstand

Rechtsfehlerhafte Feststellungen des Tatgerichts zu Alkoholisierung und Schuldfähigkeit des Täters zum Tatzeitpunkt


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 11. April 2018 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, 120 Tage der [X.] der lebenslangen Freiheitsstrafe als vollstreckt erklärt sowie die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die auf die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

2

Die Begründung der [X.], mit der sie eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB verneint hat, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

3

1. Das [X.] hat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten abgelehnt, obgleich es festgestellt hat, dass dieser - wie auch die weiteren nicht revidierenden Mitangeklagten - bei der Tat ganz erheblich alkoholisiert gewesen sei, zum Tatzeitpunkt täglich durchschnittlich zehn bis 15 Flaschen Bier sowie Wodka in erheblichem Umfang getrunken habe und eine ausgeprägte Alkoholproblematik im Sinne eines Missbrauchs bzw. ein chronisch exzessiver Alkoholkonsum vorliege. Die [X.] hat ausgeführt, der psychiatrische Sachverständige habe auf der Grundlage der Angaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung, der eine „ziemlich genaue Erinnerung“ an das Geschehen vom 6. Juli 2017 habe, eine krankhafte seelische Störung aufgrund einer schweren Alkoholintoxikation zur Tatzeit ausgeschlossen. Nach den eigenen Schilderungen des Angeklagten sei aus psychiatrischer Sicht nicht einmal von einer alkoholbedingten Enthemmung auszugehen, da er sich selbst als emotional unbeteiligt und sein Handeln als durchaus überlegt beschreibe. Das [X.] ist im [X.] an die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen von erhaltener Steuerungsfähigkeit ausgegangen und hat ergänzend darauf abgehoben, dass der Angeklagte motorisch noch in der Lage gewesen sei, über Stiegen in den 2. Stock eines [X.] zu gelangen.

4

2. Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

5

a) Die vom [X.] vorgenommene Würdigung psychodiagnostischer Faktoren begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das vom [X.] im [X.] an den Sachverständigen herangezogene Kriterium des angeblich genauen und detaillierten Erinnerungsvermögens ist angesichts des Umstandes, dass das [X.] die Einlassung des Angeklagten zum unmittelbaren Tatgeschehen - in rechtlich nicht zu beanstandender Weise - nicht für glaubhaft hält, schon deshalb nicht tragfähig (vgl. [X.], Beschluss vom 7. Februar 2012 - 5 StR 545/11, [X.], 137, 138). Zudem ist der indizielle Beweiswert eines intakten Erinnerungsvermögens für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit ganz generell problematisch (vgl. [X.], StGB, 66. Aufl., § 20 Rn. 24a f.). Auch der zweite vom [X.] herangezogene Gesichtspunkt, dass der Angeklagte über Stiegen in den 2. Stock des [X.] gelangte, erweist sich als nicht rechtsfehlerfrei. Abgesehen davon, dass die äußere Beschaffenheit der Stiegen schon nicht so hinreichend beschrieben ist, dass sich das Leistungsvermögen des Angeklagten hieraus ersehen ließe, ist der Gesichtspunkt für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Das [X.] hat dabei nämlich nicht bedacht und erörtert, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit bei hoher Alkoholgewöhnung durchaus weit auseinander fallen können (vgl. [X.], Beschlüsse vom 28. Februar 2018 - 4 StR 530/17, NStZ-RR 2018, 136; vom 10. Januar 2012 - 5 [X.], [X.], 109 und vom 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07, [X.], 696). Bei Alkoholikern zeigt sich oft eine durch „Übung“ erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten (vgl. [X.], Beschlüsse vom 28. Februar 2018 - 4 StR 530/17, aaO und vom 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07, aaO; [X.], StGB, 66. Aufl., § 20 Rn. 23a).

6

b) Das [X.] hat zudem die Einlassung des Angeklagten zu seinem Alkoholkonsum am Tattag nicht mitgeteilt, sondern lediglich darauf verwiesen, dass seine Angaben keine Berechnung der Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit zuließen ([X.]). Von einer entsprechenden Berechnung ist ein Tatgericht nicht schon dann entbunden, wenn die Angaben des Angeklagten zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind (vgl. [X.], Beschlüsse vom 28. April 2010 - 5 [X.], [X.], 257, 258 und vom 20. November 1990 - 2 [X.], [X.]R StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 23). Vielmehr ist eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des [X.] auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung des Angeklagten sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen zwar keine sichere Berechnungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholkonsums ermöglichen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 28. April 2010 - 5 [X.], aaO und vom 17. März 1994 - 4 StR 54/94, [X.]R StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 29; Urteil vom 13. Mai 1993 - 4 StR 183/93, [X.], 519).

7

3. Die aufgezeigten Mängel führen zur Aufhebung des Strafausspruchs, da der Senat nicht auszuschließen vermag, dass das [X.] bei rechtsfehlerfreier Bewertung des psychischen Zustands des Angeklagten zur Tatzeit zur Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gekommen wäre, von der Milderungsmöglichkeit nach §§ 21, 49 StGB Gebrauch gemacht und auf eine zeitige Freiheitsstrafe erkannt hätte. Eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten liegt auf Grundlage der getroffenen Feststellungen zum Tatgeschehen sicher nicht vor. Der Senat hebt auch die zugehörigen Feststellungen zum Strafausspruch auf, um dem neuen Tatrichter eine umfassende Prüfung der Alkoholisierung des Angeklagten und damit zu den Voraussetzungen des § 21 StGB zu ermöglichen.

8

4. Die für sich genommen rechtsfehlerfreie Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB kann bestehen bleiben. Das neue Tatgericht wird allerdings, sollte es zu der Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe gelangen, eine Entscheidung über den [X.] der Strafe nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB zu treffen haben.

Raum     

        

Bär     

        

Hohoff

        

Leplow     

        

Pernice     

        

Meta

1 StR 448/18

23.01.2019

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 11. April 2018, Az: 122 Js 231439/16 - 2 Ks

§ 20 StGB, § 21 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.01.2019, Az. 1 StR 448/18 (REWIS RS 2019, 11181)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 11181

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