Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.07.2023, Az. AnwZ (Brfg) 14/22

Senat für Anwaltssachen | REWIS RS 2023, 5661

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Tenor

I. Auf die Berufung der Beigeladenen wird das ihr am 7. Juni 2022 an [X.] statt zugestellte Urteil des II. Senats des Anwaltsgerichtshofs [X.] in den Ziffern 1 und 2 des Tenors aufgehoben und insoweit wie folgt neu gefasst:

Der Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 2020 - 11 Z 113/2019 - wird in den Ziffern 2 und 3 insgesamt und in Ziffer 1 insoweit aufgehoben, als er den Bescheid der Beklagten vom 9. September 2020 auch insoweit aufhebt, als darin eine Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin bis zum 31. Oktober 2020 erfolgt ist.

II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

[X.] Die Beigeladene hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

[X.] Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 25.000 € festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Klägerin war vom 1. Juni 2019 bis zum 31. Oktober 2020 als Justiziarin des Dezernats für Kreisentwicklung, Wirtschaft und ländlicher Raum beim Landratsamt R.         tätig. Am 28. Oktober 2019 ging ihr Antrag auf Zulassung als Syndikusrechtsanwältin bei der [X.] ein. Mit Bescheid vom 23. April 2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Auf den fristgerecht erhobenen Widerspruch der Klägerin ließ die Beklagte gegen die Stellungnahme der [X.] die Klägerin am 9. September 2020 als Syndikusrechtsanwältin mit der Tätigkeitsbeschreibung "Justiziarin des Dezernats für Kreisentwicklung, Wirtschaft und ländlicher Raum" zu (im Folgenden auch: Abhilfe- und Zulassungsbescheid).

2

Am 7. Oktober 2020 erhob die Beigeladene Widerspruch gegen den Abhilfe- und Zulassungsbescheid. Die Klägerin teilte am 1. November 2020 mit, dass sie ab diesem [X.]punkt eine neue Tätigkeit als Dezernentin für Organisationsentwicklung, Personal und Kultur ausüben werde, für die sie keine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin mehr beantrage. Die zuvor ausgeübte Tätigkeit habe die Kriterien für eine Zulassung jedoch erfüllt.

3

Mit Bescheid vom 16. Dezember 2020 hob die Beklagte den Abhilfe- und Zulassungsbescheid auf (Ziffer 1), stellte das Zulassungsverfahren ein (Ziffer 2) und erklärte den Widerspruch der Beigeladenen für erledigt (Ziffer 3). Der Widerspruch habe sich erledigt und eine rückwirkende Zulassung sei nicht möglich. Für einen Fortsetzungsfeststellungswiderspruch sei kein Raum.

4

Auf die Klage der Klägerin hat der [X.] den Bescheid vom 16. Dezember 2020 aufgehoben (Ziffer 1 des Tenors) und die Klägerin für ihre Tätigkeit beim Landratsamt R.         vom 28. September 2019 bis zum 31. Oktober 2020 als Syndikusrechtsanwältin zugelassen (Ziffer 2 des Tenors). Im Übrigen hat er die Klage abgewiesen (Ziffer 3 des Tenors) und eine Kostenentscheidung dahingehend getroffen, dass die Klägerin 30% und die Beklagte 70% der Kosten zu tragen haben (Ziffer 4 des Tenors). Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Anfechtungsklage der Klägerin zulässig und begründet sei. Der am 28. September 2019 beantragten Zulassung als Syndikusrechtsanwältin stehe nicht grundsätzlich entgegen, dass die Klägerin diese Tätigkeit während des behördlichen Verfahrens beendet habe. Das Gesetz sehe eine Rückwirkung der Zulassung in § 46a Abs. 4 Nr. 2 [X.] ausdrücklich vor. Zudem habe der [X.] klargestellt, dass es unerheblich sei, wenn die Tätigkeit nach der Entscheidung der Rechtsanwaltskammer, aber vor der gerichtlichen Entscheidung beendet werde. Zwar sei im Streitfall die Tätigkeit schon im Vorverfahren beendet worden. Es sei aber kein sachlicher Grund ersichtlich, warum in solchen Fällen keine rückwirkende Zulassung mehr möglich sein solle.

5

Der [X.] könne in der Sache selbst entscheiden, weil die Sache spruchreif sei, § 113 Abs. 5 VwGO. Die von der [X.] gegen eine Zulassung angeführten Gründe griffen nicht durch. Es liege kein Zulassungshindernis gemäß § 7 Satz 1 Nr. 10 [X.] vor. Die Klägerin habe auch keine Tätigkeit ausgeübt, die mit dem Beruf einer Syndikusrechtsanwältin nicht vereinbar sei oder das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit gefährden könne. Ebenfalls nicht durchgreifend sei der Einwand, es stehe nicht fest, ob das Arbeitsverhältnis durch die in § 46 Abs. 3 Nr. 1 bis 4 [X.] bezeichneten Tätigkeiten geprägt sei.

6

Die Beklagte sei antragsgemäß zur Zulassung zu verurteilen und zwar für den [X.]raum von Antragstellung bis Beendigung der Tätigkeit. Für den davor liegenden [X.]raum - die Klägerin habe Zulassung ab dem 1. Juni 2019 beantragt - sei die Klage abzuweisen. Denn für den [X.]raum zwischen Beginn der Tätigkeit und Antragstellung könne die Klägerin nach § 46a Abs. 4 Nr. 2 [X.] nicht, auch nicht rückwirkend, als Syndikusrechtsanwältin zugelassen werden.

7

Mit am 24. Mai 2022 bei der Geschäftsstelle eingegangenem Beschluss hat der [X.] das Urteil hinsichtlich der Rechtsbehelfsbelehrung berichtigt und einen Antrag der Beigeladenen und der [X.] auf Berichtigung des Tenors in Ziffer 2 zurückgewiesen. Es liege insoweit keine Unrichtigkeit vor. Mit der Klage sei der Bescheid der [X.] angegriffen worden, mit dem der vorhergehende Widerspruchsbescheid mitsamt der darin enthaltenen Zulassung aufgehoben worden sei. Mit Aufhebung dieses Bescheids bleibe es bei der von der [X.] ausgesprochenen Zulassung und die Beklagte sei nicht erneut zur Zulassung zu verpflichten. Ziffer 2 des Tenors präzisiere lediglich im Sinne einer Klarstellung den [X.]raum der Zulassung aufgrund der zwischenzeitlichen Beendigung der Tätigkeit der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin.

8

Die Beigeladene hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Bei der von der Klägerin erhobenen Klage handele es sich nicht um eine Anfechtungs-, sondern um eine Verpflichtungsklage. Denn das von der Klägerin verfolgte [X.] sei nicht nur darauf gerichtet gewesen, durch die Beseitigung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 die im Bescheid vom 9. September 2020 getroffene Regelung wieder in [X.] zu setzen. Die Klägerin habe vielmehr mit ihrem Klageantrag zu 2 ausdrücklich eine rückwirkende Zulassung ab Aufnahme der Tätigkeit beim Landratsamt R.         begehrt. Eine derart zeitlich determinierte Zulassung, die sogar explizit einen vor der Antragstellung liegenden [X.]raum umfassen sollte, habe in jedem Fall der Erteilung eines neuen [X.] bedurft. Somit sei die Verpflichtungsklage die statthafte Klageart. Maßgebend sei daher allein, ob der Klägerin ein Anspruch auf den Verwaltungsakt oder auf eine Neubescheidung zustehe. Einen derartigen Anspruch habe die Klägerin nicht. Eine Zulassung scheide schon deshalb aus, weil die Klägerin im [X.]punkt der letzten Zulassungsentscheidung am 16. Dezember 2020 die Tätigkeit, für die sie die Zulassung beantragt habe, nicht mehr ausgeübt habe.

9

Selbst wenn die Klägerin einen Anspruch auf Zulassung als Syndikusrechtsanwältin für den [X.]raum vom 28. Oktober 2019 bis zum 31. Oktober 2020 hätte, sei der [X.] nicht berechtigt, die Zulassung selbst zu erteilen. § 113 Abs. 5 VwGO erlaube dem Gericht auch dann nicht den Erlass eines Verwaltungsakts, wenn diesem nach Auffassung des Gerichts im Hinblick auf einen bereits erlassenen Verwaltungsakt nur präzisierende oder klarstellende Bedeutung zukomme.

Die Beigeladene beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beigeladenen zurückzuweisen.

Nach Ansicht der Klägerin sei es neben der Aufhebung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 zur Sicherstellung auch erforderlich gewesen, noch einmal klarzustellen, dass die Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin auf jeden Fall erhalten bleibe. Denn der Bescheid vom 16. Dezember 2020 habe in Ziffer 2 auch die Formulierung enthalten, dass das Zulassungsverfahren eingestellt werde. Der [X.] habe der Klägerin zu Recht die Zulassung als Syndikusrechtsanwältin für die [X.] vom 28. Oktober 2019 bis zum 31. Oktober 2020 erteilt. Das Widerspruchsverfahren, das die Beigeladene gegen den Bescheid vom 9. September 2020 eingeleitet habe, sei als Teil des gerichtlichen Vorverfahrens anzusehen, so dass die Grundsätze des Urteils des [X.]s vom 2. November 2020 ([X.] ([X.]) 24/19, juris) hier anzuwenden seien. Wie der [X.] zu Recht festgestellt habe, erfülle die Klägerin alle Voraussetzungen für die Zulassung als Syndikusrechtsanwältin.

Die Beklagte hat inhaltlich keine Stellungnahme abgegeben und auch keinen Antrag gestellt.

Mit Verfügung vom 24. November 2022 hat die Vorsitzende des [X.]s darauf hingewiesen, dass es sich bei der Klage um eine Anfechtungsklage handeln dürfte, die sich isoliert gegen den Bescheid vom 16. Dezember 2020 richte. Diese Klage könnte bereits deswegen begründet sein, weil es an einer Rechtsgrundlage für diese zweite Widerspruchsentscheidung fehlen dürfte. Der [X.] könnte mit der Tenorierung in Ziffer 2 seines Urteils nur klargestellt haben, in welchem Umfang der Bescheid vom 16. Dezember 2020 aufgehoben werde beziehungsweise welchen Inhalt die Zulassungsentscheidung durch die Erledigung erfahren habe.

Die Klägerin hat hierzu ausgeführt, dass, wenn der Widerspruch der Beigeladenen gegen den Bescheid vom 9. September 2020 unzulässig gewesen sein sollte, dieser Bescheid rechtmäßig sei. In dem Bescheid sei kein Datum des Beginns der Zulassung als Syndikusrechtsanwältin enthalten. Der [X.] möge entscheiden, ob die Zulassung der Klägerin ab dem 1. Juni 2019 oder ab dem 28. Oktober 2019 ausgesprochen werde.

Die Beigeladene hat dargelegt, dass sie bei ihrer Auffassung bleibe, dass es sich bei der Klage um eine Verpflichtungsklage handele. Die Klägerin habe sich nicht darauf beschränkt, einen Aufhebungsantrag zu stellen, sondern habe darüber hinaus auch beantragt, dass sie für ihre vom 1. Juni 2019 bis 31. Oktober 2020 beim Landratsamt R.         ausgeübte Tätigkeit als Syndikusrechtsanwältin zugelassen werde. Auch die teilweise Ablehnung der Klage durch den [X.] belege, dass das [X.] der Klägerin nicht nur auf die Aufhebung des Bescheids der [X.] vom 16. Dezember 2020 gerichtet gewesen sei, sondern darüber hinaus gegangen sei. Das [X.] habe sich zu der Frage, ob ein zweiter Widerspruch auch dann unzulässig sei, wenn er - wie vorliegend - durch einen Dritten erhoben werde, nicht klar geäußert.

Zudem sei eine Umdeutung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 möglich. Die Beklagte habe die Aufhebung des Abhilfe- und [X.] allein damit begründet, dass die Klägerin ab November 2020 nicht mehr als Justiziarin und Sachgebietsleiterin Bauleitplanung tätig sei und sie damit im [X.]punkt der Zulassungsentscheidung keine Tätigkeit mehr ausübe, die den gesetzlichen Zulassungskriterien entspreche. Daher dürfte eine Umdeutung in einen Widerruf in Betracht kommen.

Der Wortlaut des Entscheidungssatzes des [X.]s in Ziffer 2 des Tenors sei eindeutig; der [X.] habe darin selbst eine Regelung getroffen, die nach dem Gesetz der [X.] vorbehalten sei. Eine Klarstellung zum Umfang der Aufhebung des Bescheids könne nur dann in Betracht gezogen werden, wenn sich im Urteil zumindest deutliche Anhaltspunkte für eine solche Klarstellung fänden. Daran fehle es hier.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beigeladenen ist nach § 112e Satz 1 [X.] statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie hat im Ergebnis in der Sache jedoch keinen Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 2020 verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist daher in den Ziffern 2 und 3 insgesamt und hinsichtlich Ziffer 1 insoweit aufzuheben, als er den Bescheid der Beklagten vom 9. September 2020 auch insoweit aufhebt, als darin eine Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin für die Tätigkeit als Justiziarin des Dezernats für Kreisentwicklung, Wirtschaft und ländlicher Raum beim Landratsamt R.         für den Zeitraum bis zum 31. Oktober 2020 erfolgt.

Da die Tenorierung des [X.] in den Ziffern 1 bis 3 im Zusammenhang mit einem Teil der Gründe dafür spricht, dass der [X.] eine eigene Zulassungsentscheidung getroffen und somit unter Verletzung von § 88 VwGO über das Klagebegehren der Klägerin hinausgegangen ist, war das Urteil insoweit in den Ziffern 1 und 2 zur Klarstellung aufzuheben und neu zu fassen. Hinsichtlich der Ziffer 3 ist eine Aufhebung nicht möglich, weil die darin enthaltene teilweise Klageabweisung von der Beigeladenen mit der Berufung nicht angegriffen worden ist und die Klägerin keine Rechtsmittel eingelegt hat.

1. Der [X.] ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin eine Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 2020 erhoben hat und dass diese Anfechtungsklage zulässig und begründet ist.

Soweit der [X.] unter Hinweis auf § 113 Abs. 5 VwGO ausgeführt hat, er könne in der Sache selbst entscheiden, und zudem davon ausgegangen ist, die Klägerin habe einen von ihm zu [X.] Antrag auf Zulassung für den Zeitraum ab dem 1. Juni 2019 gestellt, ist der Beklagten zuzugeben, dass dies mit der Tenorierung in den Ziffern 1 bis 3 dafür spricht, dass der [X.] das Klagebegehren der Klägerin in diesem Teil der Gründe als Verpflichtungsklage aufgefasst hat. Damit wäre der [X.] jedoch über das Klagebegehren der Klägerin hinausgegangen. Ein Verstoß gegen die Bindung des Gerichts an das Klagebegehren stellt einen im Berufungsverfahren - im Rahmen des Rechtsmittels - von Amts wegen zu beachtenden Berufungsgrund dar (vgl. [X.]/[X.] in [X.]/[X.], VwGO, 5. Aufl., § 88 Rn. 44).

a) Aus der Klageschrift der Klägerin ergibt sich, dass die Klägerin mit einer Anfechtungsklage eine Aufhebung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 erreichen wollte, wobei sie jedoch in Bezug auf dessen Ziffer 1 nur eine teilweise Aufhebung wollte, um ihrer neuen Tätigkeit ab dem 1. November 2020 Rechnung zu tragen.

Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Für die Ermittlung des [X.] gelten die Grundsätze für die Auslegung von Willenserklärungen (§§ 133, 157 BGB). Maßgeblich ist das Rechtsschutzziel, wie es in dem Klageantrag, der Klagebegründung und dem weiteren Vorbringen sowie in den sonstigen für das Gericht und die übrigen Beteiligten erkennbaren Umständen zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juli 2021 - 3 [X.]/20, 3 PKH 1/20, juris Rn. 4 mwN). Wesentlich ist der geäußerte [X.], wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück. Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (BVerwG, [X.], 375 Rn. 7). Ist der Kläger bei der Fassung des [X.] anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht (BVerwG, [X.], 375 Rn. 8).

Die Klägerin hat - wie sich bereits im ersten Absatz der Begründung ihrer Klageschrift vom 22. Januar 2021 ergibt - angenommen, dass sich der Abhilfe- und Zulassungsbescheid der Beklagten vom 9. September 2020 auf die Tätigkeit der Klägerin ab dem 1. Juni 2019 bezog und somit ab diesem Zeitpunkt Wirkung entfaltet. Zudem ging sie davon aus, dass ihre ab dem 1. November 2020 ausgeübte neue Funktion nur zu einem Widerruf der Syndikuszulassung ab dem 1. November 2020 hätte führen dürfen (vgl. Seite 3 vierter Absatz der Klageschrift). Die Klägerin war somit mit einer Korrektur des Abhilfe- und [X.] insoweit einverstanden, als darin nur auf ihre bis zum 31. Oktober 2020 andauernde Tätigkeit abgestellt werden sollte. Ihr Antrag auf Aufhebung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 und ihr Antrag, dass sie für ihre vom 1. Juni 2019 bis zum 31. Oktober 2020 ausgeübte Tätigkeit beim Landratsamt R.        als Syndikusrechtsanwältin zugelassen wird, dürfen daher nicht jeweils isoliert betrachtet werden. In der Gesamtschau der Anträge mit der Begründung wird deutlich, dass die Klägerin eine Aufhebung von Ziffer 1 des Bescheids vom 16. Dezember 2020 nur insoweit wollte, als diese den Abhilfe- und Zulassungsbescheid auch insoweit aufhebt, als darin eine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin für die bis zum 31. Oktober 2020 ausgeübte Tätigkeit als Justiziarin des Dezernats für Kreisentwicklung, Wirtschaft und ländlicher Raum beim Landratsamt R.        ausgesprochen war. Die Aufspaltung in zwei Anträge diente vor diesem Hintergrund nur dazu, durch die Formulierung klarer hervortreten zu lassen, welchen Inhalt der - durch die teilweise Aufhebung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 - verbleibende Abhilfe- und Zulassungsbescheid aus Sicht der Klägerin haben würde.

Die Klägerin ist in der Klageschrift davon ausgegangen, dass sie durch den Abhilfe- und Zulassungsbescheid rückwirkend bereits zu dem Zeitpunkt Mitglied der Rechtsanwaltskammer geworden ist, zu dem sie mit ihrer Tätigkeit beim Landratsamt R.        begonnen hat. Daher bestand aus Sicht der Klägerin gar kein Anlass, mit ihrer Klage auch eine Änderung des Abhilfe- und [X.] hinsichtlich dessen anfänglicher Wirkung zu verfolgen. Auf diesen Aspekt des Abhilfe- und [X.] ist die Klägerin in der Klageschrift daher auch nicht näher eingegangen.

Zwar ergibt sich aus § 46a Abs. 4 Nr. 2 [X.], dass der Syndikusrechtsanwalt mit der Zulassung rückwirkend (erst) zu dem Zeitpunkt Mitglied der Rechtsanwaltskammer wird, zu dem der Antrag auf Zulassung dort eingegangen ist, so dass die Klägerin einem Irrtum über die zeitliche Wirkung des [X.] unterlegen sein dürfte. Dies führt aber nicht zu einer anderen Auslegung des Klagebegehrens. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin, wenn sie die Vorschrift des § 46a Abs. 4 Nr. 2 [X.] vor Augen gehabt hätte, eine Verpflichtungsklage mit dem Ziel erhoben hätte, entgegen der eindeutigen gesetzlichen Bestimmung eine Zulassung bereits ab dem Beginn ihrer Tätigkeit zu erreichen.

Soweit die Beigeladene der Ansicht ist, dass die teilweise Klageabweisung durch den [X.] für ein weitergehendes Klagebegehren spricht, führt dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn die teilweise Klageabweisung ist nur ein Indiz dafür, wie der [X.] die von der Klägerin gestellten Anträge ausgelegt hat, und besagt nichts darüber, ob diese Auslegung zutreffend ist.

b) Die Anfechtungsklage ist zulässig und bereits deshalb begründet, weil es an einer Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 16. Dezember 2020 fehlt. Die mit diesem vorgenommene Aufhebung des Abhilfe- und [X.] aufgrund von § 73 Abs. 1 Satz 1, § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO setzt voraus, dass der Widerspruch der Beigeladenen gegen den Abhilfe- und Zulassungsbescheid zulässig war. Da dieser jedoch bereits eine Entscheidung im Widerspruchsverfahren darstellte, war ein zweiter Widerspruch - auch durch einen [X.] - nicht mehr statthaft, so dass die Beklagte dem Widerspruch der Beigeladenen nicht hätte stattgeben dürfen.

Einen Widerspruch gegen den Abhilfe- oder Widerspruchsbescheid sieht die Verwaltungsgerichtsordnung nicht vor. Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO sind vor Erhebung der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Damit verfolgt der Gesetzgeber mehrere Zwecke: Zum einen soll das Vorverfahren eine Selbstkontrolle der Verwaltung durch die Widerspruchsbehörde ermöglichen. Zum anderen soll es einen effektiven individuellen Rechtsschutz gewährleisten, indem es für den Rechtsuchenden eine der gerichtlichen Kontrolle vorgelagerte und gegebenenfalls erweiterte [X.] eröffnet. Schließlich soll das Vorverfahren die Gerichte entlasten und auf diese Weise gerichtliche Ressourcen schonen ("Filterwirkung"). Diese dreifache normative Zwecksetzung des Widerspruchsverfahrens ist allgemein anerkannt. Da das Vorverfahren weder allein öffentlichen Interessen noch allein denen des Betroffenen dient, steht die Durchführung mit Blick auf die Zulässigkeit einer beabsichtigten Klage nicht zur Disposition der Beteiligten. Wegen der Funktionentrias sowie aus Gründen der Rechtssicherheit gilt der Grundsatz mangelnder Disponibilität der Beteiligten im Hinblick sowohl auf einen Verzicht als auch eine Wiederholung des Vorverfahrens. Zwar regelt § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO nur, dass es einer Nachprüfung in einem Vorverfahren nicht bedarf, wenn der Abhilfe- oder Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthält. Wollte man aus dieser Formulierung des Gesetzes den Schluss ziehen, der Betroffene könne erneut Widerspruch erheben, bestünde insbesondere in [X.] Rechtsverhältnissen mit Drittbetroffenen die Gefahr einer "Endlosschleife" sich wiederholender Widerspruchsverfahren. Mit dem Erlass des Abhilfe- oder Widerspruchsbescheids ist das Verwaltungsverfahren jedoch abgeschlossen, und die oben genannten Funktionen des Vorverfahrens sind erfüllt (vgl. BVerwG, NVwZ-RR 2014, 869 Rn. 12 ff.).

Entgegen der Ansicht der Beigeladenen scheidet ein weiteres Widerspruchsverfahren auch dann aus, wenn die Entscheidung im Widerspruchsverfahren eine erstmalige Beschwer eines [X.] enthält (vgl. [X.]/[X.] in [X.]/[X.], VwGO, Stand: August 2022, § 68 Rn. 17 mwN). Die Fassung des § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO geht auf einen Vorschlag des Bundesrates zurück, der gerade die vorliegende Konstellation vor Augen hatte, dass eine Behörde in einem Widerspruchsverfahren ihre eigene Entscheidung nachträglich abändert und durch diesen Abhilfebescheid erstmalig ein Dritter beschwert wird. Hier hat die Beklagte auf den Widerspruch der Klägerin ihren ablehnenden Bescheid vom 23. April 2020 aufgehoben und die Klägerin mit Bescheid vom 9. September 2020 als Syndikusrechtsanwältin zugelassen, wodurch erstmalig die Beigeladene beschwert worden ist. In der Stellungnahme des [X.] wird ausgeführt, dass die Klarstellung, dass im Falle der erstmaligen Belastung durch einen Abhilfebescheid nicht erneut Widerspruch hiergegen zu erheben ist, sondern unmittelbar das Verwaltungsgericht angerufen werden kann, der Beschleunigung der Verfahren und der Entlastung der [X.] diene, ohne dass die verfassungsrechtlich verbürgte Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes dadurch beeinträchtigt wäre (BT-Drucks. 13/3993, [X.]). Auch das [X.] hat entscheidend darauf abgestellt, dass insbesondere in [X.] Rechtsverhältnissen mit Drittbetroffenen die Gefahr einer "Endlosschleife" sich wiederholender Widerspruchsverfahren vermieden werden soll. Diesem Zweck würde es zuwiderlaufen, wenn jeder, der erstmalig durch einen Abhilfe- oder Widerspruchsbescheid beschwert ist, ein erneutes Widerspruchsverfahren anstrengen könnte.

c) Eine Umdeutung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 in einen Widerruf kommt nicht in Betracht. Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 [X.], § 47 Abs. 1 [X.] kann ein fehlerhafter und damit rechtswidriger Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Dies gilt nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwVfG nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes. Gemäß § 46b Abs. 2 Satz 1, § 14 Abs. 1 und 2 [X.] können sowohl die Rücknahme als auch der Widerruf der Zulassung als Syndikusrechtsanwalt nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen (vgl. [X.]/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl., § 14 [X.] Rn. 2; [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl., § 14 Rn. 16). Wie sich aus der Begründung des Bescheids vom 16. Dezember 2020 ergibt, kam es der Beklagten jedoch darauf an, dass auch für den Zeitraum vor der Beendigung der Tätigkeit der Klägerin keine Zulassung der Klägerin erfolgen sollte.

d) Die Anfechtungsklage führt im tenorierten Umfang zur Aufhebung des Bescheids vom 16. Dezember 2020, was zur Folge hat, dass die Klägerin aufgrund des bestehen bleibenden Bescheids vom 9. September 2020 für ihre Tätigkeit als Justiziarin des Dezernats für Kreisentwicklung, Wirtschaft und ländlicher Raum beim Landratsamt R.         als Syndikusrechtsanwältin bis zum 31. Oktober 2020 zugelassen ist.

Die Klägerin hat darauf hingewiesen, dass in dem Bescheid vom 9. September 2020 kein Datum des Beginns der Zulassung als Syndikusrechtsanwältin enthalten sei und der Senat entscheiden möge, ob die Zulassung der Klägerin ab dem 1. Juni 2019 oder ab dem 28. Oktober 2019 ausgesprochen werde. Dies gehört nicht zum Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens und kann vom Senat daher nicht entschieden werden. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass im Bescheid vom 9. September 2020 zwar nicht tenoriert worden ist, dass die Klägerin rückwirkend (erst) zu dem Zeitpunkt Mitglied der Rechtsanwaltskammer wird, zu dem der Antrag auf Zulassung dort eingegangen ist, dass dies aber nicht erforderlich war, da diese Wirkung der Zulassung unmittelbar durch § 46a Abs. 4 Nr. 2 [X.] angeordnet wird. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte der Klägerin gesetzlich nicht vorgesehene Rechtsfolgen einräumen und die Rückwirkung auf den Beginn der Tätigkeit zurückwirken lassen wollte, sind nicht ersichtlich.

Da die vom [X.] vorgenommene Tenorierung in Verbindung mit einem Teil der Gründe dafür spricht, dass der [X.] über das Klagebegehren der Klägerin hinausgegangen ist, ist das Urteil im Rahmen der Berufung der Beigeladenen teilweise aufzuheben und neu zu fassen. Dass der [X.] mit Beschluss vom 24. Mai 2022 ausgeführt hat, dass es sich in Ziffer 2 des Tenors lediglich um eine Klarstellung handle, ändert an der im Urteil erfolgten Tenorierung und der in den Gründen des angefochtenen Urteils erfolgten Bezugnahme auf § 113 Abs. 5 VwGO nichts.

2. Eine Änderung der Kostenentscheidung des [X.] kommt nicht in Betracht, da die teilweise Klageabweisung in Ziffer 3 nicht mit der Berufung angegriffen worden ist.

II.

Die Kostenentscheidung für die Kosten der Berufungsinstanz beruht auf § 112c Abs. 1 Satz 1 [X.], § 154 Abs. 2 und 3 VwGO. Da die Berufung der Beigeladenen in der Sache im Ergebnis keinen Erfolg hat, werden die Kosten der Beigeladenen auferlegt. Die Festsetzung des Streitwerts stützt sich auf § 194 Abs. 2 Satz 2 [X.].

Schoppmeyer     

  

Liebert     

  

Ettl

  

Lauer     

  

Niggemeyer-Müller     

  

Meta

AnwZ (Brfg) 14/22

20.07.2023

Bundesgerichtshof Senat für Anwaltssachen

Urteil

Sachgebiet: False

vorgehend Anwaltsgerichtshof Stuttgart, 7. Juni 2022, Az: AGH 1/21 II

§ 68 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.07.2023, Az. AnwZ (Brfg) 14/22 (REWIS RS 2023, 5661)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 5661

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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