Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.11.2021, Az. XII ZB 269/21

12. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 860

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Gegenstand

Betreuungssache: Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren


Leitsatz

Zieht das Beschwerdegericht in einer Betreuungssache für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Anhörung datiert, so ist eine erneute Anhörung des Betroffenen geboten (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 12. Mai 2021 - XII ZB 427/20, FamRZ 2021, 1312).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] vom 28. April 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Wert: 5.000 €

Gründe

I.

1

Die 1973 geborene Betroffene wendet sich gegen die Einrichtung einer Betreuung.

2

Das Amtsgericht hat nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens der Sachverständigen Dr. P. und nach Anhörung der Betroffenen mit Beschluss vom 1. Oktober 2020 für sie eine Betreuung mit den Aufgabenbereichen „Vermögenssorge, Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten von Post im Rahmen der übertragenen [X.], Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialversicherungsträgern, Wohnungsangelegenheiten, Vertretung in Erbschaftsangelegenheiten“ eingerichtet, eine Überprüfungsfrist auf den 30. September 2021 bestimmt und die Beteiligte zu 1 zur [X.] bestellt. Hiergegen hat sich die Betroffene mit ihrer Beschwerde gewendet. Das [X.] hat die Beteiligte zu 2 zur Verfahrenspflegerin bestellt und ein ergänzendes Sachverständigengutachten eingeholt. Dieses unter dem 26. April 2021 erstattete Gutachten des Sachverständigen Dr. E. ist am 28. April 2021 bei dem Gericht eingegangen. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat das [X.] die angefochtene Entscheidung abgeändert und die Betreuung - insoweit unter Zurückweisung des Rechtsmittels der Betroffenen - nur noch für den Aufgabenkreis Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung aufrechterhalten.

3

Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene weiterhin den vollständigen Wegfall der Betreuung.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

5

1. Die Entscheidung des [X.]s beruht - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - bereits deshalb auf [X.] getroffenen Feststellungen, weil es seine Ausführungen zu den medizinischen Voraussetzungen der Betreuung, zum Fehlen des freien Willens und zur subjektiven Betreuungsbedürftigkeit auf das von ihm im Beschwerdeverfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 26. April 2021 gestützt hat, welches der Betroffenen - ebenso wie den weiteren Verfahrensbeteiligten - vor Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht zur Kenntnis gebracht worden ist.

6

Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungsgrundlage erfordert gemäß § 37 Abs. 2 FamFG, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Das setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Senats voraus, dass der Betroffene vor der Entscheidung nicht nur im Besitz des schriftlichen Sachverständigengutachtens ist, sondern auch ausreichend Zeit hatte, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Januar 2021 - [X.] 411/20 - FamRZ 2021, 712 Rn. 7). Dem wird das Verfahren des [X.]s nicht gerecht.

7

2. Darüber hinaus hat das [X.] von der persönlichen Anhörung der Betroffenen abgesehen und dies damit begründet, dass eine Anhörung im ersten Rechtszug stattgefunden habe, der Betroffenen eine Verfahrenspflegerin bestellt worden sei und mit Rücksicht auf die sehr ausführlichen Darstellungen im Sachverständigengutachten, der Stellungnahme der Betreuungsbehörde und den schriftlichen Einlassungen der Betroffenen von einer erneuten Anhörung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten seien. Auch dies hält der Verfahrensrüge der Rechtsbeschwerde nicht stand. Diese beanstandet zu Recht, dass das [X.] die Betroffene unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG vor seiner Entscheidung nicht persönlich angehört hat.

8

a) Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflichten aus § 278 Abs. 1 FamFG bestehen nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Dezember 2020 - [X.] 315/20 - NJW-RR 2021, 386 Rn. 7).

9

b) Die Voraussetzungen, unter denen das [X.] von einer erneuten persönlichen Anhörung der Betroffenen hätte absehen dürfen, sind im vorliegenden Fall nicht gegeben.

aa) Zum einen ist die Anhörung in erster Instanz nicht verfahrensfehlerfrei erfolgt. Das Amtsgericht hat die Betroffene in Abwesenheit eines - erst nachträglich vom [X.] bestellten - [X.] angehört. Dies beanstandet die Rechtsbeschwerde zu Recht als [X.].

(1) Muss dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger zur Seite gestellt werden, hat das Betreuungsgericht durch dessen rechtzeitige Bestellung und dessen Benachrichtigung vom Anhörungstermin sicherzustellen, dass dieser an der Anhörung des Betroffenen teilnehmen kann. Erfolgt die Anhörung dennoch ohne die Möglichkeit einer Beteiligung des [X.], ist sie [X.] und verletzt den Betroffenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 - [X.] 57/19 - FamRZ 2019, 1356 Rn. 8 und vom 14. Februar 2018 - [X.] 465/17 - FamRZ 2018, 705 Rn. 7). Ausnahmsweise gilt nur dann etwas anderes, wenn das Gericht vor der Anhörung des Betroffenen die Erforderlichkeit der Bestellung eines [X.] nicht erkennen konnte und aus diesem Grunde daran gehindert war, den Verfahrenspfleger schon vor der abschließenden Anhörung des Betroffenen zu bestellen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 - [X.] 57/19 - FamRZ 2019, 1356 Rn. 9 und vom 14. Februar 2018 - [X.] 465/17 - FamRZ 2018, 705 Rn. 8).

(2) Ein solcher Ausnahmefall liegt hier offensichtlich nicht vor. Sowohl die Stellungnahme der Betreuungsbehörde vom 17. September 2020 als auch der Inhalt des in erster Instanz eingeholten Gutachtens der Sachverständigen Dr. P. legten schon vor der Durchführung der erstinstanzlichen Anhörung die Annahme nahe, dass sich die [X.] des Amtsgerichts - wie geschehen - auf einen Aufgabenkreis erstrecken kann, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung der Betroffenen umfasst. Unter diesen Umständen war die Bestellung eines [X.] gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG geboten (vgl. Senatsbeschluss vom 5. Mai 2021 - [X.] 510/20 - FamRZ 2021, 1239 Rn. 6 mwN). Die vom Amtsgericht gegebene Begründung, eine Verfahrenspflegerbestellung habe unterbleiben können, weil die Betreuungsbedürftigkeit der Betroffenen und die Eignung der vorgeschlagenen Betreuerin „offenkundig“ seien, ist evident rechtsfehlerhaft. Die Durchführung der Anhörung, ohne vorher einen Verfahrenspfleger zu bestellen und diesem die Gelegenheit zur Teilnahme an der Anhörung zu geben, verletzte die Betroffene in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör.

(3) An der Fehlerhaftigkeit des amtsgerichtlichen Verfahrens ändert sich auch nichts dadurch, dass das [X.] den Aufgabenkreis gegenüber der amtsgerichtlichen Entscheidung deutlich eingeschränkt hat. Auch im Beschwerdeverfahren stand noch die Aufrechterhaltung des gesamten vom Amtsgericht angeordneten [X.]s im Raum, weswegen das [X.] der Betroffenen - zu Recht - nachträglich einen Verfahrenspfleger bestellt hat.

bb) Zum anderen hat das [X.] in seiner Entscheidung das von ihm erst im Beschwerdeverfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 26. April 2021 verwertet. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung aber mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so sind von einer erneuten Anhörung des Betroffenen regelmäßig neue Erkenntnisse im Sinne des § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten, und es ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats schon deshalb eine erneute Anhörung im Beschwerdeverfahren geboten (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Mai 2021 - [X.] 427/20 - FamRZ 2021, 1312 Rn. 11 mwN). Denn erst die persönliche Anhörung des Betroffenen und der dadurch von ihm gewonnene Eindruck versetzen das Gericht in die Lage, seine Kontrollfunktion gegenüber dem (neuen) Sachverständigen sachgerecht auszuüben.

3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das [X.] zurückzuverweisen. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Dose     

      

Schilling     

      

[X.]

      

Botur     

      

Guhling     

      

Meta

XII ZB 269/21

24.11.2021

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Itzehoe, 28. April 2021, Az: 4 T 23/21

§ 68 Abs 3 S 1 FamFG, § 278 Abs 1 S 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.11.2021, Az. XII ZB 269/21 (REWIS RS 2021, 860)

Papier­fundstellen: MDR 2022, 520-521 REWIS RS 2021, 860

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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