Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.05.2021, Az. 1 StR 90/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 5860

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Gegenstand

Vorbehaltene Sicherungsverwahrung: Voraussetzungen der Anordnung im Nachverfahren


Tenor

Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des [X.] vom 18. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die mit Urteil des [X.]s Mosbach vom 9. Mai 2016 vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

1. Das [X.] verurteilte den Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Besitzes von Betäubungsmitteln unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen schweren Raubes aus einem Urteil des [X.]s Mosbach vom 8. April 2016 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Die in diesem Urteil ausgesprochene Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt hielt es aufrecht; ferner behielt es die Anordnung der Sicherungsverwahrung vor.

3

Das [X.] konnte gemäß § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht mit Sicherheit feststellen, dass die Voraussetzungen nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB vorlagen, hielt dies aber insgesamt für wahrscheinlich. Zwar stellte es einen Hang des Beschwerdeführers zu erheblichen rechtswidrigen Taten als sicher fest; eine daraus folgende Gefährlichkeit des Beschwerdeführers für die Allgemeinheit, insbesondere wegen auch zukünftig zu erwartender Gewaltdelikte, sah es jedoch nur als wahrscheinlich an. Die erforderliche Sicherheit in der Gefährlichkeitsprognose konnte das [X.] deswegen nicht gewinnen, weil es sich bei dem damals „22jährigen Angeklagten um einen noch sehr jungen und in seiner Persönlichkeit nicht in allen Bereichen endgültig entwickelten Täter handelt, bei dem die Möglichkeit besteht, seine Gefährlichkeit sowohl durch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als auch durch anschließende sozial- und psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen abzusenken“ ([X.]). Die Behandlung der Alkoholabhängigkeit im Rahmen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt konnte nach Auffassung des [X.]s die erforderliche Verminderung der Gefährlichkeit allein nicht erreichen.

4

2. Im Nachverfahren hat das [X.] nunmehr die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Es ist nun zu der Überzeugung gelangt, dass von dem Beschwerdeführer erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (§ 66a Abs. 3 Satz 2 StGB). Die [X.] gegen den erst 27 Jahre alten Verurteilten sei angesichts des Ausmaßes der von ihm ausgehenden Gefahr auch verhältnismäßig.

II.

5

Das Urteil hält einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Gefährlichkeitsprognose ist nicht tragfähig belegt.

6

1. Gemäß § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB ist die Sicherungsverwahrung im Nachverfahren anzuordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller prognostisch relevanten Umstände zu entwickeln. Sie erfordert eine umfassende Analyse der Täterpersönlichkeit und der bisherigen Legalbiographie des [X.]. Ergibt die Gesamtwürdigung aller Umstände, dass der Verurteilte erhebliche Straftaten begehen wird und deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist, so sind die materiellen Anforderungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Nachverfahren erfüllt ([X.], Beschluss vom 4. Februar 2021 - 4 StR 448/20 Rn. 9).

7

Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB setzt im Rahmen der Prüfung der Gefährlichkeit des Verurteilten nicht voraus, dass substantiell neue Tatsachen in dem strengen Sinne, wie sie von der Rechtsprechung für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung im Rahmen des § 66b StGB aF verlangt wurden, festgestellt worden sind. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass die Gefährlichkeitsprognose unter Einbeziehung neu hinzutretender prognoserelevanter Umstände seit Anordnung des Vorbehalts der Maßregel nunmehr eindeutig positiv begründet werden kann (BT-Drucks. 17/3403 S. 31; [X.], Beschluss vom 4. Februar 2021 - 4 StR 448/20 Rn. 13).

8

Die mit Fortschreiten des Lebensalters eintretenden Haltungsänderungen sowie etwaige Erkrankungen sind im Hinblick auf ihre Aussagekraft für eine künftige Legalbewährung zu bewerten und in die Gesamtwürdigung einzubeziehen. Ferner sind die Wirkungen des Strafvollzugs und mögliche Verhaltensänderungen des Verurteilten bis zur Entscheidung des Gerichts im Nachverfahren besonders in den Blick zu nehmen. Die Wirkungen des (langjährigen) Strafvollzugs sind regelmäßig unter Einbeziehung der Frage, ob und inwieweit der Verurteilte von den besonderen Behandlungsangeboten (vgl. § 66c StGB) zu profitieren vermochte, in die Gesamtwürdigung einzustellen. Schließlich ist auch die konkrete Entlassungssituation des Verurteilten in den Blick zu nehmen und zu prüfen, ob eine fortbestehende Gefährlichkeit durch flankierende Maßnahmen wie Auflagen und Weisungen, Therapiemaßnahmen oder durch die Unterbringung in einer betreuten Wohneinrichtung auf ein vertretbares Maß reduziert werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 4. Februar 2021 - 4 StR 448/20 Rn. 12). Zu dieser umfassenden Würdigung ist allein das Tatgericht berufen, dem dabei ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist ([X.], Beschluss vom 1. Juli 2020 - 6 StR 175/20 Rn. 6 mwN).

9

Die Erwägungen, auf die das Gericht seine Gefährlichkeitsprognose stützt, sind in den Urteilsgründen so vollständig und genau darzulegen, dass diese für das Revisionsgericht nachzuvollziehen ist. Wurde beim Ausspruch des Vorbehalts bereits die Gefährlichkeit mit hinreichender Sicherheit festgestellt, reicht es für die Anordnung der zunächst vorbehaltenen Sicherungsverwahrung aus, dass sich diese Überzeugung auch in der nachfolgenden Gesamtwürdigung, die auch die Entwicklung der verurteilten Person im Vollzug einbezieht, bestätigt, also jedenfalls nicht abschwächt (BT-Drucks. 17/3403 S. 31). Hielt das Gericht hingegen in der Ausgangsverurteilung - wie hier - eine Gefährlichkeit lediglich für wahrscheinlich, erfordert die Anordnung der Sicherungsverwahrung, dass sich diese Wahrscheinlichkeit aufgrund der neuen, auch hier die Entwicklung des [X.] seit der Aburteilung einbeziehenden Gesamtwürdigung nunmehr zur Überzeugung des Gerichts zur hinreichenden Sicherheit verfestigt hat. In einem solchen Fall hat das Tatgericht in den Urteilsgründen im Einzelnen vollständig, lückenlos und nachvollziehbar darzulegen, dass und aufgrund welcher zusätzlichen Tatsachen es nunmehr zu der positiven Feststellung gelangt ist, dass der Verurteilte für die Allgemeinheit gefährlich ist. Dabei sind insbesondere die Ergebnisse einer therapeutischen Behandlung des Verurteilten im Strafvollzug als neue Prognosetatsachen zu berücksichtigen. Es genügt regelmäßig nicht, lediglich die schon im Ausgangsverfahren bekannten Tatsachen neu zu bewerten (vgl. [X.], Beschluss vom 4. Februar 2021 - 4 StR 448/20 Rn. 14 und Urteil vom 7. Februar 2011 - 3 StR 394/10 Rn. 19).

2. Gemessen hieran halten die Erwägungen des [X.]s zur Gefährlichkeitsprognose - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen [X.] im Rahmen der Beweiswürdigung (vgl. [X.], Beschlüsse vom 11. April 2019 - 4 StR 69/19 Rn. 5 und vom 1. Juli 2020 - 6 StR 175/20 Rn. 7) - einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie sind lückenhaft.

a) Im Ausgangspunkt rechtsfehlerfrei hat das [X.] - gestützt auf die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen - dargelegt, dass die bei dem Verurteilten vorliegende dissoziale Persönlichkeitsstörung von grundlegender Bedeutung für die von ihm begangenen Taten und für die erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist. Ohne Rechtsfehler hat es dabei in den Blick genommen, dass sich bereits im Kindesalter begonnene externe Unterstützungsangebote als wirkungslos gegenüber den Verhaltensauffälligkeiten des Verurteilten erwiesen und dass verbindendes Element der zur Aburteilung gelangten Taten der kalkulierte, instrumentelle und von einer eklatanten Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Verletzten bestimmte Einsatz von Gewalt war. Auch durfte das [X.] in die Prognosebeurteilung einstellen, dass der Verurteilte strafrechtliche Sanktionen zu keinem Zeitpunkt zum Anlass für eine Veränderung seines Verhaltens nahm, unfähig war, aus negativen Erfahrungen zu lernen, und Alkoholkonsum als stets verfügbares Mittel zur Erzeugung des seinem dissozialen Selbstkonzept entsprechenden Lebensgefühls ansah.

b) Ebenfalls im Ansatz rechtsfehlerfrei hat das [X.] die Entwicklung des Verurteilten seit der Verurteilung vom 9. Mai 2016 und dabei insbesondere den Vollzugsverlauf in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) und der Strafhaft festgestellt ([X.] bis 16) und in die Gesamtwürdigung seiner Gefährlichkeit einbezogen ([X.] ff.). Rechtsfehlerfrei sind dabei die Ausführungen des [X.]s, mit denen es belegt, dass sich der Verurteilte bis Mai 2020 nicht auf die ihm angebotenen Möglichkeiten eines behandlungsorientierten Vollzugs einließ.

c) Lückenhaft und damit rechtsfehlerhaft sind jedoch im Rahmen der vorgenommenen Gesamtwürdigung zur Gefährlichkeitsprognose die Erwägungen des [X.]s zu Umständen, die für eine positive Entwicklung des Verurteilten während des Straf- und Maßregelvollzuges sprechen könnten.

Dabei hat das [X.] nicht verkannt, dass der Verurteilte nach den Angaben des psychiatrischen Sachverständigen nun seit Mai 2020 [X.] zuverlässig wahrnimmt und sich motiviert zeigt, erneut eine Sozialtherapie zu machen. Auch hat es in die Gesamtwürdigung zur Gefährlichkeit des Verurteilten einbezogen, dass der Verurteilte seit Ende Juli 2020 nur noch in geringem Umfang Kontakt zur Subkultur der russischstämmigen [X.] hält. Dieser Änderung im Verhalten des Verurteilten hat es aber mit nicht tragfähigen Erwägungen die Eignung abgesprochen, Zweifel an der Gefährlichkeit des Verurteilten zu begründen. Zwar ist im Ansatz die Annahme des [X.]s nicht zu beanstanden, dass bei dem Verurteilten die Verminderung des Risikos der Begehung weiterer erheblicher Straftaten grundsätzlich eine längerfristige sozialtherapeutische Behandlung voraussetzt. Das [X.] durfte dabei jedoch nicht ohne Weiteres unberücksichtigt lassen, dass es für die Zeit des nunmehr seit Januar 2016 andauernden [X.] keine gewaltsamen Auseinandersetzungen im Vollzug unter Beteiligung des Verurteilten festgestellt hat.

Soweit das [X.] der Ansicht ist, dass dieser Umstand der Gefährlichkeitsprognose nicht entgegenstehe, weil der Verurteilte aufgrund seiner Rangstellung innerhalb der Subkultur der russischstämmigen Mitgefangenen nicht auf die Anwendung von Gewalt angewiesen gewesen sei, verkennt es, dass diese Annahme nicht tragfähig beweiswürdigend belegt ist. Das [X.] schließt dies daraus, dass der Verurteilte im Vollzug allein durch seine bloße Präsenz für Ruhe auf dem Stockwerk habe sorgen können ([X.]). Auch diese Annahme des [X.]s ist indes nicht belegt. Genannt wird hierfür allein eine Bezugnahme des psychiatrischen Sachverständigen auf den Inhalt der Gefangenenpersonalakten. Näheres zum Inhalt der Gefangenenpersonalakten hat das [X.] jedoch nicht festgestellt. Auch sonst hat es keinerlei Feststellungen zum Umgang des Verurteilten mit den [X.] getroffen, die einen Schluss darauf zuließen, dass der Verurteilte von einer Gewaltausübung im Vollzug nur deswegen abgesehen haben könnte, weil er auch ohne physische Gewalt Macht über die Mitgefangenen ausüben und ihr Verhalten nach seinem Willen steuern konnte. Damit bleibt ein wesentlicher prognoserelevanter Umstand zur Frage der Gewaltbereitschaft des Verurteilten ohne Beleg. Um hierzu eine belastbare Aussage treffen zu können, hätte das [X.] nicht nur Feststellungen zu den dem Verurteilten unterbreiteten Therapieangeboten, sondern auch zum Umgang des Verurteilten gegenüber dem [X.] und den Mithäftlingen treffen müssen.

d) Schließlich hat das [X.] rechtsfehlerhaft auch die konkrete Entlassungssituation des Verurteilten nicht in den Blick genommen und insbesondere nicht geprüft, ob eine fortbestehende Gefährlichkeit durch flankierende Maßnahmen wie Auflagen und Weisungen, Therapiemaßnahmen oder durch die Unterbringung in einer betreuten Wohneinrichtung auf ein vertretbares Maß reduziert werden könnte.

e) Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Anordnung der (zunächst nur vorbehaltenen) Sicherungsverwahrung auf diesen Rechtsfehlern beruht. Die Frage, ob die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, bedarf daher neuer tatrichterlicher Prüfung.

Raum     

        

Jäger     

        

Bär     

        

Hohoff     

        

Leplow     

   

Meta

1 StR 90/21

17.05.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mosbach, 18. Dezember 2020, Az: 1 Js 7887/15 - 4 Ks

§ 66a Abs 3 S 2 StGB, § 224 StGB, § 249 StGB, § 250 StGB, § 29 BtMG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.05.2021, Az. 1 StR 90/21 (REWIS RS 2021, 5860)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5860

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6 StR 175/20

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