Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.12.2018, Az. 2 AZR 378/18

2. Senat | REWIS RS 2018, 429

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Gegenstand

Kündigung - Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung - Unwirksamkeitsanordnung gemäß § 95 Abs 2 S 3 SGB 9 in der vom 30. Dezember 2016 bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (seit dem 1. Januar 2018: § 178 Abs 2 S 3 SGB 9 2018)


Leitsatz

Die Unwirksamkeitsfolge des § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX in der vom 30. Dezember 2016 bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (seit dem 1. Januar 2018: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) tritt nicht ein, wenn der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch der Kündigung entsprechend den für die Beteiligung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 und Abs. 2 BetrVG geltenden Grundsätzen anhört.

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 8. Juni 2018 - 5 Sa 458/17 - aufgehoben, soweit es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 17. August 2017 - 8 [X.] 1122/17 - zurückgewiesen hat.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten vorrangig über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

2

Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer. Sie beantragte im Dezember 2016 die behördliche Zustimmung zu einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der seit 1981 bei ihr tätigen, einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Klägerin. Nachdem das Integrationsamt mit Bescheid vom 20. Februar 2017 seine Zustimmung erteilt hatte, hörte die Beklagte mit Schreiben vom 7. bzw. 15. März 2017 den Betriebsrat sowie die Schwerbehindertenvertretung zu ihrer Beendigungsabsicht an. Mit Schreiben vom 24. März 2017 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 30. September 2017.

3

Dagegen hat die Klägerin rechtzeitig die vorliegende Klage erhoben. Die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Überdies habe die Beklagte den Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt.

4

Die Klägerin hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - zuletzt beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 24. März 2017 zum 30. September 2017 beendet worden ist.

5

Die Beklagte hat zuletzt beantragt,

        

1.    

die Klage abzuweisen;

        

2.    

hilfsweise für den Fall des Unterliegens das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Abfindung gemäß §§ 9, 10 [X.] aufzulösen.

6

Die Klägerin hat beantragt, den [X.] abzuweisen.

7

Die Beklagte hat gemeint, die Kündigung sei aus Gründen im Verhalten der Klägerin gerechtfertigt. Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung seien korrekt angehört worden.

8

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben und den [X.] abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte den [X.], hilfsweise ihren [X.] weiter.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision hat Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte das [X.] der Klägerin nicht stattgeben und den [X.] der Beklagten nicht abweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet worden ist, kann der [X.] nicht selbst entscheiden. Das führt im Hinblick auf den Kündigungsschutz- und den [X.] zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

A. Mit der gegebenen Begründung durfte das [X.] nicht stattgeben. Seine Annahme, die Kündigung vom 24. März 2017 sei nach § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX in der vom 30. Dezember 2016 bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF; seit dem 1. Januar 2018: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) unwirksam, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

I. Gemäß § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX aF ist die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung nach Satz 1 ausspricht, unwirksam. Über § 68 Abs. 1 SGB IX aF (§ 151 Abs. 1 SGB IX nF) findet § 95 Abs. 2 SGB IX aF in gleicher Weise auf schwerbehinderten Menschen gleichgestellte behinderte Menschen - wie die Klägerin - Anwendung.

1. Mit Kündigung „eines schwerbehinderten Menschen“ ist diejenige seines Arbeitsvertrags gemeint. Von der Unwirksamkeitsanordnung werden ggf. alle Kündigungen erfasst, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen können (vgl. [X.]. 18/10523 S. 67), also sämtliche Beendigungs- und Änderungskündigungen (nicht hingegen [X.], dazu [X.] 18. Mai 2017 - 2 [X.] 721/16 - [X.]E 159, 148). Das gilt zum einen auch für Kündigungen in der Wartezeit des § 1 Abs. 1 [X.]. § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX aF (§ 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX nF) findet weder direkte noch analoge Anwendung (ganz [X.]; unentschieden [X.] 2017, 50, 53 f.). Zum anderen ist nicht erforderlich, dass die Kündigung im Zusammenhang mit der Behinderung steht. Die Auflösung seines Arbeitsverhältnisses „berührt“ den einzelnen schwerbehinderten oder einem solchen gleichgestellten behinderten Menschen stets iSv. § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF (§ 178 Abs. 2 Satz 1 [X.] nF), weil damit seine Teilhabe am Arbeitsleben in dem betreffenden Unternehmen beendet wird und die [X.] für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte behinderte Menschen erheblich schlechter stehen (vgl. [X.] in [X.]. § 178 Rn. 36). Deshalb unterfallen zB auch Kündigungen im Zuge einer Massenentlassung aufgrund einer vollständigen Betriebsstilllegung der Unwirksamkeitsdrohung.

2. Eine Beendigungs- oder Änderungskündigung ist unwirksam, wenn der Arbeitgeber sie „ohne eine Beteiligung“ der Schwerbehindertenvertretung „nach Satz 1“ ausspricht.

a) Mit „Beteiligung nach Satz 1“ sind allein die Unterrichtung und die Anhörung gemäß § 95 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB IX aF in Bezug genommen. Dagegen greift die [X.] nicht ein, wenn der Arbeitgeber „nur“ die Mitteilungspflicht nach § 95 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB IX aF verletzt (im Ergebnis ebenso Boecken [X.] 2017, 69, 79 f.; [X.] 2017, 50, 57 f.; [X.]/[X.] 19. Aufl. [X.] § 178 Rn. 10; aA [X.] in LPK-[X.] 5. Aufl. § 178 Rn. 58; [X.] [X.], 884, 887; [X.] in Hauck/Noftz [X.] Stand Dezember 2018 K § 95 Rn. 40; [X.]/Osnabrügge 6. Aufl. [X.] § 178 Rn. 31; [X.] 2017, 2293, 2297 f.; wohl auch [X.]/[X.] 4. Aufl. § 198 Rn. 148). Gemäß § 95 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF (§ 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX nF) ist die Durchführung oder Vollziehung einer „ohne Beteiligung nach Satz 1“ getroffenen Entscheidung auszusetzen. Danach umfasst die „Beteiligung nach Satz 1“ - auch iSd. § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX aF - ausschließlich die Schritte, die vor dem Treffen einer Entscheidung liegen. Hierzu rechnet die Mitteilung nicht. Denn mitzuteilen ist gemäß § 95 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB IX aF „die getroffene Entscheidung“. Der [X.] verbürgt der Schwerbehindertenvertretung für sich genommen keine Mitwirkung an der Willensbildung des Arbeitgebers, sondern soll bloß die Kontrolle ermöglichen, ob die Schwerbehindertenvertretung korrekt beteiligt worden ist. Seiner Verletzung kommt keine Bedeutung zu, wenn die Schwerbehindertenvertretung vor dem Vollzug der betreffenden Entscheidung ordnungsgemäß angehört worden ist. Dementsprechend ist ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht nicht einmal bußgeldbewehrt (vgl. § 156 Abs. 1 Nr. 9 SGB IX aF; § 238 Abs. 1 Nr. 8 SGB IX nF).

b) Eine Kündigung ist (nur) unwirksam, wenn der Arbeitgeber sie „ohne“ Beteiligung (Unterrichtung und Anhörung) der Schwerbehindertenvertretung „ausspricht“. Insofern gelten die gleichen Grundsätze wie zur - ebenfalls eine Unterrichtung voraussetzenden - Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 und Abs. 2 [X.].

aa) Die [X.] tritt nicht ein, wenn der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß anhört.

(1) Zwar ist die Schwerbehindertenvertretung gemäß § 95 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 [X.] aF grds. unverzüglich zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Jedoch kann (und muss ggf.) eine verspätete Beteiligung nach § 95 Abs. 2 Satz 2 [X.] aF nachgeholt werden. [X.] besteht kraft Gesetzes. Eines Antrags der Schwerbehindertenvertretung bedarf es - anders als im Fall des § 95 Abs. 4 Satz 2 SGB IX aF (§ 178 Abs. 4 Satz 2 [X.] nF) - nicht ([X.] in [X.] Schwerbehindertenrecht Stand Juni 2017 § 95 Rn. 228; im Ergebnis auch [X.] in [X.]. § 178 Rn. 77; [X.] [X.] 2017, 69, 92 f.; [X.] 2017, 126, 130; [X.] in Hauck/[X.] Stand Dezember 2018 K § 95 Rn. 40; [X.] [X.]/[X.] 4. Aufl. § 198 Rn. 150; wohl auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.]. § 178 Rn. 11a; widersprüchlich [X.] SGB IX 11. Aufl. § 95 Rn. 83 „auf ihr Verlangen“, Rn. 85 „ohne … eines Antrags“). Die im Gesetz vorgesehene [X.] ist keine Ausschlussfrist ([X.] aaO; [X.] aaO; [X.] GK-SGB IX Stand Dezember 2018 § 178 Rn. 66). [X.] besteht vielmehr, bis die Entscheidung durchgeführt oder vollzogen ist (vgl. [X.] 30. April 2014 - 7 [X.] - Rn. 37, [X.]E 148, 97). Erfolgen Unterrichtung und Anhörung vor Durchführung bzw. Vollzug der Entscheidung, liegt - doch noch - eine „Beteiligung nach Satz 1“ vor (vgl. [X.] 22. August 2013 - 8 [X.] 563/12 - Rn. 58; [X.] 26. September 2018 - 14 MB 1/18 - zu 2 e der Gründe: „Heilung“). [X.] geht auf § 22 Abs. 2 Satz 2 [X.] (in der Fassung des [X.] zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes vom 24. Juli 1986, [X.] I S. 1110) zurück. Sie wurde gerade im Hinblick auf personelle Einzelmaßnahmen - wie eine Kündigung - eingeführt ([X.]. 10/5701 S. 7 f.).

(2) [X.] wird im Fall einer beabsichtigten Kündigung nicht durch die „neue“ Unwirksamkeitsanordnung in § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX aF verdrängt (Boecken [X.] 2017, 69, 92 f.; [X.]/Freh [X.]B 2017, 16, 17; [X.], 852, 855; [X.] 2017, 126, 130 f.; [X.]/Osnabrügge 6. Aufl. [X.] § 178 Rn. 32; [X.] 2017, 2293, 2297; Schnelle [X.], 880, 881; [X.]/[X.] 4. Aufl. § 198 Rn. 150; aA Bayreuther [X.], 87, 90 f.; [X.] 2017, 50, 58; [X.] in LPK-[X.] 5. Aufl. § 178 Rn. 79; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.]. § 178 Rn. 11i; [X.]/[X.] 19. Aufl. [X.] § 178 Rn. 9 f.). Gesetzeswortlaut und Gesetzessystematik liefern dafür keinen Anhaltspunkt. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers schließen sich [X.] und [X.] nicht gegenseitig aus. Sie dienen im Gegenteil dem gleichen Zweck. Beide sollen den Beteiligungsanspruch der Schwerbehindertenvertretung sichern. § 95 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF verlangt, dass die Schwerbehindertenvertretung jedenfalls vor Durchführung oder Vollziehung einer Entscheidung unterrichtet und angehört wird. Der Nachholungsanspruch gehört zum Beteiligungsanspruch der Schwerbehindertenvertretung ([X.]. 18/10523 S. 67). Er stellt sicher, dass diese auf die Willensbildung des Arbeitgebers Einfluss nehmen kann und wird seinerseits durch die Unwirksamkeitsandrohung gestärkt: Wenn sogar eine Nachholung unterbleibt, ist die Kündigung unwirksam. Würde der Nachholungsanspruch durch die [X.] verdrängt oder doch faktisch entwertet, weil die Kündigung trotz Nachholung unwirksam „bliebe“, würden die Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung gerade im Zusammenhang mit der drohenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne sachliche Rechtfertigung verkürzt (zutreffend [X.] [X.] 2017, 370). Dagegen kann nicht eingewandt werden, aufgrund der Unwirksamkeit der - ersten - Kündigung müsse der Arbeitgeber „das Beteiligungsverfahren“ noch einmal „ganz von vorne“ durchlaufen, wenn er erneut kündigen wolle. Zum einen handelte es sich nicht um dasselbe Beteiligungsverfahren, weil es eine „neue“ Kündigungsentscheidung beträfe. Zum anderen wäre eine weitere Kündigung samt einem darauf bezogenen Beteiligungsverfahren entbehrlich, wenn der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit der - ersten und dann einzigen - Kündigung nach § 95 Abs. 2 Satz 3 [X.] aF nicht rechtzeitig iSv. §§ 4, 6 [X.] gerichtlich geltend machte. Die Kündigung, auf deren Ausspruch die Schwerbehindertenvertretung keinen Einfluss nehmen konnte, gölte dann nach § 7 [X.] als von Anfang an rechtswirksam. Schließlich werden die besonderen Vorgaben in § 95 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB IX aF aufgrund der [X.] gemäß § 95 Abs. 2 Satz 2 [X.] aF nicht etwa bedeutungslos. Der Arbeitgeber verwirklicht den [X.] des § 156 Abs. 1 Nr. 9 SGB IX aF, wenn er die Schwerbehindertenvertretung entgegen § 95 Abs. 2 Satz 1 [X.] aF nicht „rechtzeitig“ unterrichtet oder anhört.

(3) Die Anhörung muss zur Abwendung der Unwirksamkeit der Kündigung nicht schon erfolgen, bevor der Arbeitgeber den Betriebs- oder Personalrat beteiligt oder das [X.] um Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung ersucht (vgl. [X.] [X.], 884, 886; [X.]/[X.] 4. Aufl. § 198 Rn. 144; [X.] 2017, 83, 84 f.; aA zum Antrag auf Erteilung der Zustimmung an das [X.]: Bayreuther [X.], 87, 90; Boecken [X.] 2017, 69, 94 f.; [X.] öAT 2018, 27; [X.] in LPK-[X.] 5. Aufl. § 178 Rn. 60; [X.]/[X.] in [X.]/Voelzke jurisPK-SGB IX Stand 22. August 2018 § 178 Rn. 26; [X.]/Freh [X.]B 2017, 16, 17; [X.] in [X.] Schwerbehindertenrecht Stand Juni 2017 § 95 Rn. 198; [X.], 852, 854; FKS-[X.]/[X.] 4. Aufl. § 178 Rn. 31; [X.]/[X.] NJW 2017, 1369, 1371; [X.]/[X.] 19. Aufl. [X.] § 178 Rn. 9; [X.] 2017, 2293, 2298). Die Kündigungsentscheidung wird erst durch den [X.] „vollzogen“. Mit der Beteiligung des [X.] oder dem Antrag auf Erteilung der Zustimmung an das [X.] nimmt der Arbeitgeber die beabsichtigte Beendigung des Arbeitsverhältnisses weder vorweg noch legt er sie fest (zu bloß der Vorbereitung einer personalvertretungsrechtlichen „Maßnahme“ dienenden Handlungen vgl. BVerwG 17. Mai 2017 - 5 P 2.16 - Rn. 10).

bb) Der Arbeitgeber hört die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß an, wenn er sie ausreichend unterrichtet und ihr genügend Gelegenheit zur Stellungnahme gibt.

(1) Die Unterrichtung muss die Schwerbehindertenvertretung in die Lage versetzen, auf die Willensbildung des Arbeitgebers einzuwirken. Dabei besteht „keine Reduzierung des [X.] auf schwerbehindertenspezifische Kündigungsbezüge“ ([X.] in [X.]. § 178 Rn. 62; vgl. auch Boecken [X.] 2017, 69, 75; [X.] öAT 2018, 27, 28; [X.]/[X.] in [X.]/Voelzke jurisPK-[X.] Stand 22. August 2018 § 178 Rn. 28 f.; [X.], 852, 854; [X.] 2017, 126, 129; FKS-[X.]/[X.] 4. Aufl. § 178 Rn. 32; [X.] [X.], 884, 885; [X.]/Osnabrügge 6. Aufl. [X.] § 178 Rn. 30; [X.]/[X.] 19. Aufl. [X.] § 178 Rn. 9; [X.]/[X.] 4. Aufl. § 198 Rn. 146; aA Bayreuther [X.], 87, 89; [X.] 2017, 50, 55; [X.]/[X.] NJW 2017, 1369, 1370; [X.] [X.] 2017, 84, 86; [X.] 2017, 2293, 2296). Zum einen ist die Schwerbehindertenvertretung mandatiert, die Interessen von schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten behinderten Menschen umfassend zu vertreten (vgl. § 95 Abs. 1 SGB IX aF; § 178 Abs. 1 SGB IX nF). Das schließt es ein, „nicht behinderungsspezifische“ Einwände gegen eine beabsichtigte Kündigung zu erheben. Zum anderen muss die Schwerbehindertenvertretung selbst beurteilen können, ob sie einen Bezug der beabsichtigten Kündigung zur Behinderung des betreffenden Arbeitnehmers für gegeben erachtet. Deshalb bleibt der notwendige Inhalt der Unterrichtung nicht hinter demjenigen für die Anhörung des Betriebsrats zurück. Der Arbeitgeber hat der Schwerbehindertenvertretung „die Gründe für die Kündigung“ iSv. § 102 Abs. 1 Satz 2 [X.] mitzuteilen. Er muss den Sachverhalt, den er zum Anlass für die Kündigung nehmen will, so umfassend beschreiben, dass sich diese ohne zusätzliche eigene Nachforschungen ein Bild über die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe machen und beurteilen kann, ob es sinnvoll ist, Bedenken zu erheben. Der Arbeitgeber muss die Umstände mitteilen, die seinen [X.] tatsächlich bestimmt haben. Dabei darf er Umstände, die sich bei objektiver Betrachtung zugunsten des Arbeitnehmers auswirken können, der Schwerbehindertenvertretung nicht deshalb vorenthalten, weil sie für seinen [X.] nicht von Bedeutung waren (zum Grundsatz der subjektiven Determinierung und dessen objektiven Schranken [X.] 16. Juli 2015 - 2 [X.] 15/15 - Rn. 14 ff., [X.]E 152, 118). Neben dem Kündigungssachverhalt sind der Grad der Behinderung des Arbeitnehmers und ggf. die Gleichstellung sowie grds. die weiteren Sozialdaten (Beschäftigungsdauer, Lebensalter, Unterhaltspflichten) mitzuteilen (vgl. [X.] in [X.]. § 178 Rn. 62). Von der Unwirksamkeit einer Kündigung wegen fehlerhafter Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung zu einem Kündigungsgrund ist - entsprechend den Grundsätzen zur Anhörung des Betriebsrats - der Fall zu unterscheiden, dass bestimmte Kündigungsgründe mangels diesbezüglicher Beteiligung der Vertretung im Rechtsstreit nicht berücksichtigt werden können (vgl. [X.] 18. Oktober 2006 - 2 [X.] 676/05 - Rn. 35).

(2) Der Arbeitgeber muss die Schwerbehindertenvertretung nicht nur ausreichend unterrichten, sondern ihr auch genügend Gelegenheit zur Stellungnahme geben ([X.] 20. Juni 2018 - 7 [X.] - Rn. 15; 14. März 2012 - 7 [X.] - Rn. 21).

(a) Hinsichtlich der Stellungnahmefristen enthält das Gesetz seit Einführung der [X.] eine planwidrige Regelungslücke. Sie ist durch eine analoge Anwendung von § 102 Abs. 2 [X.] zu schließen (Bayreuther [X.], 87, 90; [X.] [X.] 2017, 370; Boecken [X.] 2017, 69, 76 f.; [X.]/Freh [X.]B 2017, 16, 18; [X.] 2017, 50, 56; [X.] 2017, 2293, 2297; Schnelle [X.], 880, 882; [X.] 2017, 83, 85 f.). Das hat zur Folge, dass die Schwerbehindertenvertretung etwaige Bedenken gegen eine beabsichtigte ordentliche Kündigung spätestens innerhalb einer Woche und solche gegen eine beabsichtigte außerordentliche Kündigung unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Tagen mitzuteilen hat. Einer ausdrücklichen Fristsetzung durch den Arbeitgeber bedarf es nicht (aA [X.]/[X.] NJW 2017, 1369, 1370; [X.] 2017, 2293, 2297; [X.]/[X.] 8. Aufl. § 178 [X.] Rn. 5; [X.]/[X.] 4. Aufl. § 198 Rn. 147). Eine entsprechende Anwendung der Fristenregelungen in dem ggf. einschlägigen Personalvertretungsgesetz scheidet aus (aA [X.] öAT 2018, 27, 28; [X.] in LPK-[X.] 5. Aufl. § 178 Rn. 66; [X.]/[X.] 19. Aufl. [X.] 178 Rn. 10; [X.]/[X.] in [X.]/Voelzke jurisPK-[X.] Stand 22. August 2018 § 178 Rn. 31; [X.]/Osnabrügge 6. Aufl. [X.] 178 Rn. 31; [X.]/[X.] 4. Aufl. § 198 Rn. 147). Es ist nicht ersichtlich, dass der Bundesgesetzgeber das für private und öffentliche Arbeitgeber unterschiedslos vorgesehene Verfahren zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung insofern verschieden ausgestalten und sogar innerhalb des öffentlichen Dienstes - teils erheblich - unterschiedliche Fristenregime eingreifen lassen wollte. Vor allem ist die Schwerbehindertenvertretung - wie der Betriebsrat - in jedem Fall „lediglich“ anzuhören, während die [X.] teils einem Mitwirkungs- oder sogar Mitbestimmungserfordernis unterwerfen.

(b) Das Anhörungsverfahren ist beendet, wenn die Frist zur Stellungnahme durch die Schwerbehindertenvertretung abgelaufen ist oder eine das Verfahren abschließende Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung vorliegt (zu den - hohen - Anforderungen an eine solche vgl. für die Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 [X.] [X.] 25. Mai 2016 - 2 [X.] 345/15 - Rn. 24 ff., [X.]E 155, 181).

II. Die danach maßgeblichen Grundsätze hat das [X.] nicht genügend beachtet. Es hat verkannt, dass die Beklagte die Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung mit Schreiben vom 15. März 2017 jedenfalls „nachgeholt“ und sie auf dieser Basis noch vor Ausspruch der Kündigung am 24. März 2017 ordnungsgemäß angehört haben könnte.

B. Der [X.] kann aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend über den Kündigungsschutzantrag entscheiden.

I. Es ist offen, ob die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß beteiligt hat.

1. Der [X.] kann zum einen nicht selbst beurteilen, ob die Beklagte die Vertretung korrekt unterrichtet hat. Die Beklagte hat dazu zwar schlüssig vorgetragen. Das [X.] hat jedoch keine Feststellungen zu den diesbezüglichen Einwänden der Klägerin getroffen.

2. Der [X.] kann zum anderen nicht selbst entscheiden, ob die Beklagte die Kündigung erst nach Abschluss des Anhörungsverfahrens ausgesprochen hat. Das [X.] hat nicht festgestellt, wann der Schwerbehindertenvertretung das Schreiben vom 15. März 2017 zugegangen ist. Auch hat es nicht geprüft, ob die Schwerbehindertenvertretung mit ihrem Schreiben vom 21. März 2017 abschließend zu der Angelegenheit Stellung genommen hat.

3. Ergänzende Feststellungen zu diesen Punkten sind nicht deshalb entbehrlich, weil die Unwirksamkeit der Kündigung vom 24. März 2017 mangels ordnungsgemäßer Anhörung der Schwerbehindertenvertretung eine unzulässige Rückwirkung darstellte. Die Beklagte war schon nach der Anfang Dezember 2016 geltenden Gesetzeslage verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung vor einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin zu unterrichten und anzuhören. Überdies hatte es die Beklagte auch nach Inkrafttreten von § 95 Abs. 2 Satz 3 [X.] aF am 30. Dezember 2016 weiter in der Hand, die Schwerbehindertenvertretung ausreichend zu beteiligen.

II. Der Betriebsrat könnte ordnungsgemäß angehört worden sein. Insofern kommt es ebenfalls nicht darauf an, wann die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung iSv. § 95 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 [X.] aF über ihre Kündigungsabsicht zu unterrichten hatte. Die Beklagte musste die Schwerbehindertenvertretung auch nicht zu ihrer Absicht anhören, das Verfahren nach § 102 [X.] einzuleiten. Die - rechtzeitige - Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ist nicht Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats. Vielmehr bestehen beide Verfahren gleichrangig nebeneinander (vgl. [X.]. 18/10523 S. 67).

III. Die Beklagte hat die Kündigung mit Zustimmung des [X.]s erklärt, § 85 SGB IX aF (§ 168 SGB IX nF). Widerspruch und Anfechtungsklage vor den Verwaltungsgerichten haben nach § 88 Abs. 4 SGB IX aF (§ 171 Abs. 4 SGB IX nF) keine aufschiebende Wirkung. Die Gerichte für Arbeitssachen sind nicht befugt, selbst zu entscheiden, ob die Zustimmung zu Recht erteilt worden ist ([X.] 23. Mai 2013 - 2 [X.] 991/11 - Rn. 20, [X.]E 145, 199).

IV. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, ob die Beklagte die Kündigung in der Monatsfrist des § 88 Abs. 3 SGB IX aF (§ 171 Abs. 3 SGB IX nF) ausgesprochen hat.

V. Die Kündigung könnte aus Gründen im Verhalten der Klägerin sozial gerechtfertigt sein, § 1 Abs. 2 [X.]. Insofern hätte die Beklagte ggf. darzulegen, dass durch ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX aF (§ 167 Abs. 1 SGB IX nF) die Kündigung nicht hätte vermieden werden können. In diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob die Entscheidung des [X.]s vom 7. Dezember 2006 (- 2 [X.] 182/06 - Rn. 28, [X.]E 120, 293) so zu verstehen ist, dass dem Arbeitgeber eine Vortragserleichterung allein aufgrund der Tatsache zukommt, dass das [X.] der Kündigung zugestimmt hat (zur Zustimmung des [X.]s gemäß § 91 Abs. 4 [X.] aF zu einer außerordentlichen Kündigung vgl. [X.] 25. Januar 2018 - 2 [X.] 382/17 - Rn. 54). Denn jedenfalls spräche alles für die Annahme, ein Präventionsverfahren hätte die Kündigung nicht verhindern helfen können, wenn das [X.] weder eine Abmahnung noch eine Um- oder Versetzung als mildere Mittel ansehen sollte (vgl. insoweit auch [X.] 7. Dezember 2006 - 2 [X.] 182/06 - Rn. 31, aaO). Andernfalls stellte sich die Kündigung ungeachtet der Durchführung eines Präventionsverfahrens als unverhältnismäßig dar.

C. Das angefochtene Urteil unterliegt auch hinsichtlich des [X.]s der Aufhebung. Die Beklagte hat ihn als echten Hilfsantrag für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag, die Kündigungsschutzklage abzuweisen, gestellt. Sollte der [X.] im fortgesetzten Berufungsverfahren zur Entscheidung anfallen, wird ihn das [X.] erneut als „unstatthaft“ abweisen, wenn sich die Kündigung - auch - als nach § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX aF unwirksam erweisen sollte. Die Vorschrift rechnet zu den sonstigen, zumindest auch den Arbeitnehmer schützenden Unwirksamkeitsgründen, die einen arbeitgeberseitigen [X.] „sperren“ (dazu [X.] 24. November 2011 - 2 [X.] 429/10 - Rn. 19, [X.]E 140, 47; 27. September 2001 - 2 [X.] 389/00 - zu II 1 der Gründe). Sollte die Kündigung sich lediglich als sozialwidrig darstellen, wird das Berufungsgericht prüfen müssen, ob Gründe iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 [X.] vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Parteien nicht erwarten lassen.

        

    Rachor    

        

    Schlünder    

        

    Niemann    

        

        

        

    Krüger    

        

    [X.]    

                 

Meta

2 AZR 378/18

13.12.2018

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Leipzig, 17. August 2017, Az: 8 Ca 1122/17, Urteil

§ 95 Abs 2 S 3 SGB 9, § 178 Abs 2 S 3 SGB 9 2018, § 102 Abs 1 BetrVG, § 102 Abs 2 BetrVG, § 1 Abs 1 KSchG, § 90 Abs 1 Nr 1 SGB 9, § 173 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 9 2018, § 95 Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB 9, § 178 Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB 9 2018, § 9 Abs 1 S 2 KSchG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.12.2018, Az. 2 AZR 378/18 (REWIS RS 2018, 429)

Papier­fundstellen: MDR 2019, 427-428 NJW 2019, 1016 REWIS RS 2018, 429

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Referenzen
Wird zitiert von

5 Sa 231/20

15 Sa 426/18

11 Sa 786/21

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