Bundesgerichtshof, Urteil vom 06.07.2016, Az. IV ZR 169/15

4. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 8712

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Gegenstand

Private Krankenversicherung: Voraussetzungen der rückwirkenden Einstufung in den Notlagentarif


Leitsatz

Die rückwirkende Einstufung in den Notlagentarif des § 12h VAG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung gemäß Art. 7 Satz 2 EGVVG setzt voraus, dass ein Ruhen der Leistungen noch bei Inkrafttreten der Regelung am 1. August 2013 vorgelegen hat.

Tenor

Auf die Rechtsmittel des Klägers wird das Urteil der 10. Zivilkammer des [X.] vom 29. Januar 2015 aufgehoben und der Beklagte unter Abänderung des Urteils des [X.] vom 13. August 2014 verurteilt, an den Kläger 2.334,76 € nebst 1% Säumniszuschlag pro angefangenem Monat aus 243,90 € seit Mai 2012 und aus je 429,52 € seit Juni, Juli, August, September, Oktober, November und Dezember 2012 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Kläger, ein Krankenversicherungsverein auf Gegenseitigkeit, macht gegen den bei ihm krankenversicherten [X.]n Ansprüche auf Zahlung rückständiger Prämien für den Zeitraum Mai 2012 bis Dezember 2012 geltend.

2

Die monatliche Prämie betrug ursprünglich 429,52 €. Nachdem der [X.] mit deren Zahlung in Verzug geraten war, stellte der Kläger mit Schreiben vom 3. Mai 2011 das Ruhen der Leistungen fest.

3

Vom 25. März 2013 bis 14. November 2013 befand sich der [X.] in Strafhaft. Weil er in dieser Zeit über die Justizbehörde krankenversichert war, bot der Kläger ihm mit Schreiben vom 8. Mai 2013 den Abschluss einer Anwartschaftsversicherung für die Haftdauer an. Dieses Angebot nahm der [X.] unter dem 22. Mai 2013 an.

4

Am 21. Dezember 2012 zahlte er einen Betrag von 1.389,54 €, wovon der Kläger den überwiegenden Teil auf ältere, teilweise bereits titulierte Beitragsforderungen sowie auf [X.] und lediglich 185,62 € auf den streitgegenständlichen Prämienzeitraum verrechnete. Jeweils weitere 429,52 € leistete der [X.] am 8. März und am 28. Mai 2013 sowie 56,74 € am 7. August 2013.

5

Er ist der Auffassung, dass damit alle Beitragsrückstände ausgeglichen seien, weil er gemäß der zum 1. August 2013 in [X.] getretenen Gesetzesänderung des § 193 VVG i.V.m. Art. 7 [X.] rückwirkend ab Mai 2011 in den [X.] nach § 12h [X.] (in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung, im Folgenden § 12h [X.] a.F.) einzustufen sei. Die monatliche Prämie in diesem Tarif betrug nur 100,92 €.

6

Der Kläger meint, eine rückwirkende Einstufung in den [X.] scheide aus, weil zum Stichtag 1. August 2013 kein ruhendes Versicherungsverhältnis mehr bestanden habe. Er hat zuletzt eine Forderung in Höhe von 2.334,76 € nebst Säumniszuschlägen sowie [X.] in Höhe von 0,69 € geltend gemacht.

7

In den Vorinstanzen ist die Klage erfolglos geblieben.

8

Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Schlussanträge aus der Berufungsinstanz weiter.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision hat Erfolg.

I. Das Berufungsgericht hat angenommen, dass die [X.] des Klägers erfüllt seien, weil für die Berechnung der Prämienhöhe der gesetzliche [X.] nach § 12h [X.] zugrunde zu legen sei. Der Regelung des Art. 7 [X.] lasse sich eine Voraussetzung des Inhalts, dass auch für die rückwirkende Einstufung in den [X.] eine am 1. August 2013 noch bestehende [X.] nach § 193 Abs. 6 [X.] vorliegen müsse, nicht entnehmen.

II. Das hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Zu der Rechtsfrage, ob die Regelung des Art. 7 Satz 2 [X.] voraussetzt, dass die Leistungen aus dem [X.] noch gemäß § 193 Abs. 6 [X.] ruhend gestellt sind, werden in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedliche Auffassungen vertreten.

a) Ebenso wie die Vorinstanzen sind auch das [X.] ([X.], 440) und das [X.] (r+s 2015, 454) der Ansicht, dass die in Art. 7 Satz 2 [X.] angeordnete Rückwirkung des [X.] nicht voraussetze, dass die Versicherungsleistungen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der gesetzlichen Regelung noch ruhend gestellt waren.

Diese Gerichte meinen, dass der Wortlaut des Gesetzes eine Einschränkung der angeordneten Rückwirkung auf am 1. August 2013 ruhend gestellte Verträge nicht enthalte und auch Sinn und Zweck des Gesetzes gegen eine dahingehende einschränkende Auslegung der [X.] sprächen. Die vom Gesetzgeber beabsichtigte Erleichterung der Schuldenlast werde anderenfalls verfehlt; insbesondere würden die finanziell besonders schwachen Versicherungsnehmer, die hilfebedürftig im Sinne des [X.] sind, von der Begünstigung ausgeschlossen ([X.] aaO juris Rn. 31-36; [X.] aaO juris Rn. 43-45).

b) Gegenteiliger Auffassung sind das [X.] (r+s 2014, 85; zustimmend [X.] in [X.]/[X.], [X.] 29. Aufl. § 193 Rn. 45), das [X.] (r+s 2016, 136), das [X.] ([X.], 1015) jedenfalls für den Fall, dass das Versicherungsverhältnis am 1. August 2013 vollständig beendet war, sowie im Schrifttum [X.] (in HK-[X.], 3. Aufl. Art. 7 [X.] Rn. 3 f.) und [X.] ([X.], 818).

Zur Begründung wird vor allem angeführt, aus der Gesetzesbegründung zur Neufassung des Art. 7 [X.] (Beschlussempfehlung und Bericht des [X.] (14. Ausschuss), BT-Drucks. 17/13947 S. 31 f. zu Artikel 5) ergebe sich, dass der Gesetzgeber nur die Beitragsschuldner im Blick gehabt habe, deren Verträge bei Inkrafttreten der Regelung noch fortbestanden, und eine Gleichstellung von Versicherten, bei denen das Ruhen der Leistungen bis zum 1. August 2013 andauerte, mit denjenigen Altschuldnern, bei denen das Ruhen der Leistungen bereits vor dem 1. August 2013 beendet war, durch die neue Rechtslage nicht beabsichtigt worden sei ([X.] aaO Rn. 13-15; [X.] aaO; [X.] aaO S. 819) und dass eine dementsprechend enge Auslegung der Vorschrift auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten sei, weil die rückwirkende Einführung eines [X.] eine nur ausnahmsweise zulässige echte Rückwirkung darstelle ([X.] aaO; [X.] aaO Rn. 4; [X.] aaO S. 820). Teilweise wird auch darauf verwiesen, dass die in § 193 Abs. 8 [X.] geregelte Belehrungspflicht des Versicherers nur für einen noch bestehenden und auf den [X.] umgestellten [X.] einen Sinn ergebe ([X.] aaO; [X.] aaO).

Zudem folge schon aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes, dass von der rückwirkenden Regelung nur solche [X.] erfasst würden, die zum 1. August 2013 noch ruhend gewesen seien, weil der Gesetzgeber sich des Passiv Perfekts bedient habe ("ruhend gestellt worden sind") und die Versicherungsnehmer "ab" diesem Zeitpunkt als im [X.] versichert gelten ([X.] aaO S. 818).

2. Zutreffend ist die zuletzt genannte Auffassung, nach der Art. 7 Satz 2 [X.] nur anzuwenden ist, wenn ein Ruhen der Leistungen noch bei Inkrafttreten der Regelung am 1. August 2013 vorgelegen hat.

a) Dies folgt in erster Linie aus Wortlaut und Systematik des Art. 7 [X.].

Danach kann die Regelung über die rückwirkende Geltung des [X.] in Art. 7 Satz 2 bis 6 [X.] nicht losgelöst von dem in Art. 7 Satz 1 [X.] enthaltenen Grundtatbestand gesehen werden, nach der solche Versicherungsnehmer als im [X.] versichert gelten, für die am 1. August 2013 das Ruhen der Leistungen gemäß § 193 Abs. 6 [X.] festgestellt ist. Diese Grundvoraussetzung muss auch für die nach Maßgabe der Sätze 2 bis 6 vorgesehene zeitliche Rückwirkung erfüllt sein. Denn Art. 7 Satz 2 [X.] ordnet seinem Wortlaut nach nur an, dass der [X.] unter den dort genannten Voraussetzungen "ab" einem früheren Zeitpunkt gilt als nach der Grundregel des Satzes 1 vorgesehen.

Ein hiervon abweichender Wille des Gesetzgebers dahingehend, dass nicht nur rückwirkend eine zeitliche Ausdehnung der Geltung des [X.] stattfinden soll, sondern von ihr auch solche Versicherungsnehmer erfasst sein sollen, für die die Regelung des Art. 7 Satz 1 [X.] nicht gilt, weil ein Ruhen der Leistungen nur für einen früheren Zeitraum in der Vergangenheit vorgelegen hat, kommt im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck.

b) Ein solcher Wille hätte auch wegen der verfassungsrechtlichen Problematik einer derartigen Regelung deutlich formuliert werden müssen.

Die rückwirkende Einführung eines [X.] führt zum Wegfall oder der Herabsetzung bereits voll entstandener Beitragsansprüche der Versicherer und stellt damit eine echte Rückwirkung dar ([X.] in HK-[X.], 3. Aufl. Art. 7 [X.] Rn. 4). Eine echte Rückwirkung liegt immer dann vor, wenn der Gesetzgeber nachträglich ändernd in einen abgeschlossenen, der Vergangenheit angehörenden Tatbestand eingreift ([X.] 114, 258, 300; 101, 239, 263; 95, 64, 86). Sie ist grundsätzlich unzulässig ([X.] aaO) und bedarf für ihre Zulässigkeit einer besonderen Rechtfertigung ([X.] 72, 200, 242).

Insoweit sind verschiedene Fallgruppen für eine Zulässigkeit anerkannt (vgl. dazu [X.] in [X.]/[X.], GG 76. EL Art. 20 [X.] Rn. 80 ff.; [X.] in [X.]/[X.], GG 12. Aufl. Art. 20 Rn. 72). Die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/13947 S. 31 f.) stellt allerdings nicht fest, welchen dieser anerkannten Gründe der Gesetzgeber als gegeben betrachtete, um eine Rückwirkung zu rechtfertigen.

Dabei ist zu erkennen, dass der Gesetzgeber von einer geringen Belastung der Versicherer durch die rückwirkende Versicherung im [X.] ausging, weil die so begründete niedrigere Forderung aus dem [X.] an die Stelle einer in vielen Fällen ohnehin nicht mehr beitreibbaren höheren Forderung trete, so dass der [X.] für die Versicherungsunternehmen reduziert werde (BT-Drucks. 17/13947 S. 31 re. Sp. unten). Unter Berücksichtigung dieses Umstands erscheint es möglich, in dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Schutz von säumigen Versicherungsnehmern vor weiterer Überschuldung einen überwiegenden, zwingenden Grund des Gemeinwohls zu sehen, der jedenfalls für den Fall von am Stichtag noch ruhenden Leistungen den Eingriff in eine entstandene und noch nicht ausgeglichene Prämienforderung rechtfertigt.

Die Rückwirkungsproblematik gebietet eine möglichst enge Auslegung. Dies gilt umso mehr, als der Zweck des Gesetzes, die Zahlungsfähigkeit des Versicherungsnehmers schneller wiederherzustellen, damit der volle Versicherungsschutz zügig wiedererlangt werden könne, bei einem Versicherten, bei dem kein Ruhen der Leistungen mehr besteht, bereits insoweit erreicht ist, als er wieder vollen Versicherungsschutz genießt (zutreffend [X.] aaO S. 819).

3. In dieser Auslegung verstößt die Regelung auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Dem Gesetzgeber ist bei der Schaffung von Übergangsregelungen notwendigerweise ein gewisser Spielraum einzuräumen. Denn gerade bei weitreichenden Änderungen ist es unmöglich, die unter dem alten Recht entstandenen und womöglich schon abgewickelten Rechtsverhältnisse vollständig dem neuem Recht zu unterstellen. Auch verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit klare schematische Entscheidungen über die zeitliche Abgrenzung zwischen dem alten und dem neuen Recht, so dass es unvermeidlich ist, dass sich in der Rechtsstellung der Betroffenen, je nachdem, ob sie dem alten oder dem neuen Recht zu entnehmen ist, Unterschiede ergeben, die dem Ideal der Rechtsgleichheit widersprechen. Die verfassungsrechtliche Prüfung von Stichtags- und anderen [X.] muss sich daher auf die Frage beschränken, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung sich im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt oder als willkürlich erscheint ([X.] NJW 2013, 2103 Rn. 34 m.w.N.).

Dieser Prüfung hält die Übergangsregelung des Art. 7 [X.] stand, insbesondere weil sie nicht der Beseitigung eines verfassungswidrigen Zustands diente, sondern lediglich einer materiellen Besserstellung finanziell überforderter Versicherungsnehmer, die alte Rechtslage aber auch unzweifelhaft verfassungsgemäß war (vgl. hierzu [X.] aaO Rn. 35 m.w.N.).

4. Nach alledem war der Beklagte nicht in den [X.] einzustufen und schuldete für den mit der Klage geltend gemachten Zeitraum die ursprüngliche Prämie. Einwendungen gegen die vom Kläger auf dieser Grundlage errechnete und geltend gemachte Höhe der Prämienforderung sind nicht ersichtlich.

Der Anspruch auf Zahlung der Säumniszuschläge beruht auf § 193 Abs. 6 [X.].

5. Unbegründet ist die Klage dagegen wegen der [X.], da der Kläger nicht vorgetragen hat, wann und wofür diese Kosten entstanden sein sollen.

[X.]                              Harsdorf-Gebhardt                              [X.]

             Dr. Brockmöller                                   Dr. Bußmann

Meta

IV ZR 169/15

06.07.2016

Bundesgerichtshof 4. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Essen, 29. Januar 2015, Az: 10 S 325/14

Art 7 S 2 VVGEG, § 12h VAG vom 15.07.2013

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 06.07.2016, Az. IV ZR 169/15 (REWIS RS 2016, 8712)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 3535 REWIS RS 2016, 8712

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Referenzen
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IV ZR 81/18

IV ZR 169/15

20 U 245/15

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