Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.03.2021, Az. 4 StR 527/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2021, 7773

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sicherungsverfahren: Widersprüchliche Beurteilung der Schuldfähigkeit eines an chronifizierter paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leidenden Beschuldigten


Tenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 29. September 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte an einer chronifizierten [X.] Schizophrenie und an einer multiplen Substanzabhängigkeit.

3

Der Beschuldigte warf in seiner Wohneinrichtung dem Arzt vom Dienst vor, dass dieser ihn als „Kinderschänder“ bezeichnet habe. Der Arzt nickte während des Zuhörens, um seine Aufmerksamkeit zu signalisieren, was der Beschuldigte aufgrund seines wahnhaften Zustands als Beantwortung seines Vorwurfs auffasste und deshalb wütend das Dienstzimmer verließ. Als der Arzt daraufhin dem Beschuldigten in dessen Zimmer Medikamente anbot, schlug ihm der Beschuldigte unvermittelt mit der Faust ins Gesicht und versetzte ihm sodann einen Schlag auf den Rücken. Der Geschädigte trug eine geschwollene und aufgeplatzte [X.] davon, was der Beschuldigte zumindest billigend in Kauf nahm.

4

Nach den Feststellungen befand sich der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Schläge in einer akut psychotischen Phase, die dazu führte, dass seine Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war.

II.

5

1. Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hält rechtlicher Prüfung nicht stand, weil es an einer hinreichenden Grundlage für die zuverlässige Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten fehlt.

6

a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines Zustands künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begeht. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.](en) zu entwickeln (vgl. [X.], Beschluss vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12; Beschluss vom 3. Juni 2015 - 4 StR 167/15; Urteil vom 1. September 2020 - 1 StR 371/19; jeweils mwN).

7

b) Diesen Anforderungen wird die Gefahrenprognose nicht in jeder Hinsicht gerecht, da sie auf Widersprüchen zur Schuldfähigkeitsbeurteilung beruht, die das [X.] nicht aufgelöst hat.

8

Während das [X.] im Rahmen der Feststellungen zur [X.] davon ausgegangen ist, dass allein die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten aufgrund einer krankheitsbedingten Impulskontrollstörung erheblich eingeschränkt war ([X.]), hat es bei der Prüfung eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen [X.] und der „chronifizierten [X.] Schizophrenie“ darauf abgestellt, dass psychotische Symptome im Rahmen eines ausgeprägten Wahnsystems des Beschuldigten, in das das Tatopfer einbezogen gewesen sei, handlungsleitend gewesen seien ([X.]). Ersichtlich an letztere Bewertung anknüpfend hat es die Gefährlichkeitsprognose u. a. darauf gestützt, dass die Begehung künftiger erheblicher Körperverletzungsdelikte durch den Beschuldigten deshalb wahrscheinlich sei, weil der Eintritt schwerer Verletzungsfolgen „im Zustand fehlender [X.]sfähigkeit in Kombination mit wahnhaften Zuständen allein vom Zufall“ abhänge ([X.]). Das Fehlen der [X.] hat das [X.] jedoch in Bezug auf die [X.] offensichtlich nicht angenommen, da die Tat gerade nicht in einem Zustand der „weitestgehenden Desorientierung“ begangen wurde ([X.]).

9

Diese bei der Beurteilung der Gefahrenprognose zu Tage tretenden Unklarheiten bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung lassen sich anhand der Urteilsgründe nicht auflösen, weshalb nicht auszuschließen ist, dass jedenfalls die Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten hierauf beruht.

c) Nicht mehr entscheidungserheblich ist deshalb, dass die Anknüpfungstatsachen für das vom Sachverständigen diagnostizierte „ausgeprägte“ ([X.]) bzw. „massiv bizarre“ Wahnsystem ([X.]), das Grundlage für die die Gefährlichkeitsprognose stützende Annahme fehlender [X.] ist, im Urteil nicht dargelegt sind.

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Auch wenn Verhaltensweisen innerhalb einer Einrichtung gegenüber geschultem Personal nicht ohne Weiteres mit Handlungen in Freiheit gegenüber beliebigen [X.] oder dem Täter nahe stehenden Personen gleichzusetzen sind (vgl. [X.], Beschluss vom 22. Februar 2011 - 4 [X.] mwN), kommt vorliegend in Betracht, der Körperverletzung zum Nachteil des Arztes wegen ihres besonderen Gepräges erhebliches Gewicht i.S.v. § 63 StGB beizumessen.

b) Sollte gemäß § 416 Abs. 2 StPO das Sicherungsverfahren in das Strafverfahren überzuleiten sein, wird auf § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO hingewiesen (vgl. [X.], Beschluss vom 1. Juni 2017 - 2 StR 57/17).

Sost-Scheible     

        

Bender     

        

Quentin

        

Rommel     

        

Lutz     

        

Meta

4 StR 527/20

17.03.2021

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bielefeld, 29. September 2020, Az: 4 KLs 12/20

§ 20 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB, § 223 StGB, §§ 223ff StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.03.2021, Az. 4 StR 527/20 (REWIS RS 2021, 7773)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 7773


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 4 KLs 12/20

Landgericht Bielefeld, 4 KLs 12/20, 29.09.2020.


Az. 4 StR 527/20

Bundesgerichtshof, 4 StR 527/20, 17.03.2021.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 StR 83/20 (Bundesgerichtshof)

Sicherungsverfahren: Anforderungen an die Darlegung einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit zur Tatzeit bei Vorliegen eines psychiatrischen …


4 KLs 12/20 (Landgericht Bielefeld)


4 StR 277/15 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Einsicht in das Unrecht der Tat trotz erheblich verminderter Einsichtsfähigkeit; …


4 StR 58/23 (Bundesgerichtshof)


4 StR 193/17 (Bundesgerichtshof)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Straf- und Sicherungsverfahren: Maßgeblicher Zeitpunkt für die …


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.