Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.05.2012, Az. XII ZB 584/11

XII. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 6338

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
XII ZB 584/11

vom

16. Mai 2012

in der Betreuungssache

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
BGB §
1896; FamFG §§
26, 280
a)
Das Betreuungsgericht hat von Amts wegen alle zur Feststellung der ent-scheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzufüh-ren (im [X.] an [X.]sbeschluss vom 15.
Dezember 2010

XII
ZB
165/10
-
FamRZ 2011, 285 Rn.
13).
b)
Die Voraussetzungen für eine Betreuung nach §
1896 BGB können nicht aufgrund einer bloßen Verdachtsdiagnose des Sachverständigen [X.] werden.
[X.], Beschluss vom 16. Mai 2012 -
XII ZB 584/11 -
LG [X.]

[X.]

-
2
-
Der XII.
Zivilsenat des [X.] hat am 16.
Mai 2012
durch die [X.], Schilling, Dr.
Günter, Dr.
Nedden-Boeger und Dr.
Botur
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 1.
Zivilkammer des [X.] vom 10.
Oktober 2011 auf-gehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Land-gericht zurückverwiesen.
[X.]: 3.000

Gründe:
I.
Die Betroffene wendet sich gegen die Anordnung ihrer Betreuung.
Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens für die 1922 geborene Betroffene eine Betreuung eingerichtet mit den Aufga-benkreisen Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, alle [X.], Vertretung bei Behörden, Befugnis zum Empfang von Post, Wohnungsangelegenheiten und Sicherstellung häuslicher Pflege und Versor-gung.
Das [X.] hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen.
Hiergegen wendet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde.

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II.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Nach Auffassung des [X.]s steht aufgrund des [X.] fest, dass die Betroffene auf die Hilfe anderer angewiesen sei. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass die Betroffene an einer rezidivie-renden schweren depressiven Störung mit anhaltender Affekt-
und Antriebsstö-rung und einer leichten kognitiven Störung leide. In der Gesamtwürdigung [X.] der Ausprägungsgrad der Erkrankung als schwer beurteilt werden. Ihre Wohnung sei nach normalen Maßstäben kaum noch bewohnbar. Die Betroffene sei im Rahmen ihrer Erkrankung offenkundig nicht dazu in der Lage, den Zu-stand ihrer Wohnung bzw. ihren momentan noch dringend behandlungsbedürf-tigen Gesundheitszustand ausreichend kritisch zu würdigen und insofern sicher umfassend hilfs-
und betreuungsbedürftig. Die Ausführungen
des [X.] seien klar und eindeutig, in sich schlüssig und widerspruchsfrei. [X.] habe die Kammer keine Bedenken,
ihre Entscheidung hierauf zu stützen. Bei der persönlichen Anhörung der Betroffenen sei
deutlich geworden, dass die Betroffene bezüglich ihrer Erkrankung völlig uneinsichtig und nicht
in der Lage sei, ihren Zustand realitätsgerecht zu betrachten und ihre Angelegenheiten
selbst zu regeln. Das Beschwerdevorbringen sei von krankheitsbedingter [X.] geprägt. Die Kammer habe von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen im Beschwerdeverfahren abgesehen. Der Sachverhalt stehe fest.
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die vom [X.] getroffenen Feststellungen beruhen -
wie die Rechtsbe-schwerde im Ergebnis zu Recht rügt
-
auf einem nicht hinreichend ermittelten Sachverhalt
und sind demnach verfahrensfehlerhaft.
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4
-
a) Gemäß §
26 FamFG
hat das Gericht von Amts wegen alle zur Fest-stellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Über Art und Umfang dieser Ermittlungen entscheidet zwar grundsätzlich der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen. Das [X.] hat jedoch unter anderem nachzuprüfen, ob das Beschwerde-gericht die Grenzen seines Ermessens eingehalten hat, ferner, ob es von unge-nügenden Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist ([X.]sbeschluss vom 15.
Dezember 2010 -
XII
ZB
165/10
-
FamRZ 2011, 285 Rn.
13).
Zu den für die Bestellung eines Betreuers erforderlichen Ermittlungen gehört nach §
280 FamFG die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Diesem Gutachten muss wiederum mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen sein, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung nach §
1896 BGB vorliegen; eine Verdachtsdiagnose genügt nicht ([X.] Be-schluss vom 5.
August 2009 -
16
Wx
84/09
-
juris Rn.
4 -
Leitsatz veröffentlicht in [X.], 2116; [X.]/[X.] BGB 71.
Aufl. §
1896 Rn.
5;
Keidel/[X.] FamFG 17.
Aufl. §
280 Rn.
27). Im Übrigen muss sich der Tatrichter davon überzeugen, dass der Sachverständige im Rahmen seiner Be-gutachtung von einer zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist.
b) Diesen Anforderungen wird die von den Instanzgerichten durchgeführ-te Sachverhaltsermittlung nicht gerecht.
aa)
Das Sachverständigengutachten gründet zu einem wesentlichen Teil auf der Behauptung der Stiefkinder der Betroffenen gegenüber dem Gutachter, wonach sich die Wohnung
der Betroffenen in einem völlig verwahrlosten und nach normalem Ermessen unbewohnbaren Zustand befunden habe. Diesem Umstand hat der Sachverständige ersichtlich besondere Bedeutung beigemes-sen. So heißt es im Rahmen der zusammenfassenden Beurteilung
des Gutach-6
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tens u.a., die Betroffene sei im Rahmen ihrer Erkrankung offenkundig nicht da-zu in der Lage, den Zustand ihrer Wohnung ausreichend kritisch zu würdi-gen und sei insofern sicher umfassend hilfs-
und betreuungsbedürftig. Zudem hat der Gutachter
in diesem Kontext auf Forschungen zum Messie-Syndrom
verwiesen, wonach die Betroffenen häufig an Schizophrenie und affektiven [X.] litten.
Der Sachverständige, der die Betroffene im Krankenhaus exploriert hat, hat sich allerdings selbst keinen eigenen Eindruck von der Wohnsituation der Betroffenen verschafft. Die Betroffene hat jedoch bestritten, eine verwahrloste Wohnung zu haben, was ihre Verfahrenspflegerin auch ausdrücklich vorgetra-gen hatte. Bei dieser Sachlage hätte der Sachverständige seinem Gutachten nicht ohne weitere Ermittlungen den Umstand zugrunde legen dürfen, dass die Wohnung der Betroffenen verwahrlost sei
bzw. sie an dem sogenannten "[X.]"
leide. Allein der Umstand, dass die Mitarbeiter der Klinik auf eine ausgeprägte Sammelleidenschaft der Betroffenen hingewiesen haben, weil [X.] zum Beispiel stapelweise Zeitungen gehortet und teilweise bereits [X.] Lebensmittel in [X.] aufbewahrt habe, genügt nicht, um das [X.] von der Verpflichtung zu entbinden, konkrete Feststellungen zur [X.] zu treffen
und dadurch zu überprüfen, ob der Sachverständige von zu-treffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen ist.
bb) Das Gutachten
lässt außerdem eine eindeutige Aussage zu der Fra-ge
vermissen, ob der freie Wille der Betroffenen der Betreuung entgegensteht.
(1) Nach §
1896 Abs.
1
a BGB darf ein Betreuer gegen den freien Willen des Volljährigen nicht bestellt werden.
Wenn der Betroffene -
wie hier
-
der Einrichtung einer Betreuung nicht zustimmt, ist neben der Notwendigkeit einer Betreuung stets zu prüfen, ob die 10
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-
Ablehnung durch den Betroffenen auf einem freien Willen beruht. Das sachver-ständig beratene Gericht hat daher festzustellen, ob der Betroffene trotz seiner Erkrankung noch zu einer freien Willensbestimmung fähig ist ([X.] vom 14.
März 2012 -
XII
ZB
502/11
-
juris Rn.
13 und vom 9.
Februar 2011 -
XII
ZB
526/10
-
FamRZ 2011, 630 Rn.
3
ff.).
Dabei
ist der Begriff der freien Willensbestimmung im Sinne des §
1896 Abs.
1
a BGB und des §
104 Nr.
2 BGB im [X.] deckungsgleich. Die beiden entscheidenden Kriterien sind die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und des-sen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln. Fehlt es an einem dieser beiden Elemente, liegt kein freier, sondern nur ein natürlicher Wille vor ([X.]sbe-schluss vom 14.
März 2012 -
XII
ZB
502/11
-
juris Rn.
14).
(2) [X.] konkrete Feststellungen zu dem Fehlen eines freien Wil-lens der Betroffenen sind nicht getroffen worden.
Der Gutachter führt hierzu lediglich aus, dass die Betroffene in der Ge-samtbetrachtung aufgrund der nachweisbar deutlichen Minderung der Kritik-
und Urteilsfähigkeit insbesondere in den Bereichen Gesundheitsfürsorge, Wohnsituation und Sicherstellung der häuslichen Versorgung
"wahrscheinlich"
weder als ausreichend geschäfts-, noch als ausreichend einwilligungsfähig an-zusehen sei, weshalb eine Betreuung gegenwärtig auch gegen den Willen der Betroffenen angeordnet werden sollte.
Bei den Ausführungen zum Fehlen eines freien Willens handelt es sich um eine Verdachtsdiagnose, die die Anordnung einer Betreuung nicht zu be-gründen vermag.
cc) Soweit das [X.] die Feststellung der Uneinsichtigkeit der Be-troffenen auf ihre Anhörung bzw. Beschwerdeschrift gründet, vermag der [X.] 14
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dem nicht zu folgen. In ihrer Anhörung hat die Betroffene unter anderem ausge-führt, sie würde ihre Sachen selbst regeln. In ihrer Beschwerdeschrift hat sie weiter ausgeführt, ihre geistigen
Fähigkeiten seien in keiner Weise vermindert und sie sei durchaus in der Lage, ihre Angelegenheiten voll und ganz eigen-ständig zu erledigen. Mit diesen Äußerungen hat die Betroffene ihr Recht wahr-genommen, sich gegen eine -
aus ihrer Sicht unnötige
-
Betreuung zu wehren. Daraus auf
Uneinsichtigkeit zu schließen, erscheint nicht gerechtfertigt.
3. Da nicht auszuschließen ist, dass das Beschwerdegericht
bei Beach-tung der vorstehenden Anforderungen an das Verfahren zu einem anderen Er-gebnis gelangt wäre, ist der angegriffene Beschluss des [X.]s gemäß §
74 Abs.
5 FamFG aufzuheben. Der [X.] kann in der Sache nicht abschlie-ßend entscheiden, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist. Daher ist die

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Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur anderweitigen [X.] und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen, §
74 Abs.
6 Satz
2 FamFG.

Dose

Schilling

Günter

Nedden-Boeger

Botur
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 15.09.2011 -
58 [X.] 1819 -

LG [X.], Entscheidung vom 10.10.2011 -
1 [X.] -

Meta

XII ZB 584/11

16.05.2012

Bundesgerichtshof XII. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.05.2012, Az. XII ZB 584/11 (REWIS RS 2012, 6338)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6338

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