Bundessozialgericht, Urteil vom 03.07.2020, Az. B 8 SO 15/19 R

8. Senat | REWIS RS 2020, 2433

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Überprüfungsverfahren - Nachzahlung von Sozialleistungen - Verzinsung - Fälligkeit - Entstehung


Leitsatz

Werden Sozialleistungen zu Unrecht abgelehnt, tritt die für die Verzinsung erhebliche Entstehung des Anspruchs gleichwohl ein, auch wenn der Anspruch, solange die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids fortwirkt, nicht durchgesetzt werden kann.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 4. Dezember 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

[X.] ist die Verzinsung einer Nachzahlung.

2

Der Beklagte bewilligte der Klägerin für die [X.] vom 1.8.2015 bis 31.7.2016 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]); die Kosten der Unterkunft und Heizung übernahm er dabei nur teilweise (Bescheid vom [X.]). Am 6.10.2015 beantragte die Klägerin die Überprüfung dieses Bescheids nach § 44 [X.] - ([X.]), was der Beklagte ablehnte (Bescheid vom 19.10.2015; Widerspruchsbescheid vom [X.]). Unter Aufhebung dieser Bescheide hat das Sozialgericht ([X.]) [X.] den Beklagten verurteilt, höhere Kosten der Unterkunft und Heizung zu übernehmen (Urteil vom 28.6.2018). In Ausführung des Urteils gewährte der Beklagte der Klägerin unter Abänderung des Bescheids vom [X.] rückwirkend höhere Leistungen der Unterkunft und Heizung, woraus sich eine Nachzahlung iHv 1380 Euro ergab (Bescheid vom [X.]). Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und trug vor, die Nachzahlung sei nach § 44 Sozialgesetzbuch [X.] - ([X.]) zu verzinsen. Den Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom [X.]). Auf die hiergegen erhobene Klage hat das [X.] den Beklagten zur Verzinsung der Nachzahlung für den [X.]raum vom 1.1.2016 bis 30.6.2018 verurteilt (Urteil vom [X.]). Das [X.] (L[X.]) [X.] hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 4.12.2019). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das L[X.] ausgeführt, dass zum [X.]punkt der Erfüllung des Nachzahlungsanspruchs kein Anspruch der Klägerin auf Verzinsung bestanden habe. Der Anspruch auf höhere Kosten der Unterkunft und Heizung sei erst durch den Bescheid vom [X.] entstanden und damit fällig geworden; zuvor habe die Bestandskraft des Bescheids vom [X.] die Entstehung des Anspruchs gehindert.

3

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von §§ 41 und 44 [X.]. Das L[X.] sei von einem unrichtigen Fälligkeitszeitpunkt ausgegangen. Der Anspruch auf höhere Kosten der Unterkunft und Heizung sei entgegen der Auffassung des L[X.] jeweils kurz vor Beginn des jeweiligen Monats des [X.] entstanden und damit fällig geworden, da die Anspruchsvoraussetzungen einschließlich eines vollständigen Leistungsantrags zu diesem [X.]punkt vorgelegen hätten. Auf die Durchsetzbarkeit des Anspruchs komme es nicht an.

4

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des [X.]s [X.] vom 4. Dezember 2019 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts [X.] vom 26. Juni 2019 zurückzuweisen.

5

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Er hält das Urteil des L[X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision der [X.]lägerin ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>). Die [X.]lägerin hat einen Anspruch auf Verzinsung des [X.]. Mangels Feststellungen des [X.] kann der Senat jedoch nicht abschließend über den Beginn dieses Zinsanspruchs entscheiden.

8

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] (§ 95 [X.]G), mit dem der Beklagte die Verzinsung der Nachzahlung iHv 1380 Euro konkludent abgelehnt hat. Dagegen wendet sich die [X.]lägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 [X.]G), gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Ob mit einer Regelung über eine Nachzahlung, die zu einem Zinsanspruch schweigt, eine konkludente Ablehnung der Verzinsung verbunden ist, ist eine Frage der Würdigung der Umstände des Einzelfalls (vgl dazu Senatsurteil vom heutigen Tag im Verfahren [X.] [X.] 5/19 R). Der Beklagte hat hier eine Ablehnung durch "beredtes Schweigen" regeln wollen und ist von der [X.]lägerin auch so verstanden worden. Dies zeigt insbesondere auch der Widerspruchsbescheid vom [X.], in dem die Ablehnung der Verzinsung ausdrücklich bestätigt wird. Der geltend gemachte Verzinsungsanspruch durfte zudem unabhängig von der Hauptforderung zum Gegenstand eines Rechtsstreits gemacht werden (vgl nur [X.] vom 25.10.2018 - [X.] [X.]/18 R - [X.] 4-1200 § 44 [X.] Rd[X.] mwN).

9

Der Beklagte ist für die Entscheidung über den Zinsanspruch zuständig. Die Zuständigkeit richtet sich nach der Hauptleistung, für die der Beklagte örtlich und sachlich zuständig ist. Denn Zinsen sind als unselbständige Nebenleistung akzessorisch zu dieser (vgl nur B[X.] vom 28.5.1997 - 8 [X.] 2/96 - [X.] 3-1200 § 44 [X.] [X.]4, 26).

Die [X.]lägerin hat Anspruch auf Verzinsung des [X.]. Nach § 44 [X.] sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines [X.]alendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des [X.]alendermonats vor der Zahlung mit vier vom Hundert zu verzinsen. Da die Fälligkeit der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem Vierten [X.]apitel des [X.] nicht gesondert geregelt ist, richtet sie sich nach den allgemeinen Regelungen. Ansprüche auf Sozialleistungen werden mit ihrem Entstehen fällig (§ 41 [X.]); sie entstehen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen (§ 40 Abs 1 [X.]). Wann die Verwaltung tätig wird, ist nicht entscheidend (vgl BT-Drucks 7/868 [X.]9), sondern nur, wann die im Gesetz bestimmten materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen (vgl B[X.] vom 8.11.2007 - [X.]/9a [X.] - [X.] 4-3800 § 1 [X.] RdNr 16; BT-Drucks 7/868 [X.]9). Nach dem rechtskräftigen Urteil des [X.] vom 28.6.2018 (Az: [X.] [X.] 1817/16) haben die im Gesetz bestimmten Anspruchsvoraussetzungen auf höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung im jeweiligen [X.]alendermonat in der [X.] von August 2015 bis Juli 2016 vorgelegen. Das Urteil des [X.] ist vom Senat zu beachten, solange es Bestand hat und nicht aufgehoben wird. Eine eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich der inhaltlichen Richtigkeit der [X.]-Entscheidung steht dem Senat insoweit nicht zu.

Der Entstehung des Anspruchs stand andererseits - entgegen der Auffassung des [X.] - die Bestandskraft des höhere Leistungen ablehnenden Bescheids vom [X.] nicht entgegen. Zwar ist auch ein bestandskräftiger Ablehnungsbescheid von den Beteiligten und den Gerichten zu beachten. Mit der Aufhebung des Bescheids vom 26.8.2015 durch das [X.] entfiel aber auch seine Bindungswirkung. Wird eine Leistung - wie hier - zu Unrecht abgelehnt, kann der Anspruch, solange die Bestandskraft des Bescheids fortwirkt, zwar nicht durchgesetzt werden, er ist aber gleichwohl entstanden (vgl nur [X.] in [X.]/[X.], [X.], Stand Dezember 2019, [X.] § 40 RdNr 17).

Über den Beginn der Verzinsung konnte jedoch nicht abschließend entschieden werden. Die Verzinsung beginnt nach § 44 Abs 2 [X.] frühestens nach Ablauf von sechs [X.]alendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger, beim Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines [X.]alendermonats nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung. Im Zugunstenverfahren gilt nichts Abweichendes (vgl B[X.] vom [X.] - [X.] 1200 § 44 [X.] f; B[X.] vom 27.6.2017 - B 2 U 14/15 R - [X.] 4-1200 § 44 [X.] RdNr 19). Vollständig ist der Antrag, mit dem der Sachverhalt so dargelegt wird, dass die im Gesetz bestimmten Voraussetzungen für einen Anspruch auf Sozialleistungen überprüft und sein Entstehen festgestellt werden kann (vgl nur B[X.] vom [X.] - [X.] 1200 § 44 [X.]; sowie BT-Drucks 7/868 S 30). Ob dies hier der ursprüngliche Leistungsantrag (§ 44 Abs 1 [X.]) war, über den mit Bescheid vom [X.] entschieden wurde oder der Überprüfungsantrag nach § 44 [X.]B X vom 6.10.2015, weil erst hiermit der Sachverhalt vollständig dargelegt wurde, kann nicht beurteilt werden. Ausgehend von seiner Rechtsauffassung hat das [X.] hierzu keine Feststellungen getroffen.

Die [X.]lägerin kann Zinsen bis 30.6.2018 beanspruchen. Die Verzinsung endet nach § 44 Abs 1 [X.] mit dem [X.]alendermonat vor der "Zahlung". Bedient sich die Behörde wie hier einer Überweisung, ist unter "Zahlung" im Sinne der Vorschrift der Tag der Gutschrift auf dem [X.]onto der Leistungsberechtigten zu verstehen (vgl [X.], [X.]asseler [X.]ommentar, [X.], Stand Dezember 2019, § 44 RdNr 19; [X.] in [X.]/[X.], [X.], Stand Juni 2018, [X.] § 44 RdNr 40; [X.], [X.], 5. Aufl 2019, § 44 RdNr 52; [X.] in [X.]rauskopf, [X.], Stand Januar 2020, § 44 RdNr 19; [X.]/[X.] in LP[X.]-[X.], 4. Aufl 2020, § 44 RdNr 9; [X.] in [X.]/ v. [X.]oppenfels-Spies/[X.], [X.], 2. Aufl 2018, § 44 RdNr 11; [X.], [X.], 6. Aufl 2019, § 44 RdNr 19). Die Nachzahlung ist am 30.7.2018 durch den Beklagten angewiesen worden. Ob sie tatsächlich noch im Juli 2018 oder erst im August 2018 dem [X.]onto der [X.]lägerin gutgeschrieben wurde und ihr ggf noch für Juli 2018 Zinsen zugestanden hätten, kann hier offen bleiben, weil die [X.]lägerin ihren [X.]lageantrag bis 30.6.2018 beschränkt hat.

Das [X.] wird bei seiner erneuten Entscheidung allerdings zu berücksichtigen haben, dass - entgegen der Auffassung des [X.] - nicht der gesamte Nachzahlungsbetrag iHv 1380 Euro ab dem 1.1.2016 der Verzinsung unterliegen kann. Die Ansprüche auf höhere Leistungen der Unterkunft und Heizung sind vielmehr im [X.]raum von August 2015 bis einschließlich Juli 2016 zu Beginn des jeweiligen [X.]alendermonats sukzessive entstanden und fällig geworden (§ 40 Abs 1 iVm § 41 Abs 1 [X.]). Für den [X.]raum von August 2015 bis Dezember 2015 ergibt sich dies aus dem im Sozialrecht allgemein geltenden Grundsatz, dass monatlich bemessene laufende Geldleistungen durchweg am Monatsanfang fällig werden, soweit - wie hier - nichts Abweichendes geregelt ist (vgl B[X.] vom 25.10.1994 - 3/1 R[X.] 51/93 - [X.] 3-2500 § 57 [X.], 13); für den [X.]raum von Januar 2016 bis Juli 2016 aus § 44 Abs 4 Satz 1 [X.] (in der Normfassung des Gesetzes zur Änderung des [X.] und weiterer Vorschriften vom 21.12.2015, BGBl I 2557).

Darüber hinaus wird das [X.] auch zu beachten haben, dass zwischen der Fälligkeit des jeweiligen [X.] und dem frühestmöglichen Beginn der Verzinsung nach § 44 Abs 1 [X.] ein "vollständiger [X.]alendermonat" liegen muss (so im Ergebnis auch B[X.] vom [X.] - [X.] 3-7833 § 8 Nr 2 [X.], 7; vgl zu § 27 Abs 1 [X.]V B[X.] vom 7.9.2017 - B 10 LW 1/16 R - B[X.]E 124, 128 = [X.] 4-2400 § 27 [X.], RdNr 34; [X.], jurisP[X.]-[X.], 3. Aufl 2018, § 44 RdNr 24 f).

Das [X.] wird ggf auch über die [X.]osten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 15/19 R

03.07.2020

Bundessozialgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Mannheim, 26. Juni 2019, Az: S 8 SO 861/19, Urteil

§ 44 Abs 1 SGB 1, § 41 SGB 1, § 40 Abs 1 SGB 1, § 44 Abs 1 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 1 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 03.07.2020, Az. B 8 SO 15/19 R (REWIS RS 2020, 2433)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2433

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