Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 14.12.2010, Az. 1 StR 422/10

1. Strafsenat | REWIS RS 2010, 435

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 422/10 vom 14. Dezember 2010 in der Strafsache gegen wegen Steuerhinterziehung - 2 - Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 14. Dezember 2010 be-schlossen: Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 22. März 2010 wird als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tra-gen. Gründe: Der Angeklagte war faktischer Geschäftsführer einer nominell von seiner früheren Ehefrau geführten Firma, die im Zusammenhang mit dem Handel mit gebrauchten Baumaschinen und Lastkraftwagen in ein näher beschriebenes, über Jahre bundesweit praktiziertes Steuerhinterziehungssystem einbezogen war. Insgesamt wurde allein Umsatzsteuer - ebenfalls hinterzogene Einkommen- und Gewerbesteuer sind nicht mehr Verfahrensgegenstand - in Höhe von mehr als 1,5 Millionen • sowohl durch die Verschleierung von Umsätzen als auch durch unberechtigten Vorsteuerabzug auf der Grundlage fingierter Rechnungen hinterzogen. 1 Auf dieser Grundlage wurde der Angeklagte wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision erhebt eine Verfahrensrüge in Zusammenhang mit einem Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 [X.]) und die näher ausgeführte Sachrüge. Sie bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 [X.]). 2 - 3 - 1. Zur Verfahrensrüge: 3 Auf Anordnung des Vorsitzenden wurde ein Selbstleseverfahren durchge-führt, das sich auf eine zwei Seiten umfassende Tabelle bezog, die von der Überschrift: —Vorsteuerbeträge aus Rechnungseingängen der Firmen [X.] / 2000 bis 2004fi abgesehen, weitgehend aus Zahlen [X.]. 4 Hieran knüpft die Revision an: 5 Der aus [X.] stammende Angeklagte verfügt ausweislich der Urteils-gründe —über keine Schulbildung, kann nicht Lesen und [X.] Ergänzend heißt es an anderer Stelle der Urteilsgründe, nach Angaben der früheren Ehefrau könne er —nur ein paar Worte und im übrigen nur Zahlen lesenfi. Ergänzend trägt die Revision näher vor, dass und warum die (mit dem die Revision begründen-den Verteidiger nicht identische) Verteidigerin im damaligen [X.] war, nähere Erläuterungen gegenüber dem Angeklagten zu diesem Selbstleseverfahren seien nicht erforderlich. Insgesamt, so die [X.], komme —ein Selbstleseverfahren mit einem leseunkundigen Angeklagten – nicht in [X.] Nachdem der [X.] die Zulässigkeit der Rüge bezweifelt hat, weil ein Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfah-rens gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 [X.] nicht erhoben worden sei, hat die [X.] erwidert (§ 349 Abs. 3 Satz 2 [X.]), nicht die Anordnung des Selbstlesever-fahrens sei fehlerhaft gewesen, sondern dessen Durchführung. 6 a) Der Vorsitzende bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, ob ein Selbstleseverfahren durchzuführen ist ([X.] in Löwe/[X.], [X.], 26. Aufl., § 249 Rn. 64). Dabei sind auch - hier, wie die Revision zutreffend vor-trägt, schon im Ermittlungsverfahren aktenkundig gewordene - Anhaltspunkte für Analphabetismus in die Erwägungen einzubeziehen (vgl. [X.] aaO 7 - 4 - Rn. 85). Einen Rechtssatz, dass in derartigen - nach forensischer Erfahrung nicht häufigen - Fällen ein Selbstleseverfahren keinesfalls zulässig sei, gibt es nicht. Wird ein solches - hier zwei Aktenseiten betreffendes - Verfahren für zweckmä-ßig gehalten, so ist die Situation damit vergleichbar, dass der Angeklagte [X.] zwar lesen, aber mangels Sprachkenntnissen nicht verstehen kann. Auch dann ist ein Selbstleseverfahren möglich, jedoch muss das Gericht ermöglichen, dass ihm der Inhalt der Urkunde zur Kenntnis gebracht wird (vgl. [X.] aaO Rn. 80). Jedoch kann, von den hier nicht in Rede stehenden Richtern abgese-hen, jeder Verfahrensbeteiligte, also auch der Angeklagte, auch darauf verzich-ten, vom Inhalt der Urkunden Kenntnis zu nehmen (vgl. [X.] aaO Rn. 82). Verzichtet er nicht, kann der Inhalt gegebenenfalls durch einen hierzu bereiten Verteidiger zur Kenntnis gebracht werden, sonst auf andere Weise. Es ist dem Strafprozessrecht auch sonst nicht fremd, dass erforderlichenfalls Urkunden vor-gelesen werden (vgl. § 35 Abs. 3 [X.]; zur Notwendigkeit des Vorlesens auch unter anderen als den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen vgl. [X.] aaO § 35 Rn. 27). b) Weder auf (etwaige) Fehler bei der Anordnung, noch bei der [X.] des [X.] kann mit Erfolg eine Verfahrensrüge gestützt wer-den, wenn zuvor kein Gerichtsbeschluss herbeigeführt wurde. Hinsichtlich der Anordnung ist eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 [X.] herbeizuführen, bei der das Ermessen des Spruchkörpers an die Stelle des Ermessens des Vorsitzenden tritt ([X.] aaO Rn. 76). Geht es nicht um die Anordnung, sondern die ebenfalls zunächst vom Vorsitzenden zu bestimmende Art der Durchführung des [X.] ([X.] aaO Rn. 81), ist eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 [X.] herbeizuführen, wobei dann nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme zu überprüfen ist ([X.] aaO Rn. 103). Hier ist weder das eine noch das andere geschehen. Daher ist für eine Verfahrensrüge im [X.] - 5 - hang mit dem Selbstleseverfahren kein Raum ([X.] aaO Rn. 110; [X.] NStZ 1987, 529, 531< § 249 Abs. 2 Satz 2 [X.]>; [X.] aaO Rn. 114 <§ 238 Abs. 2 [X.]>). Soweit keine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 [X.] herbeigeführt wurde, ist ergänzend auf folgendes hinzuweisen: Der Bun-desgerichtshof hat offen gelassen, ob eine Rüge auch dann daran scheitert, dass keine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 [X.] herbeigeführt wurde, wenn die behauptete Rechtsverletzung durch den Vorsitzenden nicht mehr mit der Einhal-tung —der unumstößlichen, eindeutigen Grenzen zulässiger Verfahrensgestal-tungfi vereinbar wäre ([X.], Urteil vom 16. November 2006 - 3 [X.], [X.], 381, 384). Der [X.] braucht dieser Frage hier [X.] nicht näher nachzugehen, da es hier um die Wahrung eines Rechts geht, auf das der Angeklagte, wie dargelegt, nach seinem Belieben verzichten kann, ohne dass mit einem solchen Verzicht Prozessrecht verletzt wäre. Wird die [X.] eines derartigen Rechts gerügt, bleibt es bei dem Grundsatz, dass eine solche Rüge nur Erfolg haben kann, wenn eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 [X.] herbeigeführt wurde. 2. Mit der Sachrüge macht die Revision geltend, es bleibe unklar, auf wel-cher Feststellungsgrundlage die mitgeteilten Umsatzsteuerverkürzungen der Hö-he nach berechnet seien. Insoweit ist der Revision zuzugestehen, dass die [X.]gründe nicht ausdrücklich ergeben, wie hoch die Umsätze waren, die den vom Angeklagten begangenen [X.] zu Grunde lagen. Dies gefährdet hier allerdings den Bestand des Urteils nicht. 9 Es ist zu differenzieren: 10 a) Soweit unberechtigter Vorsteuerabzug (§ 15 UStG) auf der Grundlage von Scheinrechnungen erfolgte, reichte es für die Sachdarstellung in den [X.] aus, dass dessen Höhe beziffert wird (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 [X.]). Aus dem Umstand, dass vorliegend den 11 - 6 - Scheinrechnungen keine tatsächlich erbrachten Leistungen zu Grunde lagen, folgt, dass der gesamte aus diesen Scheinrechnungen geltende gemachte [X.] zu Unrecht erfolgte. Besonderheiten des Einzelfalls, die vorliegend weitere Darlegungen erforderlich gemacht hätten, sind nicht ersichtlich. 12 b) Soweit Umsatzsteuer dadurch verkürzt wurde, dass in den Umsatz-steuervoranmeldungen und Umsatzsteuerjahreserklärungen des Unternehmens steuerbare Umsätze verschwiegen wurden, wären demgegenüber - nicht mit erkennbarem Mehraufwand verbundene - Feststellungen zur Höhe der ver-schwiegenen Umsätze sachgerecht gewesen, um den [X.] auch ohne auf-wändige eigene Bemühungen die von ihm auf ihre rechtliche Tragfähigkeit zu überprüfenden tatsächlichen Grundlagen des Urteils erkennen zu lassen. Unter den gegebenen Umständen gefährdet dieser Mangel hier den Bestand des [X.] jedoch nicht: 13 Die Überzeugung von der Richtigkeit der im Urteil festgestellten Besteue-rungsgrundlagen kann das Tatgericht auch anhand eines Geständnisses des Angeklagten, das das Tatgericht überprüft hat, oder anhand von verlässlichen Wahrnehmungen von Beamten der Finanzverwaltung, die diese in der [X.] als Zeuge berichten, gewinnen. Angaben von Beamten der [X.] zu tatsächlichen Gegebenheiten können - wie bei sonstigen Zeugen auch - taugliche Grundlage der Überzeugung des Tatgerichts sein (vgl. [X.], Urteil vom 12. Mai 2009 - 1 [X.], [X.], 2546 Rn. 18 f.). Erweist sich - wie hier - die Berechnung der verkürzten Steuern auf Grundlage der so getroffenen Feststellungen als einfacher Rechenschritt (die festgestellte Hinterziehungssumme stellt nach dem zur Tatzeit geltenden Um-satzsteuersatz 16 % des zu Grunde liegenden Umsatzes dar), kann die Fest-stellung allein der hinterzogenen Steuern ausreichend sein. Anhaltspunkte [X.] - 7 - für, dass der [X.] bei der Berechnung der hinterzogenen Umsatzsteuer (vgl. [X.]) bei der gegebenen Sachlage [X.] zum Nachteil des Angeklagten unterlaufen sind, bestehen nicht, zumal der [X.] Angeklagte die Richtigkeit des Zahlenwerks auch selbst anerkannt hat. 3. Auch im Übrigen hat die auf Grund der Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. 15 [X.]Wahl Hebenstreit Ri[X.] Prof. Dr. [X.] befindet sich in Urlaub und ist deshalb an der Unterschrift verhindert. [X.]

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1 StR 422/10

14.12.2010

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 14.12.2010, Az. 1 StR 422/10 (REWIS RS 2010, 435)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 435

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