Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.01.2020, Az. XIII ZB 1/19

13. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1177

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Überstellungshaftsache: Konkreter Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr bei sonstigen konkreten Vorbereitungshandlungen


Leitsatz

Sonstige konkrete Vorbereitungshandlungen von vergleichbarem Gewicht, aus denen sich ein konkreter Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr ergeben kann, erfordern bestimmte Handlungen des Ausländers, die auf seine Absicht hindeuten, sich der Abschiebung zu entziehen, und auch objektiv einen gewichtigen Beitrag zur Vorbereitung einer möglichen Flucht darstellen.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des [X.] vom 2. Juni 2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000,00 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste am 14. Dezember 2016 gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen vier minderjährigen Kindern nach [X.] ein. Aufgrund bereits zuvor in [X.] gestellter Anträge lehnte das [X.] die Asylanträge des Betroffenen und seiner Familie mit Bescheiden vom 12. Januar 2017 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach [X.] an.

2

Der Betroffene beantragte eine Duldung und erhob gegen ihre Ablehnung Klage. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag des Betroffenen und seiner Familie auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, von einer Rücküberstellung vorläufig bis zur Entscheidung über die Klage abzusehen, mit Beschluss vom 15. Mai 2017 ab. Am 17. Mai 2017 scheiterte ein Versuch, den Betroffenen und seine Familie nach [X.] zu überstellen, daran, dass ein [X.] des Betroffenen nicht angetroffen wurde.

3

Das Amtsgericht hat auf Antrag der beteiligten Behörde gegen den Betroffenen am 17. Mai 2017 Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. [X.] in der bis 28. Juli 2017 geltenden Fassung (im Folgenden: aF) bis einschließlich 7. Juni 2017 angeordnet. Auf die Beschwerde des Betroffenen hat das [X.] festgestellt, dass die angeordnete [X.] den Betroffenen bis zu seiner Anhörung durch die Zivilkammer des [X.] am 2. Juni 2017 in seinen Rechten verletzt habe. Im Übrigen hat es die Beschwerde zurückgewiesen.

4

Mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt hat, wendet sich der Betroffene gegen die teilweise Zurückweisung seiner Beschwerde und begehrt die Feststellung, dass ihn die Haftanordnung auch für den [X.]raum ab dem 2. Juni 2017 in seinen Rechten verletzt habe.

5

II. Die statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.

6

1. Das Beschwerdegericht hat die Haftanordnung bis zur Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht am 2. Juni 2017 als rechtswidrig, ab diesem [X.]punkt als rechtmäßig angesehen. Grundlage für die Sicherung der Rücküberstellung nach [X.] sei Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 des [X.] und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden: [X.]) i.V.m. § 2 Abs. 15 [X.] aF und nicht, wie vom Amtsgericht angenommen, § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] aF. Art. 28 Abs. 2 [X.] setze eine erhebliche Fluchtgefahr voraus, die hier gegeben sei. Der Betroffene habe den Aufenthaltsort seines [X.]es nicht preisgegeben. Aufgrund des Insistierens der Ausländerbehörde habe er sich darüber im Klaren sein müssen, dass sein [X.] für die Abschiebung der Familie nach [X.] zugegen sein müsse. Es sei auch nicht willkürlich gewesen, den Betroffenen - und nicht etwa seine Ehefrau - in Haft zu nehmen, denn der Betroffene habe sich geweigert, den Aufenthaltsort des [X.]es zu nennen.

7

2. Hiergegen wendet sich die Rechtsbeschwerde ohne Erfolg.

8

a) Entgegen ihrer Ansicht entspricht § 2 Abs. 14 Nr. 6 [X.] aF, auf den § 2 Abs. 15 Satz 1 [X.] aF verweist, den Anforderungen des Art. 2 Buchst. n [X.]. Einer Vorlage an den [X.] bedarf es nicht.

9

aa) Da Art. 2 Buchst. n Dublin-III-Verordnung keine inhaltlichen Vorgaben für die vom Gesetzgeber objektiv festzulegenden Kriterien für eine Fluchtgefahr macht und die Regelung des § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 Nr. 6[X.] aF den Anforderungen des Unionsgerichtshofs in seinem Urteil vom 15. März 2017 ([X.], Urteil vom 15. März 2017 - [X.]/15, [X.] 2017, 193) genügt, stellt sich - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde - keine Frage der Auslegung des Unionsrechts, die einer Vorlage an den Gerichtshof bedürfte (vgl. [X.], Urteil vom 6. Oktober 1982 - 283/81, NJW 1983, 1257, 1258 - CILFIT).

bb) Art. 2 Buchst. n [X.] definiert, was unter dem Begriff der Fluchtgefahr, wie er in Art. 28 Abs. 2 [X.] enthalten ist, zu verstehen ist. Fluchtgefahr bedeutet das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren durch Flucht entziehen könnte.

Die Mitgliedstaaten sind aufgrund dieser Bestimmung verpflichtet, in einer zwingenden Vorschrift mit allgemeiner Geltung die objektiven Kriterien festzulegen, auf denen die Gründe beruhen, die zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen wird ([X.], Urteil vom 15. März 2017 - [X.]/15, [X.] 2017, 193 Rn. 47). Die [X.] gibt jedoch nicht vor, welche objektiven Kriterien im Einzelnen der nationale Gesetzgeber festzulegen hat oder festlegen kann.

cc) § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 [X.] aF erfüllt diese Voraussetzungen. § 2 Abs. 15 Satz 1 [X.] aF verweist wegen der in Art. 2 Buchst. n [X.] geforderten objektiven Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr auf die in § 2 Abs. 14 [X.] aF genannten Anhaltspunkte.

(1) Nach § 2 Abs. 14 Nr. 6 [X.] aF kann ein konkreter Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr vorliegen, wenn der Ausländer, um sich der bevorstehenden Abschiebung zu entziehen, sonstige konkrete Vorbereitungshandlungen vorgenommen hat, die ein den in § 2 Abs. 14 Nr. 1 bis 5 [X.] aF genannten Gesichtspunkten vergleichbares Gewicht haben. Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn bestimmte Handlungen auf eine Absicht des Ausländers hindeuten, sich der Abschiebung zu entziehen, und auch objektiv einen gewichtigen Beitrag zur Vorbereitung einer möglichen Flucht darstellen. Zudem dürfen die Vorbereitungshandlungen nicht durch Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden werden können.

(2) Dass es aufgrund dieser abstrakten Kriterien in jedem Einzelfall einer Wertung bedarf, ob die vom Gericht festgestellten Vorbereitungshandlungen den Anforderungen des § 2 Abs. 14 Nr. 6 [X.] aF genügen, steht der Annahme, dass § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 Nr. 6 [X.] den Anforderungen des Art. 2 Buchst. n [X.] genügt, nicht entgegen. Da Art. 2 Buchst. n [X.] keine Kriterien benennt, die gesetzlich festzulegen sind, kann der Gesetzgeber auch objektive Kriterien festlegen, die einer Wertung bedürfen (vgl. zu § 2 Abs. 14 Nr. 4 [X.] aF [X.], Beschluss vom 16. Februar 2017 - [X.], [X.] 2017, 253; [X.] in [X.], [X.], 2. Aufl., § 2 Rn. 37).

b) Das Beschwerdegericht hat zu Recht das Vorliegen eines Haftgrundes nach Art. 28 Abs. 2 [X.] i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 Nr. 6 [X.] aF bejaht.

Die Annahme des [X.], dass die Nichtpreisgabe des Aufenthaltsorts des [X.]es eine konkrete Vorbereitungshandlung von vergleichbarem Gewicht für eine Flucht des Betroffenen im Sinne des § 2 Abs. 14 Nr. 6[X.] aF darstellt, die auch in der Gesamtbetrachtung aller Umstände dieses Falles die Bejahung einer erheblichen Fluchtgefahr rechtfertigt, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

aa) Nach dem Wortlaut der Vorschrift und der Begründung des [X.] (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/4097, [X.]) stellen die in § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 [X.] aF geregelten Anhaltspunkte lediglich ein Indiz dafür dar, dass im konkreten Fall eine Fluchtgefahr besteht. Welches Gewicht diesem Indiz zukommt und ob tatsächlich von einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, bedarf immer einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/4097, S. 32 und 34; [X.], Beschluss vom 16. Februar 2017 - [X.], [X.] 2017, 253 Rn. 9).

bb) Das Beschwerdegericht hat hierzu ausgeführt, dass der Betroffene, indem er den Aufenthaltsort seines [X.]es nicht preisgegeben habe, die Abschiebung habe vereiteln wollen. Die beteiligte Behörde hatte in ihrem Haftantrag, auf den das Beschwerdegericht Bezug genommen hat, mitgeteilt, es bestehe der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene nach dem gescheiterten ersten [X.] erneut der Abschiebung entziehe wolle. Die Familie habe jedoch seit der am Vortag des ersten gescheiterten [X.]s erfolgten Ablehnung des [X.] durch das Verwaltungsgericht nicht genügend [X.] gehabt, um sich eine Fluchtmöglichkeit für die komplette Familie zu überlegen. Da sie jetzt jedoch ausreichend [X.] habe, sei damit zu rechnen, dass die Familie, insbesondere der Betroffene, untertauche.

Das Beschwerdegericht hat zu Recht angenommen, dass diese Umstände eine konkrete Vorbereitungshandlung von vergleichbarem Gewicht wie die in § 2 Abs. 14 Nr. 1 bis 5 [X.] aF geregelten Umstände darstellen, und diese Vorbereitungshandlung nicht durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden werden konnte. Auf dieser Grundlage hat es rechtsfehlerfrei eine erhebliche Fluchtgefahr bejaht.

3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7FamFG).

Meier-Beck     

        

Schmidt-Räntsch     

        

Kirchhoff

        

Tolkmitt      

        

[X.]      

        

Meta

XIII ZB 1/19

14.01.2020

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Stade, 2. Juni 2017, Az: 9 T 56/17

§ 2 Abs 14 Nr 6 AufenthG 2015, § 2 Abs 15 S 1 AufenthG 2015, Art 2 Buchst n EUV 604/2013, Art 28 Abs 2 EUV 604/2013

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.01.2020, Az. XIII ZB 1/19 (REWIS RS 2020, 1177)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1177

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XIII ZB 33/19 (Bundesgerichtshof)

Haftanordnung zur Überstellung eines Drittstaaters an einen Eu-Erstaufnahmestaat: Abschließende Aufzählung der konkreten Anhaltspunkte für eine …


XIII ZB 35/19 (Bundesgerichtshof)

Überstellungshaftsache: Fluchtgefahr bei Einleitung eines Asylverfahrens in Deutschland


XIII ZB 133/19 (Bundesgerichtshof)

Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen an einer Binnengrenze der Europäischen Union: Voraussetzungen für die Anordnung der Zurückweisungshaft; …


XIII ZB 65/19 (Bundesgerichtshof)

Haft zur Sicherung der Zurückweisung bei einer Wiederaufnahme der Kontrollen an Binnengrenzen der Europäischen Union


V ZB 53/17 (Bundesgerichtshof)

Abschiebungshaftsache: Haftgrund der Fluchtgefahr; Erforderlichkeit der erneuten Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht


Referenzen
Wird zitiert von

XIII ZB 33/19

Zitiert

V ZB 115/16

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.