Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.06.2021, Az. 2 StR 91/21

2. Strafsenat | REWIS RS 2021, 5236

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Fall eines sprachunkundigen Ausländers


Tenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 14. Dezember 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagte wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Angeklagten hat in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

3

2. Hingegen erweist sich das Absehen von der [X.] nach § 64 StGB als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

4

a) Nach den Feststellungen der [X.] überquerte die 36 Jahre alte [X.] Angeklagte, die bis zu ihrer Inhaftierung in dieser Sache in [X.] gelebt hatte, mit dem Zug im Juli 2020 als Drogenkurierin mit 1.878,6 g Kokain (Wirkstoffgehalt 977,9 g [X.]) die [X.], um mit dem Kurierlohn ihren Heroinbedarf in [X.] zu finanzieren. Sie war im Alter von 16 Jahren mit Heroin in Kontakt gekommen. Ihr zunächst unregelmäßiger [X.] steigerte sich in den Folgejahren. Ab dem [X.] nahm sie täglich durchschnittlich 2,5 g Heroin zu sich und bezog darüber hinaus Methadon von einem Substitutionszentrum. [X.] stieg der tägliche [X.] auf 7 bis 8 g an. Zudem hatte sie einen Beigebrauch von täglich 40 bis 45 ml Methadon. Dieses [X.]muster setzte sie bis zu ihrer Festnahme in dieser Sache fort. Sie verfügt „trotz des Sprachunterrichts in der Untersuchungshaft derzeit über lediglich rudimentäre Kenntnisse der [X.]“, hat jedoch „Grundkenntnisse bis gute Kenntnisse der [X.] bzw. [X.] Sprache“.

5

Die [X.] hat von einer Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen. Sie hat, sachverständig beraten, nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Angeklagte durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt geheilt oder über eine erhebliche Zeit vor einem Rückfall in den Hang bewahrt und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abgehalten werden könne. Die Angeklagte sei zwar für eine therapeutische Behandlung offen. Sie verfüge auch über die Fähigkeit zur Retrospektion und eine hinreichende Intelligenz. Jedoch sei es ihr nicht möglich, sinnvoll an therapeutischen Maßnahmen mitzuwirken, da sie lediglich über rudimentäre Kenntnisse der [X.] verfüge. Solche seien jedoch „für die Erfordernisse der Behandlung schlechthin unabdingbar“. Da die Kommunikation zwischen Behandlern und Untergebrachten wesentlich sei, änderten hieran ihre Grund- bzw. guten Kenntnisse der [X.] bzw. der [X.] Sprache nichts. Hinzu komme, dass nicht erkennbar sei, wie eine [X.] nach dem Ende einer erfolgreichen stationären Therapie praktisch auszugestalten sei, da die Angeklagte zukünftig wieder in [X.] leben wolle. Zudem werde die Angeklagte erfahrungsgemäß nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe „gemäß § 456a Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 50, 51, 53, 54, 58 [X.]“ in ihr Heimatland [X.] abgeschoben. Eine Integration in ein Umfeld in der [X.] ergebe daher keinen Sinn. Eine Adaptionsbehandlung in [X.] sei schon aus praktischen Gründen nicht möglich. Selbst bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen „würde die Kammer von der Anordnung der Maßregel im Rahmen des ihr insoweit eingeräumten beschränkten Ermessens angesichts der bestehenden Sprachbarriere, der praktisch nicht durchführbaren Adaptionsbehandlung und der zu erwartenden Abschiebung der Angeklagten absehen“.

6

b) Diese Ablehnung einer Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

7

aa) Die Urteilsgründe lassen zunächst besorgen, dass die [X.] bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist.

8

(1) Ungeachtet von Unterschieden in der Beurteilung der Erfolgsaussichten im Einzelfall besteht nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des [X.] Übereinstimmung dahin, dass es auch nach der Umgestaltung von § 64 StGB zur Soll-Vorschrift durch die Gesetzesnovelle vom 16. Juli 2007 ([X.] I 1327) im Grundsatz dabei verbleiben soll, dass die Sprachunkundigkeit eines Ausländers nicht ohne Weiteres allein Grund für einen Verzicht auf seine Unterbringung sein kann (vgl. [X.], Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 [X.], [X.], 267, 268; Beschlüsse vom 13. Juni 2018 - 1 [X.], NStZ-RR 2018, 273, 274; vom 12. März 2014 - 2 [X.], [X.], 545; vom 17. August 2011 - 5 [X.], [X.], 281, 282; jeweils unter Bezugnahme auf den Bericht und die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5137 S. 10). Hingegen muss nicht gegen jeden Sprachunkundigen eine Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet werden, insbesondere wenn eine therapeutisch sinnvolle Kommunikation mit ihm absehbar nur schwer oder gar nicht möglich sein wird (Senat, Urteil vom 25. April 2018 - 2 StR 14/18, juris Rn. 18; [X.], Beschlüsse vom 29. Juni 2016 - 1 StR 254/16 StV 2017, 592, 594; vom 12. März 2014 - 2 [X.], aaO; vom 17. August 2011 - 5 [X.], aaO; vom 28. Oktober 2008 - 5 [X.], [X.], 204, 205). Daher kann die fehlende Beherrschung der [X.] die Annahme nahelegen, eine Behandlung habe keine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht (vgl. [X.], Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 [X.], aaO; [X.], Beschluss vom 22. Januar 2013 - 3 StR 513/12, [X.]R StGB § 64 Satz 2 Erfolgsaussicht). Denn mit der Umgestaltung von § 64 StGB zu einer Soll-Vorschrift beabsichtigte der Gesetzgeber auch die Schonung der [X.], die bis dahin durch eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von in Anbetracht des Heilungszwecks weniger geeigneten Personen blockiert wurden (vgl. [X.], Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 [X.], aaO).

9

(2) Diesen Maßstäben werden die Urteilsgründe nicht gerecht, wenn sie Grundkenntnisse der [X.] als „schlechthin unabdingbar[es]“ Erfordernis einer Behandlung im Maßregelvollzug ansehen. Die [X.] hat - für sich gesehen konsequent - von der gebotenen Erörterung abgesehen, ob es dem [X.] Maßregelvollzug möglich ist, der Angeklagten, eine Therapie in [X.] oder, sofern ihre [X.] Sprachkenntnisse hierfür ausreichen, in dieser Sprache anzubieten (vgl. [X.], Beschlüsse vom 6. Juli 2017 - 4 [X.], aaO [[X.]]; vom 17. August 2011 - 5 [X.], aaO [[X.]]; vom 23. Mai 1989 - 1 StR 128/89, [X.]St 36, 199, 203 [zur alten Rechtslage für die [X.]]; anders Senat, Beschlüsse vom 16. Juli 2019 - 2 StR 241/19, juris [[X.]]; vom 25. April 2018 - 2 StR 14/18, juris Rn. 24 [[X.]]; [X.], Beschluss vom 28. Oktober 2008 - 5 [X.], aaO [algerische Sprache]). Sie hat sich daher - wiederum dem Sachverständigen folgend − mit der unzureichenden Feststellung begnügt, von entsprechenden Sprachkenntnissen könne auf Seiten der behandelnden Personen in den Maßregeleinrichtungen „nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgegangen werden“. Dabei lassen die Urteilsgründe zudem offen, ob die dieser Feststellung zugrundeliegende Äußerung des Sachverständigen, eines Arztes und Psychologen, sich zu dem gesamten [X.] Maßregelvollzug oder nur zu einzelnen Einrichtungen verhalten hat und auf welcher Tatsachengrundlage dessen Darstellung basiert.

bb) Auch die weitere Erwägung der [X.], die fehlende Erfolgsaussicht folge aus der Unmöglichkeit einer nach Abschluss einer erfolgreichen stationären Therapie notwendigen Adaptionsbehandlung, da die Angeklagte den Wunsch habe, in Zukunft wieder in [X.] zu leben, erweist sich als nicht tragfähig. Der bloße Hinweis des Sachverständigen auf entgegenstehende „praktische Gründe“ genügt nicht der gebotenen Prüfung, zumal auch hier offenbleibt, auf welcher Erkenntnisgrundlage diese Ausführungen des Sachverständigen gründen.

cc) Die unterbliebene Anordnung der Maßregel wird auch nicht durch eine rechtsfehlerfreie Ermessungsausübung getragen.

(1) Durch die Umwandlung des § 64 StGB in eine Soll-Vorschrift, ist diese - wie die [X.] zutreffend erkannt hat − keine Ermessensvorschrift im engeren Sinne geworden ([X.], Beschluss vom 1. August 2018 - 4 StR 54/18, juris Rn. 20). Ein Absehen von einer [X.] kommt - bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen - nur in Ausnahmefällen in Betracht ([X.], Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 [X.], aaO; Beschluss vom 29. Juni 2010 - 4 StR 241/10, [X.], 307). Dies kann der Fall sein, wenn „gerade noch“ eine positive Behandlungsprognose gestellt werden kann, im Übrigen aber sehr ungünstige Ausgangsbedingungen vorliegen, etwa weil eine Ausweisung droht oder vorhandene Sprachdefizite nur schwer auszugleichen sind (BT-Drucks. 16/1344, S. 12 f., BT-Drucks. 16/5137, S. 10; vgl. auch [X.], Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 [X.], aaO). In jedem Fall sind die entsprechenden maßgeblichen Umstände für das Revisionsgericht nachprüfbar im Urteil darzulegen ([X.], Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 [X.], aaO; Beschluss vom 13. Juni 2018 - 1 [X.], aaO).

(2) Hieran gemessen erweist sich die Ermessensausübung als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Die [X.] hat diese auch auf die „Sprachbarriere“ gestützt, ohne - wie ausgeführt - zunächst festzustellen, ob und ggf. in welchem Umfang die Sprachkenntnisse der Angeklagten in [X.] bzw. [X.] ihr einen Zugang zum [X.] Maßregelvollzug eröffnen. Auch die weitere Erwägung der [X.] einer „praktisch nicht durchführbaren Adaptionsbehandlung“ in [X.] erfährt - wie dargestellt - keinen Beleg. Schließlich kann die Ermessensausübung der [X.] derzeit auch nicht mit der „zu erwartenden Abschiebung der Angeklagten“ gerechtfertigt werden. Zwar kann nach dem Zweck des § 64 StGB bei ausreisepflichtigen sprachunkundigen Ausländern von einer Unterbringung abgesehen werden (vgl. [X.], Beschluss vom 7. Mai 2019 - 1 StR 150/19, juris Rn. 12). Die Kammer hat jedoch nicht festgestellt, dass die Angeklagte tatsächlich vollziehbar ausreisepflichtig ist oder sein wird (vgl. [X.], Beschlüsse vom 8. Juli 2020 - 1 StR 169/20, juris Rn. 6; vom 7. Mai 2019 - 1 StR 150/19, juris Rn. 13; vom 17. Juli 2018 - 4 [X.], aaO; vom 13. Juni 2018 - 1 [X.], aaO). Soweit die [X.] ihre Wertung auf ihre forensische Erfahrung zur Abschiebepraxis gemäß „§ 456a StPO i.V.m. §§ 50, 51, 53, 54, 56 [X.]“ stützt, hat sie verkannt, dass das [X.] auf die Angeklagte als Unionsbürgerin keine Anwendung findet (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 [X.], § 11 [X.]/[X.]) und Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts der Angeklagten § 6 [X.]/[X.] wäre, bei dem aber die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung nicht ausreicht, um die Verlustfeststellung zu begründen (vgl. [X.]/Kurzidem, [X.]., [X.]/[X.] § 6 Rn. 5).

c) Nach alledem muss über die Frage der Unterbringung der nach den Feststellungen therapiewilligen Angeklagten in einer Entziehungsanstalt, naheliegenderweise unter Zuziehung eines anderen Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO), neu verhandelt und entschieden werden.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass es dem Tatgericht gleichwohl unbenommen bleibt, unter Berücksichtigung des aufgezeigten Maßstabs angesichts der jedenfalls schwierigen Ausgangsbedingungen und des fehlenden Integrationswillens der Angeklagten, namentlich zur Entlastung des [X.], von einer Unterbringung Abstand zu nehmen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 23. September 2020 - 6 StR 265/20, juris; vom 22. Juni 2017 - 4 [X.], [X.], 283, jeweils mwN).

Franke     

        

Krehl     

        

Meyberg

        

Grube     

        

Schmidt     

        

Meta

2 StR 91/21

08.06.2021

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Köln, 14. Dezember 2020, Az: 323 KLs 32/20

§ 64 StGB vom 16.07.2007, § 67 Abs 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.06.2021, Az. 2 StR 91/21 (REWIS RS 2021, 5236)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5236

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

4 StR 124/17 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Erfolgsaussicht bei fehlenden deutschen aber vorhandenen englischen Sprachkenntnissen


1 StR 642/18 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Absehen von der Anordnung bei einem Ausländer


2 StR 14/18 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei Sprachunkundigkeit eines Ausländers


1 StR 150/19 (Bundesgerichtshof)

Niedrige Beweggründe bei Tötung eines sich abwendenden Ehepartners


2 StR 380/21 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Feststellung des Hangs des Täters zum Missbrauch von Alkohol oder anderen …


Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.