Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.06.2016, Az. B 9 SB 18/16 B

9. Senat | REWIS RS 2016, 9282

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung - Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Beweiswürdigung ohne eigene medizinische Sachkunde - richterliche Abwägung medizinischer Feststellungen bei vorliegenden Gutachten - Darlegungsanforderungen


Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 25. Februar 2016 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. In der Hauptsache begehrt die Klägerin die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 seit Dezember 2009. Diesen Anspruch hat das [X.] mit Urteil vom 25.2.2016 verneint, weil nach Abgleich der in den Gutachten des Orthopäden Dr. H. vom 14.3.2012 und des Orthopäden und Chirurgen Prof. Dr. S. vom 5.12.2014 mitgeteiltem Bewegungsausmaße der gesamten Wirbelsäule der [X.] für die [X.] mit 30 einzuschätzen sei. Mit Rücksicht auf die von Prof. Dr. S. attestierten allenfalls knapp leichtgradigen Einschränkungen der Beweglichkeit der Halswirbelsäule ergebe sich durch das Hinzutreten von Beeinträchtigungen des dritten Wirbelsäulenabschnitts keine Höherbemessung des GdB. Die Erhöhung des durch die reinen Bewegungseinschränkungen bedingten [X.] für das Funktionssystem "Rumpf" um mehr als 10 wegen der Schmerzen sei nicht gerechtfertigt, weil weder die Auswertung der von der Klägerin geschilderten Alltagsaktivitäten noch Art und Umfang der Schmerztherapie Anhaltspunkte für das Vorliegen eines außerordentlich stark beeinträchtigenden Schmerzsyndroms bieten würden. Da die Funktionsbeeinträchtigungen der anderen Funktionssysteme nur [X.]-Werte von jeweils höchstens 10 bedingten, erhöhe sich der [X.] nicht.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum [X.] eingelegt, mit der sie geltend macht, das Urteil stelle eine Überraschungsentscheidung dar und verletze den Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Prof. Dr. S. habe den [X.] seit Dezember 2009 mit 50 bewertet, sodass die Klägerin davon ausgegangen sei, dass entsprechend dieses Gutachtens vom [X.] entschieden werden würde. Folglich hätte das [X.] einen Hinweis geben müssen, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. nicht folgen wolle. Wäre dieser Hinweis erfolgt, so hätte die Klägerin weiter vorgetragen.

3

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil kein Zulassungsgrund ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 [X.]), so müssen bei der Bezeichnung des [X.] (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden.

5

Daran fehlt es hier. Die Beschwerde hat den behaupteten Gehörsverstoß nicht hinreichend substantiiert dargetan. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (vgl [X.]-1500 § 112 [X.] mwN). Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (vgl [X.] 86, 133, 144 f). Dies ist nach der Beschwerdebegründung nicht dargelegt.

6

Die Beschwerde meint, das [X.] habe vorab seine Absicht mitteilen müssen, dem Vorschlag des Sachverständigen Prof. Dr. S. für die Bewertung der [X.] der Klägerin mit einem Einzel-GdB von 40 und der Erhöhung auf 50 unter Berücksichtigung der Schmerzen nicht folgen zu wollen. Indes ist die Bemessung des GdB - wie die Klägerin selbst einräumt - nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl [X.] Beschluss vom 20.4.2015 - B 9 SB 98/14 B - Juris RdNr 6 mwN). Zu deren Erfüllung haben die Gerichte in der Regel ärztliches Fachwissen heranzuziehen, um die zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen festzustellen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist aber nach § 2 Abs 1, § 69 Abs 1 und 3 [X.] (vgl [X.] Urteil vom [X.] - B 9 SB 4/08 R - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 16 bis 21 mwN), wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken und welcher GdB deshalb dafür nach den Vorgaben der Anlage zu § 2 der [X.] vom 10.12.2008 ([X.]) festzusetzen ist. Das Gericht ist aber nicht verpflichtet, den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen zu folgen, sondern entscheidet in freier Würdigung der erhobenen Beweise (§ 128 Abs 1 S 1 SGG). Dies gilt umso mehr, wenn mehrere Sachverständige Gutachten mit unterschiedlichen (Teil-)Ergebnissen erhoben haben. Die Entscheidung des [X.], den Einzel-GdB der Klägerin für ihre [X.] aufgrund dieser von den Sachverständigen erhobenen unterschiedlichen Ergebnisse niedriger als von Prof. Dr. S. vorgeschlagen zu bewerten, konnte einen kundigen und gewissenhaften Prozessbeobachter daher nicht überraschen. Die Klägerin ist in der Entscheidung des [X.] nicht mit einer Beweiswürdigung konfrontiert worden, für die bisher keinerlei Hinweise vorlagen (vgl hierzu [X.] Urteil vom 29.5.1991 - 9a [X.] 1/90). Eine solche Konstellation ist denkbar, wenn das [X.] dem eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten nicht folgt, sondern - ohne Hinweis auf das Bestehen eigener Sachkunde - seine Beweiswürdigung allein auf eine von ihm selbst unter Auswertung medizinischer Fachliteratur entwickelte Beurteilung stützt (vgl [X.] Beschluss vom 15.9.2011 - B 2 U 157/11 B). So liegen die Dinge hier jedoch nicht, das [X.] hat unter Auswertung der beiden vorliegenden Gutachten entsprechend den dort getroffenen Feststellungen eine Abwägung getroffen, die der Klägerin vorher [X.] bekannt waren. Stattdessen lässt die Beschwerdebegründung durch den Hinweis, dass bereits bei der Untersuchung der Klägerin durch Prof. Dr. S. starke Bewegungseinschränkungen mit starken Schmerzen vorgelegen hätten, erkennen, dass das [X.] gerade das getan hat, was seine Aufgabe ist, nämlich ausgehend von einem bestimmten Rechtsstandpunkt eine Beweiswürdigung anhand der feststehenden medizinischen Tatsachen vorzunehmen und den [X.] anhand der [X.] selbst zu beurteilen (vgl [X.] Beschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - RdNr 5 mwN, stRspr). Mit einer solchen richterlichen Vorgehensweise mussten die Beteiligten rechnen, insbesondere vor dem Hintergrund des von Prof. Dr. S. festgestellten besseren [X.] gegenüber den Feststellungen von [X.] hiernach die Entscheidung des [X.] überraschend gewesen sein könnte, vermag die Beschwerdebegründung nicht darzulegen. Zulässige Verfahrensrügen gegen die vom [X.] getroffenen Feststellungen hat die Klägerin nicht erhoben.

7

Soweit sich die Beschwerdebegründung gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des [X.] wenden sollte, kann die Begründung von vornherein nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde sein (vgl [X.] [X.] 1500 § 160a Nr 7).

8

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

9

Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung [X.] zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

Meta

B 9 SB 18/16 B

27.06.2016

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Hannover, 5. Dezember 2013, Az: S 41 SB 374/10, Urteil

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 62 SGG, § 128 Abs 1 S 1 SGG, § 69 Abs 1 S 1 SGB 9, § 411 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.06.2016, Az. B 9 SB 18/16 B (REWIS RS 2016, 9282)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9282

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