Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.07.2022, Az. III R 14/20

3. Senat | REWIS RS 2022, 5563

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Gegenstand

Zur Koordinierung von Familienleistungen


Leitsatz

NV: Die Koordinierungsregeln des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 sind nur anwendbar und können somit den Kindergeldanspruch in Deutschland nur ausschließen, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat bestehen.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 30.10.2018 - 15 K 690/18 Kg aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist der Kindergeldanspruch des [X.] und Revisionsklägers (Kläger) in der [X.] von August 2017 bis Januar 2018 für sein am ...10.1999 geborenes Kind.

2

Nach Aufhebung einer früheren Kindergeldfestsetzung im Juli 2017 stellte der Kläger, ein [X.] Staatsangehöriger, einen Kindergeldantrag für das Kind ab August 2017. Diesen lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) mit [X.] vom 25.10.2017 ab. Einspruch (Einspruchsentscheidung vom 15.01.2018) und Klage waren erfolglos.

3

Das Finanzgericht (FG) folgte der Auffassung der Familienkasse, dass im Streitzeitraum allenfalls ein Anspruch auf [X.] Familienleistungen in Betracht komme, auch wenn der Kläger nicht nur in der [X.] ([X.]), sondern auch in der [X.] ([X.]) einen Wohnsitz gehabt habe. Denn der Kläger sei im Streitzeitraum in [X.] nicht erwerbstätig gewesen, sondern habe Krankengeld bezogen. Das Kind habe mit seiner Mutter und dem Kläger in [X.] gelebt. Gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. b iii der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des [X.] ([X.] --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ([X.] 883/2004) sei bei Familienleistungen, die nur durch den Wohnort ausgelöst würden, der Wohnort des Kindes maßgebend. Nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] 883/2004 müsse in derartigen Fällen für in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Kinder auch kein Differenzkindergeld gewährt werden.

4

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Revision und rügt die Verletzung materiellen Rechts.

5

Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.] vom 30.10.2018 - 15 K 690/18 Kg und den [X.] vom 25.10.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.01.2018 aufzuheben und Kindergeld für die [X.] von August 2017 bis Januar 2018 festzusetzen,
hilfsweise die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

6

Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

7

Die Revision des [X.] ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

8

1. Die Vorentscheidung verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 [X.]O).

9

Das [X.] ist --wie die [X.] unzutreffend davon ausgegangen, dass ein Familienleistungsanspruch, der in [X.] ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird, nach Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der [X.] 883/2004 immer dann ausgeschlossen ist, wenn das Kind im anderen Mitgliedstaat wohnt. Es hat dabei übersehen, dass die genannten Vorschriften den Anspruch auf ([X.] nicht ausschließen, wenn nur in [X.], nicht aber in einem anderen Mitgliedstaat der [X.] ([X.]) ein Familienleistungsanspruch besteht. Art. 68 der [X.] 883/2004 ist nur anwendbar, wenn für denselben [X.]raum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Ergibt die Prüfung der Kindergeldansprüche in [X.] und der Ansprüche auf vergleichbare Familienleistungen in dem anderen [X.]-Mitgliedstaat (hier: [X.]), dass zwar ein Anspruch in [X.], nicht aber in dem anderen Mitgliedstaat besteht, stehen Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der [X.] 883/2004 einem vollen Kindergeldanspruch in [X.] nicht entgegen (vgl. z.B. [X.]surteile vom [X.], [X.], 536, [X.] 2022, 186; vom 18.02.2021 - III R 27/19, [X.], 60, [X.] 2022, 183, und [X.], [X.], 942, jeweils m.w.N.). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diese Entscheidungen verwiesen.

2. Mangels hinreichender Feststellungen des [X.] kann der [X.] nicht entscheiden, ob das Urteil aus anderen Gründen i.S. des § 126 Abs. 4 [X.]O richtig ist oder ob der Kläger für die streitgegenständlichen Monate oder einen Teil davon einen Kindergeldanspruch hat.

a) [X.] kann nicht entnommen werden, für welche Monate ein Kindergeldanspruch nach [X.] Recht besteht. So ist der Vorentscheidung u.a. nicht zu entnehmen, für welche Monate das leibliche Kind des [X.], das im Streitzeitraum in einem gemeinsamen Haushalt des [X.] und seiner Ehefrau in einem [X.]-Mitgliedstaat (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 6 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) lebte, im gesamten Streitzeitraum in [X.] berücksichtigungsfähig ist. In der [X.] von August bis Oktober 2017 wäre es [X.] die übrigen Voraussetzungen [X.] als minderjähriges Kind gemäß § 32 Abs. 3 EStG berücksichtigungsfähig, danach nicht mehr, weil es im Oktober 2017 volljährig wurde. Ob in der [X.] von November 2017 bis Januar 2018 eine Berücksichtigung gemäß § 32 Abs. 4 EStG in Betracht kommt, ist aus der Vorentscheidung nicht ersichtlich.

b) Einen Kindergeldanspruch nach [X.] Recht unterstellt, könnte die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der [X.] 883/2004 --wie ausgeführt-- den Kindergeldanspruch in [X.] nur dann ausschließen, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen in [X.] bestehen und der Kindergeldanspruch in [X.] durch den Wohnsitz ausgelöst wurde (vgl. etwa [X.]surteile in [X.], 536, [X.] 2022, 186, Rz 18, und in [X.], 60, [X.] 2022, 183, Rz 21). Ob dies der Fall ist, lässt sich der Vorentscheidung nicht entnehmen.

3. Da das Urteil gegen Bundesrecht verstößt, der [X.] aber mangels hinreichender Feststellungen des [X.] an einer eigenen Entscheidung gehindert ist, ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O). Das [X.] wird dabei insbesondere festzustellen haben, für welche Monate in [X.] und für welche Monate in [X.] ein Anspruch auf Familienleistungen besteht oder bestehen würde, wenn die Beteiligten ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen wären. Dann wird es über den Kindergeldanspruch des [X.] und dessen etwaigen Ausschluss gemäß Art. 68 Abs. 2 der [X.] 883/2004 unter Beachtung der hier getroffenen rechtlichen Beurteilung (§ 126 Abs. 5 [X.]O) und unter Berücksichtigung der neueren [X.]srechtsprechung (vgl. u.a. [X.]surteile in [X.], 536, [X.] 2022, 186; in [X.], 60, [X.] 2022, 186, und in [X.], 942) erneut entscheiden müssen. Hierzu gibt der [X.] folgende Hinweise:

a) Wie ausgeführt, setzt Art. 68 Abs. 2 der [X.] 883/2004 nach der [X.]srechtsprechung voraus, dass tatsächlich konkurrierende Ansprüche vorliegen.

Zur Klärung der Frage, ob konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen vorliegen, sind die Ansprüche nach [X.] Recht zu prüfen und dann grundsätzlich ein Koordinierungsverfahren zwischen den jeweils zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zur Klärung der Ansprüche in [X.] durchzuführen (vgl. [X.]surteile vom 01.07.2020 - III R 13/19, [X.], 453, Rz 20 ff., m.w.N., und vom 22.02.2018 - III R 10/17, [X.]E 261, 214, [X.] 2018, 717, Rz 25). Dies gilt nicht, wenn sich das (Nicht-)Bestehen eines Anspruchs auf Familienleistungen in [X.] nach genauer Prüfung als unbestritten und zweifelsfrei erweist (vgl. z.B. [X.]surteile vom 19.05.2022 - [X.]/20 und vom 16.04.2015 - III R 6/14, [X.]/NV 2015, 1237, Rz 13, m.w.N.; Selder, juris [X.] Steuerrecht 10/2022, [X.]. 5).

b) Sollten diese im zweiten Rechtsgang nachzuholenden Ermittlungen ergeben, dass ein Anspruch des [X.] oder seiner Ehefrau auf Familienleistungen sowohl in [X.] als auch in [X.] bestand, wäre im Hinblick auf die Anwendung der Prioritätsregel des Art. 68 der [X.] 883/2004 genauer festzustellen, woraus sich die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ergibt.

aa) Für die Frage, was die Ansprüche i.S. des Art. 68 Abs. 1 der [X.] 883/2004 auslöst, ist darauf abzustellen, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der [X.] 883/2004 unterstellt ist ([X.]surteil vom 25.07.2019 - III R 34/18, [X.]E 265, 487, [X.] 2021, 20, Rz 21, m.w.N.). Insoweit unterscheidet das [X.]-Recht in Art. 68 der [X.] 883/2004 nur zwischen den vier Anknüpfungspunkten Beschäftigung, selbstständige Erwerbstätigkeit, Rente und Wohnsitz ([X.]surteil in [X.]E 261, 214, [X.] 2018, 717, Rz 30). Dabei ist insbesondere auch Art. 11 Abs. 2 der [X.] 883/2004 zu prüfen. Hiernach wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dadurch sollen auch [X.]en der vorübergehenden Unterbrechung der Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit bei fortbestehendem Leistungsbezug erfasst werden ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], Vorbemerkungen vor §§ 62 bis 78 EStG Rz 20). Gedacht ist dabei --wie sich auch aus dem zur Ausführung des Art. 68 der [X.] 883/2004 ergangenen Beschluss Nr. 1 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit vom 12.06.2009 (ABl[X.] 2010 Nr. [X.] 106, S. 11) ergibt-- an [X.] in Fällen wie Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Berufskrankheit, Arbeitslosigkeit.

bb) Die Anspruchskumulierung ist nach Art. 68 der [X.] 883/2004 aufzulösen. Danach sind zur Vermeidung grenzüberschreitender Doppelleistungen konkurrierende Kindergeldansprüche wie folgt zu priorisieren: Sind für denselben [X.]raum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer [X.]-Mitgliedstaaten zu gewähren, so stehen nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der [X.] 883/2004 an erster Stelle die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche. Hiernach folgen die durch den Bezug einer Rente und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

4. Da offen ist, welche Feststellungen das [X.] treffen wird, sieht der [X.] von weiteren Ausführungen ab.

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 14/20

14.07.2022

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 30. Oktober 2018, Az: 15 K 690/18 Kg, Urteil

§§ 62ff EStG 2009, § 62 EStG 2009, Art 11 EGV 883/2004, Art 68 Abs 2 EGV 883/2004, EStG VZ 2017, EStG VZ 2018

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.07.2022, Az. III R 14/20 (REWIS RS 2022, 5563)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5563

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