Bundessozialgericht, Urteil vom 26.11.2020, Az. B 14 AS 56/19 R

14. Senat | REWIS RS 2020, 2349

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - absoluter Revisionsgrund - unvorschriftsmäßige Gerichtsbesetzung - Verwerfung der Berufung durch Beschluss ohne ehrenamtliche Richter - Verletzung der Anhörungspflicht


Tenor

Auf die Revision des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 8. November 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Im Streit steht [X.] vom 30.10.2009 bis zum 31.1.2010 sowie vom 1.3. bis zum 30.11.2010 der Höhe nach wegen der Regelleistung.

2

Die Anträge des [X.] auf [X.] lehnte das beklagte Jobcenter ab (Bescheid vom 4.12.2009 auf den Antrag vom 30.10.2009; Ablehnungsbescheid im sog Zugunstenverfahren vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.]) oder bewilligte dem Kläger [X.] als Partner in einer Bedarfsgemeinschaft (für Januar 2010 zuletzt [X.] vom [X.]; für März 2010 bis August 2010 Bescheid vom [X.] in der Fassung des Änderungsbescheids vom [X.] und in der Fassung des Änderungsbescheids vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.]; ab Oktober 2010 Bescheid vom 26.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2011).

3

Das [X.] hat die für jeden Zeitabschnitt gesondert eingeleiteten Klageverfahren miteinander verbunden und den Beklagten für den Ablehnungszeitraum verpflichtet, dem Kläger Leistungen in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung einer Bedarfsgemeinschaft mit der Zeugin zu bewilligen. Im Übrigen hat das [X.] die Klagen abgewiesen (Urteil vom 25.6.2015).

4

Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter darauf hingewiesen: "… dass die Berufung unzulässig sein dürfte … Die Beschwer des [X.] liegt allenfalls darin, dass ihm nicht die Regelleistung für Alleinstehende zugesprochen wurde. Diese Beschwer erreicht 750,00 € nicht, so dass die Berufung unzulässig ist. Es ist daher beabsichtigt die Berufung als unzulässig zu verwerfen …". Das L[X.] hat am 8.11.2018 durch Beschluss entschieden. Ein höherer Anspruch könne sich nur aus der höheren Regelleistung ergeben; der Differenzbetrag unterschreite im Streitzeitraum die Wertgrenze aus § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 [X.]G deutlich. Obwohl wegen mehrerer Bewilligungszeiträume gestritten werde, handele es sich nicht um laufende Leistungen für mehr als ein Jahr.

5

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung von § 144 Abs 1 Satz 2 [X.]G geltend. Bei einer Verbindung seien mehrere Streitzeiträume zusammenzurechnen.

6

Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beschluss des [X.] vom 8. November 2018 aufzuheben und das Urteil des [X.] vom 25. Juni 2015 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 23. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2010 zu verpflichten, den Bescheid vom 4. Dezember 2009 aufzuheben sowie den Änderungsbescheid vom 29. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2010, den Änderungsbescheid vom 12. April 2010 für April 2010 und den Änderungsbescheid vom 29. Juni 2010 für März und Mai bis August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Juni 2010 und den Bescheid vom 26. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Mai 2011 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm vom 30. Oktober 2009 bis zum 31. Dezember 2009, für Januar 2010 sowie von März bis November 2010 weiteres [X.] zu zahlen.

7

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist im Sinne der Aufhebung des Beschlusses des [X.] und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]), weil das [X.] bei der Entscheidungsfindung nicht vorschriftsmäßig besetzt war, was zur Zurückverweisung zwingt.

9

Der Anspruch der Beteiligten auf [X.] gemäß Art 101 Abs 1 Satz 2 GG sichert die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, auch in der Variante der Nichtmitwirkung eines zuständigen Richters (vgl [X.] vom [X.] - 1 BvR 1022/88 - [X.]E 91, 93, 117 = [X.] 3-5870 § 10 [X.] mwN). Der Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht auf [X.] ist im Revisionsverfahren bei einer strukturellen Fehlbesetzung auch ohne rechtzeitige (§ 164 Abs 2 Satz 3 [X.]) Rüge von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl [X.] vom [X.] - B 4 RS 2/06 R - [X.] 4-1500 § 155 [X.] Rd[X.]4; [X.] vom 8.11.2007 - [X.]/9a [X.] 3/06 R - [X.], 189 = [X.] 4-1500 § 155 [X.], Rd[X.]3 f; [X.] vom 17.8.2011 - B 6 KA 32/10 R - [X.], 34 = [X.] 4-2500 § 89 [X.], Rd[X.]2 mwN; [X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/15 R - Rd[X.]6; [X.] in [X.], [X.], 6. Aufl 2020, § 164 [X.] Rd[X.]0).

Jeder Senat beim [X.] wird im Grundsatz in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig (§ 33 Abs 1 Satz 1 [X.]). Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung wirken [X.] nicht mit (§ 33 Abs 1 Satz 2 [X.]); diese Möglichkeit ist durch § 158 Satz 2 [X.] zwar eröffnet, zu ihr muss aber angehört werden. Eine fehlende Anhörung führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern ([X.] vom 24.4.2008 - [X.] [X.] 78/07 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.] Rd[X.] 9 f; zur unterbliebenen Anhörung nach § 153 Abs 4 [X.]: [X.] vom 2.11.2015 - B 13 R 203/15 B - Rd[X.]5; [X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/16 B - Rd[X.] 4; [X.] vom 29.8.2019 - [X.] [X.]/18 B - Rd[X.] 4; Meßling in [X.], [X.], § 158 Rd[X.]7, 22, Stand Oktober 2017) , wohingegen diese Wirkung bei nur nicht ordnungsgemäß durchgeführten Anhörungen nicht in jedem Fall eintritt (vgl zur irreführenden und unvollständigen Anhörung: [X.] - [X.] AS 373/13 B - Rd[X.] 4 ff; zusammenfassend zu § 158 [X.] [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 158 Rd[X.] 8; zum fehlenden ausdrücklichen Hinweis auf eine Stellungnahmemöglichkeit bei § 153 Abs 4 [X.]: [X.] vom 18.7.2019 - B 13 R 259/17 B - Rd[X.]3 f).

Entscheidend ist, ob das Ziel der Anhörung durch den konkreten Anhörungsfehler verfehlt wird. Im Rahmen des § 158 Satz 2 [X.] ist das wesentliche Ziel nicht die Information (§ 62 [X.]) der Beteiligten zu einer - ggf nur vorläufigen - Rechtsauffassung des Berichterstatters (§ 155 Abs 1, § 106 Abs 1 [X.]) über die ([X.] der Berufung. Diese Information kann auch im die mündliche Verhandlung vorbereitenden Verfahren erfolgen, um dem Beteiligten die Möglichkeit zu geben, sich auf einen für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkt vorzubereiten. Der Schwerpunkt der Anhörungspflicht zur Entscheidung des Senats durch Beschluss liegt in der vom Grundfall der Entscheidung in einem durch fünf Personen gebildeten Spruchkörper vorgenommenen Änderung des gesetzlichen Richters. Daher muss jedenfalls die Absicht mitgeteilt werden, nicht durch Urteil, sondern durch Beschluss zu entscheiden.

Diesen Anforderungen genügt die Anhörung nicht. Sie stellt auf die Unstatthaftigkeit der Berufung ab und lässt offen, ob deren Verwerfung durch Urteil oder durch Beschluss beabsichtigt ist.

Eine mit der Revision angegriffene Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 202 [X.] iVm § 547 [X.] ZPO). Darauf, ob das [X.] bei dem Streit allein um die Höhe der Regelleistung die Berufung als unzulässig hätte verwerfen können 170 Abs 1 Satz 2 [X.]), kommt es nicht an (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 170 Rd[X.]a; [X.] in [X.], [X.], § 170 Rd[X.]8, Stand September 2012; [X.] in jurisPK-[X.], § 170 Rd[X.]5, Stand 1.8.2017) .

Das [X.] wird auch über die Kosten des Verfahrens beim [X.] zu entscheiden haben.

Meta

B 14 AS 56/19 R

26.11.2020

Bundessozialgericht 14. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Neubrandenburg, 25. Juni 2015, Az: S 3 AS 1438/10, Urteil

Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 158 S 2 SGG, § 33 Abs 1 S 1 SGG, § 33 Abs 1 S 2 SGG, § 62 SGG, § 144 Abs 1 SGG, § 170 Abs 2 S 2 SGG, § 202 SGG, § 547 Nr 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 26.11.2020, Az. B 14 AS 56/19 R (REWIS RS 2020, 2349)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2349

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 14 AS 36/16 R (Bundessozialgericht)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - vorläufige Entscheidung über Leistungen nach dem SGB 2 - Folgen einer abschließenden …


B 14 AS 52/09 R (Bundessozialgericht)

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Abzug für Warmwasserbereitung - Anteil in der Regelleistung …


B 14 AS 55/15 R (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Revision - Jahresfrist zur Revisionsbegründung bei fehlerhafter Rechtsmittelbelehrung - Grundsicherung für Arbeitsuchende …


L 11 AS 369/16 NZB (LSG München)

Unbegründete Nichtzulassungsbeschwerde wegen Übernahme von Unterkunfts- und Heizungskosten


B 4 AS 90/10 R (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Grundsicherung für Arbeitsuchende - Beteiligtenwechsel - Jobcenter als neue gemeinsame Einrichtung - …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.