Bundesfinanzhof, Urteil vom 04.08.2011, Az. III R 56/08

3. Senat | REWIS RS 2011, 4187

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Gegenstand

(Teilweise inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 4.8.2011 III R 55/08 - Kindergeld für im Inland selbständig tätige polnische Staatsangehörige)


Leitsatz

1. NV: Der Wohnort einer Person bestimmt sich im Rahmen der VO Nr. 1408/71 danach, wo sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen befindet. Insoweit sind die familiären Verhältnisse des Arbeitnehmers bzw. Selbständigen sowie die Gründe, die ihn zu der Abwanderung bewogen haben, und die Art der Tätigkeit zu berücksichtigen.

2. NV: § 65 Abs. 1 Satz 1 EStG verlangt nicht, dass der Empfänger der dort genannten Leistungen oder Zahlungen derjenige sein muss oder die Ansprüche demjenigen zustehen müssen, der ansonsten nach den §§ 62, 63 EStG kindergeldberechtigt wäre. Das Gesetz stellt allein darauf ab, ob die dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen für das betreffende Kind erbracht worden sind, unabhängig davon, wer der Empfänger der Leistung ist.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist [X.] Staatsangehörige und Mutter von drei im Streitzeitraum noch minderjährigen Kindern. Sie wohnt seit November 2005 in [X.] und betrieb dort im Streitzeitraum einen Gastronomiedienstleistungsbetrieb. Ausweislich eines Schreibens des Marschallamtes der Wojewodschaft … vom … waren der Klägerin in [X.] für die [X.] bis … Familienleistungen bewilligt worden; mit Beschluss vom … wurde die Bewilligung vom … bis … jedoch aufgehoben und mit Beschluss vom … die geleisteten Familienleistungen für die [X.] vom 1. September 2006 bis zum 31. März 2007 zurückgefordert. Darüber hinaus erhielt die Klägerin bis zum … einen Unterhaltsvorschuss in Höhe von monatlich 250 [X.] pro Kind.

2

Den Antrag der Klägerin, ihr für ihre drei Kinder Kindergeld zu gewähren, lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) im Februar 2007 ab, den hiergegen gerichteten Einspruch wies sie durch Einspruchsentscheidung vom Juni 2007 als unbegründet zurück.

3

Das Finanzgericht ([X.]) gab der hiergegen gerichteten Klage der Klägerin, mit der sie die Festsetzung von Kindergeld für ihre drei Kinder ab September 2006 begehrte, mit Urteil vom 4. März 2008 statt. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der nach den §§ 62, 63 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) gegebene Anspruch der Klägerin sei nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG suspendiert, da das der Klägerin in [X.] gewährte Kindergeld zumindest für die [X.] vom 1. September 2006 bis zum 31. März 2007 zurückgefordert worden sei und es sich bei dem in [X.] bewilligten Unterhaltsvorschuss nicht um eine dem Kindergeld vergleichbare Leistung handele. Dem Anspruch der Klägerin stünden auch europarechtliche Vorschriften nicht entgegen, da diese hier nicht zur Anwendung kämen. Nach Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a und b der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] 1408/71), in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (Amtsblatt der Europäischen [X.]en 1997 Nr. L 28, [X.]) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung ([X.]) Nr. 629/2006 des [X.] und des Rates vom 5. April 2006 ([X.] --ABl[X.]-- 2006 Nr. L 114, [X.]), unterlägen Arbeitnehmer und Selbständige grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Staates der [X.] ([X.]), in dem sie ihre Tätigkeit ausübten. Selbst wenn man zugunsten der Familienkasse davon ausginge, dass die Klägerin die Voraussetzungen des Art. 1 Buchst. a Ziff. i der [X.] 1408/71 durch den Umstand erfülle, dass sie in [X.] nach wie vor sozialversichert sei, die Klägerin mithin qua Definition als Arbeitnehmerin bzw. Selbständige anzusehen wäre, führe die Anwendung der [X.] 1408/71 nicht dazu, dass der Kindergeldanspruch nach [X.]m Recht zu beurteilen sei, denn die Klägerin sei seit … 2005 unstreitig in [X.] nicht in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt gewesen und habe dort auch keine selbständige Tätigkeit ausgeübt (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und b der [X.] 1408/71). Soweit sie seit … 2005 im Inland eine selbständige Tätigkeit ausübe, komme eine Anwendung der [X.] 1408/71 nicht in Betracht, da dies keine Tätigkeit als Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a Ziff. i der [X.] 1408/71 darstelle.

4

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung der Art. 1, 2 und 13 der [X.] 1408/71.

5

Die Familienkasse beantragt, das Urteil des [X.] aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

7

I[X.] [X.]ie Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). [X.]enn dessen bisherige Feststellungen ermöglichen keine abschließende Entscheidung dazu, ob der Klägerin für den Streitzeitraum ein Kindergeldanspruch für ihre drei Kinder zusteht.

8

1. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des [X.] (§ 118 Abs. 2 [X.]O) lagen im Streitzeitraum zwar die Voraussetzungen der §§ 62, 63 EStG vor. [X.]er danach grundsätzlich bestehende Kindergeldanspruch der Klägerin könnte jedoch nach vorrangigen unionsrechtlichen Vorschriften (dazu unten 2. und 3.) oder nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sein (dazu unten 4.).

9

2. [X.]er geltend gemachte Anspruch auf Kindergeld könnte durch die [X.] 1408/71 und die Verordnung ([X.]) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die [X.]urchführung der [X.] 1408/71 ([X.] 574/72) in ihrer durch die [X.] 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die [X.] 629/2006, ausgeschlossen sein.

a) Auf den Streitfall sind noch diese Verordnungen anzuwenden. [X.]ie [X.] 1408/71 wurde zwar ersetzt durch die Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit --[X.] 883/2004-- ([X.] 2004 Nr. L 166, [X.]). Letztere gilt jedoch nach ihrem Art. 91 Abs. 2 erst ab dem Tag des Inkrafttretens der zu ihrer [X.]urchführung erlassenen Verordnung. [X.]iese --die Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die [X.]urchführung der [X.] 883/2004 --[X.] 987/2009-- ([X.] 2009 Nr. L 284, [X.])-- trat nach ihrem Art. 97 Satz 2 erst am 1. Mai 2010 in [X.]. [X.]ie [X.] 574/72 wurde nach Art. 96 Abs. 1 der [X.] 987/2009 erst mit Wirkung vom 1. Mai 2010 aufgehoben. Für den Streitfall gelten demnach noch die [X.] 1408/71 und die hierzu ergangene [X.] 574/72.

b) Als Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. u Ziff. i der [X.] 1408/71 unterfällt das Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der [X.] 1408/71 ihrem sachlichen Geltungsbereich (z.B. Urteil des Gerichtshofs der [X.] --[X.]-- vom 14. Oktober 2010 [X.]/09, [X.], Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht --[X.]-- 2011, 86 Rdnr. 33).

c) [X.]ie bisherigen Feststellungen des [X.] reichen jedoch nicht aus, um beurteilen zu können, ob die Klägerin auch dem persönlichen Geltungsbereich der [X.] 1408/71 unterfällt.

aa) [X.]er persönliche Geltungsbereich der [X.] 1408/71 wird im Rahmen der allgemeinen Vorschriften des Titels I in Art. 2 der [X.] 1408/71 festgelegt. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Verordnung insbesondere für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.

[X.]ie in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe "Arbeitnehmer" und "Selbständiger" werden in Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 definiert. Sie bezeichnen jede Person, die im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 aufgeführten Systeme der [X.] Sicherheit gegen die in dieser Vorschrift angegebenen Risiken unter den dort genannten Voraussetzungen versichert ist. Eine Person besitzt somit z.B. die Arbeitnehmereigenschaft i.S. der [X.] 1408/71, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der [X.] Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses (z.B. [X.] vom 7. Juni 2005 [X.]/03, [X.] und [X.], [X.]. 2005, [X.]. 29 ff.; vom 10. März 2011 [X.]/09, [X.], [X.] 2011, 436 [X.]. 28 ff.). Es ist nicht die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit maßgeblich, sondern der Versichertenstatus ([X.]/[X.], [X.], Kommentar, Fach [X.], [X.] Kommentierung, Art. 72 [X.] 1408/71 Rz 5). [X.]ie [X.] 1408/71 soll also grundsätzlich für alle Personen gelten, die im Rahmen der für Arbeitnehmer und Selbständige bereitgestellten Systeme [X.] Sicherheit oder aufgrund der Ausübung einer Arbeitnehmer- oder Selbständigentätigkeit versichert sind (vgl. ihren Erwägungsgrund Nr. 3).

bb) Für die Frage, ob der persönliche Geltungsbereich der [X.] 1408/71 eröffnet ist, kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer bzw. Selbständige auch die Voraussetzungen erfüllt, die in ihrem Anhang I Teil I Buchst. [X.] aufgeführt sind. [X.]enn die in dieser Bestimmung enthaltenen Einschränkungen gelten, wie sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt ("Ist ein [X.] Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel [X.] der Verordnung, ..."), nur für die Vorschriften des Titels [X.] der [X.] 1408/71, d.h. bei Anwendung ihrer Art. 72 ff. (z.B. [X.] vom 12. Mai 1998 [X.]/96, [X.], [X.]. 1998, I-2691 [X.]. 35 ff., 43 f., und vom 4. Mai 1999 [X.]/96, [X.], [X.]. 1999, [X.] [X.]. 89 ff.; ferner [X.] vom 30. Januar 1997 [X.], 5/95, [X.] und [X.], [X.]. 1997, [X.] [X.]. 26 ff.; vom 12. Juni 1997 [X.]/95, [X.], [X.]. 1997, I-3279 [X.]. 21 ff., und vom 5. März 1998 [X.]/96, [X.], [X.]. 1998, [X.] [X.]. 35 f., jeweils zu Art. 73 der [X.] 1408/71; ferner [X.]-Urteil [X.] in [X.] 2011, 86 Rdnr. 34; Vorlagebeschluss des Senats vom 30. Oktober 2008 [X.]/07, [X.], 358, [X.], 923 Rz 16 ff.). [X.]as setzt voraus, dass die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 bereits bejaht wurde.

Sollte sich dem Urteil des [X.] ([X.]) vom 13. August 2002 [X.] ([X.]E 200, 204, BStBl II 2002, 869) zum Anwendungsbereich des Anhangs I Teil I Buchst. [X.] der [X.] 1408/71 etwas anderes entnehmen lassen, könnte der Senat dem aus den oben dargelegten Gründen nicht folgen. Eine Anfrage beim VII[X.] Senat wäre schon deshalb nicht erforderlich, weil dieser Senat nach dem Geschäftsverteilungsplan des [X.] für Fragen betreffend Kindergeld (§§ 62 bis 78 EStG) nicht mehr zuständig ist.

cc) Erforderlich, aber auch ausreichend für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der [X.] 1408/71 ist, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der [X.] Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der [X.] versichert ist. [X.]ass eine Person die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 in Bezug auf ihre in [X.]eutschland ausgeübte Tätigkeit nicht erfüllt, bedeutet daher noch nicht, dass sie dem persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung nicht unterfällt, denn dieser kann aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem System der [X.] Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats eröffnet sein.

[X.]ie [X.] 1408/71 gilt personen- und nicht tätigkeitsbezogen. Ihr Ziel ist die Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit. Für Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern, soll jeweils das System der [X.] Sicherheit nur eines Mitgliedstaats gelten, so dass eine Kumulierung anzuwendender innerstaatlicher Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen vermieden werden (vgl. ihren Erwägungsgrund Nr. 8). Um dieses Ziel zu erreichen, ist daher in einem ersten Schritt zu ermitteln, ob eine Person die Versicherteneigenschaft nach den für die [X.] Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften (irgend)eines, ggf. auch mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (vgl. auch [X.]-Urteil [X.] in [X.]. 1999, [X.] Rdnr. 85). Ist danach der persönliche Geltungsbereich der [X.] 1408/71 für eine Person eröffnet, ist in einem zweiten Schritt das auf sie anzuwendende Recht nach den Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 zu bestimmen.

dd) [X.]anach geht das [X.] zwar zu Recht davon aus, dass die Klägerin, die in [X.]eutschland nicht versicherungspflichtig und auch nicht versichert ist, insoweit nicht als Arbeitnehmerin oder Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 gilt.

Nicht gefolgt werden kann dem [X.] jedoch insoweit, als es die Frage, ob die Klägerin ggf. wegen einer in [X.] bestehenden Versicherung vom persönlichen Geltungsbereich der [X.] 1408/71 erfasst wird, mit der Begründung hat dahinstehen lassen, dass auch in diesem Fall ihr Kindergeldanspruch nicht nach [X.] Recht zu beurteilen wäre. Nach den Feststellungen des [X.] war die Klägerin seit … 2005 in [X.] zwar weder abhängig beschäftigt noch hat sie dort eine selbständige Tätigkeit ausgeübt. Selbst wenn man deshalb --wie das [X.]-- davon ausginge, dass auf sie [X.] Recht nicht nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a oder b der [X.] 1408/71 anzuwenden wäre, könnte sich die Anwendung [X.] Rechts jedoch aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der [X.] 1408/71 ergeben. Nach dieser Bestimmung unterliegt eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nach einer der anderen Bestimmungen der Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 auf sie anwendbar würden, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt. [X.]en Begriff "Wohnort" definiert Art. 1 Buchst. h der [X.] 1408/71 als den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts. [X.]er Wohnort einer Person bestimmt sich im Rahmen der [X.] 1408/71 danach, wo sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen befindet. Insoweit sind die familiären Verhältnisse des Arbeitnehmers bzw. Selbständigen sowie die Gründe, die ihn zu der Abwanderung bewogen haben, und die Art der Tätigkeit zu berücksichtigen (z.B. [X.]-Urteil vom 11. November 2004 [X.]/02, [X.], [X.]. 2004, [X.]. 37, zum Begriff des "Wohnens" in Art. 71 der [X.] 1408/71, m.w.N.; vgl. ferner [X.] in [X.], Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl., Art. 1 Rz 29 ff.). Es ist danach jedenfalls nicht ausgeschlossen und vom [X.] auch nicht anderweitig festgestellt, dass die Klägerin, deren im Streitzeitraum noch minderjährige Kinder seinerzeit in [X.] lebten, i.S. des Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der [X.] 1408/71 nicht in [X.]eutschland, sondern in [X.] "wohnte".

Entgegen der Auffassung des [X.] kommt es also darauf an, ob der persönliche Geltungsbereich der [X.] 1408/71 für die Klägerin aufgrund einer Versicherung in [X.] eröffnet ist. [X.]ie hierfür erforderlichen Feststellungen fehlen jedoch. Anders als die Familienkasse meint, hat das [X.] allenfalls festgestellt, dass die Klägerin im Streitzeitraum in [X.] weiterhin sozialversichert gewesen sei. Eine solche Feststellung allein ermöglicht jedoch noch keine Beurteilung, ob die Klägerin deshalb als Arbeitnehmerin bzw. Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 gilt. Hierzu bedarf es vielmehr konkreter Feststellungen zum [X.] System der [X.] Sicherheit und dem konkreten Versichertenstatus der Klägerin im Rahmen dieses Systems.

3. Sollten die noch erforderlichen Ermittlungen des [X.] ergeben, dass die Klägerin vom persönlichen Geltungsbereich der [X.] 1408/71 erfasst wird, ist das auf sie anzuwendende Recht nach den Vorschriften des Titels II dieser Verordnung (Art. 13 ff.) zu bestimmen.

a) Soweit es nach den Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird (so z.B. in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und b der [X.] 1408/71), bestimmt sich dies entgegen der Auffassung der Familienkasse grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern --entsprechend dem insoweit eindeutigen Wortlaut der jeweiligen Bestimmung-- danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbständige Tätigkeit ausübt.

Anzuknüpfen ist dabei allerdings nur an diejenige(n) Tätigkeit(en), hinsichtlich derer die betreffende Person als Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 gilt. [X.]ie Vorschriften des Titels II der [X.] 1408/71 beziehen sich zwar ihrem Wortlaut nach auf Personen, die abhängig beschäftigt sind bzw. eine selbständige Tätigkeit ausüben, und nicht auf Arbeitnehmer oder Selbständige. Eine kohärente Auslegung des persönlichen Geltungsbereichs der [X.] 1408/71 und des durch sie geschaffenen Systems von [X.] gebietet es aber, die fraglichen Begriffe des Titels II dieser Verordnung im Lichte der [X.]efinitionen ihres Art. 1 Buchst. a auszulegen (vgl. [X.]-Urteil vom 30. Januar 1997 [X.]/95, Hervein, [X.]. 1997, I-609 [X.]. 19 f.). Für die Klägerin kann sich die Anwendung der [X.] Rechtsvorschriften daher nicht aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der [X.] 1408/71 ergeben, denn hinsichtlich ihrer in [X.]eutschland ausgeübten Tätigkeit gilt sie nicht als Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71.

b) Sollte die Prüfung der Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 gleichwohl ergeben, dass auf die Klägerin [X.] Rechtsvorschriften anzuwenden sind, müsste noch ermittelt werden, ob und ggf. für welche Monate des [X.] für ihre drei Kinder ein Anspruch auf [X.] Familienleistungen bestand (vgl. dazu auch unten 4.). Soweit ein solcher Anspruch bestand, wäre die dann gegebene Anspruchskumulierung nach den Antikumulierungsvorschriften der [X.] 1408/71 bzw. der [X.] 574/72 zu klären. [X.]abei wären bei Anwendung des Art. 76 der [X.] 1408/71 bzw. des Art. 10 der [X.] 574/72 die Einschränkungen des Anhangs I Teil I Buchst. [X.] der [X.] 1408/71 zu berücksichtigen.

c) Sollten nach den Bestimmungen der Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 die [X.] Rechtsvorschriften nicht anzuwenden sein, stellte sich die Frage, ob [X.]eutschland als der nach der [X.] 1408/71 dann nicht zuständige Mitgliedstaat gleichwohl befugt wäre, Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG zu zahlen, und ob in einem solchen Fall der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unionsrechtliche Vorschriften entgegenstünden. Insoweit handelte es sich um die gleichen Fragestellungen, die bereits Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 21. Oktober 2010 [X.]/09 ([X.]E 231, 183) und [X.]/10 ([X.]E 231, 194) sind, so dass eine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens bis zur Entscheidung des [X.] in den bei diesem anhängigen Verfahren [X.]/10 und [X.]/10 in Betracht kommen könnte.

4. Sollte der persönliche Geltungsbereich der [X.] 1408/71 für die Klägerin nicht eröffnet sein, richtete sich ihr Kindergeldanspruch allein nach den §§ 62 ff. EStG, so dass auch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu prüfen wäre. Nach dieser Bestimmung wird kein Kindergeld für ein Kind gezahlt, für das dem Kindergeld vergleichbare Leistungen im Ausland gewährt oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären.

Entgegen der Auffassung des [X.] kann dabei allein aus dem Umstand, dass ausweislich des Schreibens des [X.] der Wojewodschaft vom … die in [X.] der Klägerin u.a. für den Zeitraum September 2006 bis März 2007 gewährten Familienleistungen zurückgefordert wurden, nicht bereits geschlossen werden, dass die Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG für den Streitzeitraum ab September 2006 nicht vorliegen.

§ 65 Abs. 1 Satz 1 EStG verlangt nicht, dass der Empfänger der dort genannten Leistungen oder Zahlungen derjenige sein muss oder die Ansprüche demjenigen zustehen müssen, der ansonsten --d.h. ohne die Ausschlusstatbestände des § 65 Abs. 1 Satz 1 EStG-- nach den §§ 62, 63 EStG kindergeldberechtigt wäre. Auch § 65 Abs. 1 Satz 2 EStG enthält eine derartige Einschränkung nicht. [X.]as Gesetz stellt vielmehr allein darauf ab, ob die dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen für das betreffende Kind erbracht worden sind, unabhängig davon, wer der Empfänger der Leistung ist (z.B. [X.]-Urteil vom 25. März 2003 [X.] R 95/02, [X.]/NV 2003, 1306; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]as Einkommen-steuerrecht, Kommentar, § 65 Rz 26, 29). Allein aus dem Umstand, dass [X.] Familienleistungen von der Klägerin zurückgefordert wurden, ergibt sich daher noch nicht, dass für die Kinder der Klägerin in [X.] kein Anspruch auf Familienleistungen besteht. Vielmehr kann die Rückforderung auch gerade deshalb erfolgt sein, weil die entsprechende Familienleistung einer anderen Person, z.B. dem Vater der Kinder, zusteht. [X.]ass die Leistungen von der Klägerin zurückgefordert wurden, weil in [X.] für ihre Kinder überhaupt kein Anspruch auf Familienleistungen besteht, hat weder das [X.] festgestellt, noch lässt sich dies dem vom [X.] in Bezug genommenen Schreiben des [X.] der Wojewodschaft vom … entnehmen. Sollte es für die Entscheidung des [X.] auf das (Nicht-)Bestehen eines Anspruchs auf [X.] Familienleistungen ankommen, wären also auch insoweit noch Feststellungen erforderlich.

Meta

III R 56/08

04.08.2011

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 4. März 2008, Az: 2 K 2158/07, Urteil

§§ 62ff EStG 2002, § 62 EStG 2002, 65 Abs 1 S 1 EStG 2002, Art 1 Buchst a EWGV 1408/71, Art 1 Buchst h EWGV 1408/71, Art 2 Abs 1 EWGV 1408/71, Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71, Art 13 Abs 2 Buchst b EWGV 1408/71, Art 13 Abs 2 Buchst f EWGV 1408/71, Art 76 EWGV 1408/71, Anh I Teil I Buchst D EWGV 1408/71, Art 10 EWGV 574/72

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 04.08.2011, Az. III R 56/08 (REWIS RS 2011, 4187)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4187

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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