Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.10.2011, Az. 2 StR 328/11

2. Strafsenat | REWIS RS 2011, 1928

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Gegenstand

Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen Umgangs mit Kinderpornografie im Lichte der Weitergeltungsanordnung der Bundeserfassungsgerichts


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 29. März 2011 im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Verbreitens kinderpornografischer Schriften in 22 Fällen und wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Seine auf die Rüge formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

2

Die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung kann nicht bestehen bleiben. Zwar liegen die formellen Voraussetzungen des vom [X.] angewendeten § 66 Abs. 2 StGB aF vor, dessen Änderung durch das am 1. Januar 2011 in [X.] getretene Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 zu keiner abweichenden Beurteilung zugunsten des Angeklagten führt (vgl. Art. 316e Abs. 2 EGStGB). Hingegen bestehen durchgreifende Bedenken gegen die Annahme der materiellen Voraussetzungen der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB insbesondere bei Beachtung der Maßgaben der durch das [X.] mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 ua - Rn. 172, NJW 2011, 1931, 1946) erlassenen Weitergeltungsanordnung, welche die [X.] bei Erlass der angefochtenen Entscheidung noch nicht berücksichtigen konnte.

3

Nach dem Urteil des [X.]s vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift des § 66 StGB verfassungswidrig und gilt nur vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber weiter. Während der Dauer seiner Weitergeltung muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht handelt. Nach der Weitergeltungsanordnung des [X.]s darf die Regelung der Sicherungsverwahrung nur nach Maßgabe einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung" angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab (Senat, Urteil vom 7. Juli 2011 - 2 [X.]; [X.], Urteil vom 7. Juli 2011 - 5 [X.]; Beschluss vom 4. August 2011 - 3 StR 235/11).

4

Jedenfalls nach diesem Maßstab hat das [X.] weder einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch eine daran anknüpfende zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten tragfähig begründet. Das [X.] hat nicht näher dargelegt, auf welche konkreten "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern" ([X.], 55) sich der Hang des Angeklagten bezieht und welche solcher Straftaten von ihm mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Damit genügen die Entscheidungsgründe nicht den Darstellungsanforderungen, die von der Rechtsprechung an die Beurteilung des Hangs und an die Gefährlichkeitsprognose gestellt werden, um eine revisionsgerichtliche Nachprüfbarkeit der vom Tatrichter vorzunehmenden Gesamtwürdigung des [X.] und seiner Taten zu ermöglichen ([X.], Beschluss vom 27. September 1994 - 4 [X.], [X.], 178; Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, [X.], 203; Beschluss vom 15. Februar 2011 - 1 StR 645/10, [X.], 204; Beschluss vom 2. August 2011 - 3 [X.]11).

5

Soweit die [X.] vor dem Hintergrund der [X.] auf die fest verwurzelte pädophile Neigung des Angeklagten und auf eine verharmlosende Haltung zur Kinderpornografie abgestellt hat, deren [X.] ihn eigenen Angaben zufolge von sexuellen Übergriffen auf Kinder abgehalten habe, mag dies einen Hang zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach der Art und mit dem Gewicht der [X.] gemäß § 184b Abs. 1 und 2 StGB  belegen. Derartige Delikte des Umgangs mit Kinderpornografie, dessen Strafbarkeit nach dem gesetzlichen Regelungszweck des § 184b StGB darauf abzielt, der mittelbaren Förderung des sexuellen Missbrauchs von Kindern entgegenzuwirken (vgl. Fischer, StGB 58. Aufl., § 184b Rn. 2), sind allerdings nicht als ausreichend schwere ([X.] anzusehen, auf die sich nach der Weitergeltungsanordnung des [X.]s der kriminelle Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF beziehen muss.

6

Für einen Hang des Angeklagten auch zu erheblichen Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern ließen sich zwar die vom [X.] gewürdigten Vortaten anführen, zu denen auch Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 StGB zählten, die grundsätzlich "schwere Sexualstraftaten" im Sinne der Weitergeltungsanordnung des [X.]s darstellen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 2. August 2011 - 3 [X.]11 und vom 11. August 2011 - 3 [X.]). Die letzten dieser Taten lagen jedoch über zwölf Jahre zurück. Das darin vom [X.] erkannte, aber ohne Bedeutung für die Gefährlichkeitsprognose erachtete "Abschwächen der Deliktsintensität" ([X.], 59) hätte bereits bei der für das Vorliegen eines Hangs vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller konkreten Umstände berücksichtigt werden müssen, die für die Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten und seiner Taten maßgebend sind.

7

Bei einer sorgfältigen Gesamtwürdigung hätte es auch der Erörterung jener Gesichtspunkte bedurft, welche die sachverständig beratene [X.] insoweit rechtsfehlerfrei zur Begründung ihrer Überzeugung angeführt hat, dass die bei dem Angeklagten festgestellte Pädophilie keine Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit bewirkt habe (vgl. [X.], Beschluss vom 2. August 2011 - 3 [X.]11 Rn. 6). Hierzu hat das [X.] etwa die Fähigkeit des Angeklagten gezählt, sich über einen längeren Zeitraum weitgehend normgemäß zu verhalten und sich - in Bezug auf eine früher langjährig bestehende Alkoholproblematik und Nikotinsucht - auch einem starken inneren Verlangen zu widersetzen ([X.] f.). Überdies hat das [X.] darauf abgestellt, dass der Angeklagte sexuell nicht völlig auf Kinder fixiert sei, sondern sexuelle Kontakte in der Vergangenheit auch mit Erwachsenen gelebt habe. Zudem gehe es dem Angeklagten bei seinen Kontakten zu Kindern nicht ausschließlich um sexuelle Kontakte, vielmehr habe die [X.] Beschäftigung mit Kindern einen "Eigenwert" vor dem Hintergrund seiner schweren körperlichen Behinderung und der damit seit seiner Jugend einhergehenden Schwierigkeiten, Kontakte zu gleichaltrigen Personen herzustellen ([X.]). Die Erwähnung dieses Umstands steht allerdings in einem Kontrast zu dem nachfolgend im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose mehrfach als ungünstig angeführten Gesichtspunkt, dass der Angeklagte gegen die früher von ihm selbst erwogene Rückfallvermeidungsstrategie, den Kontakt zu Kindern überhaupt zu meiden, wiederholt verstoßen habe ([X.] f.).

8

Die Urteilsgründe lassen darüber hinaus nicht hinreichend deutlich erkennen, inwieweit und aus welchen Gründen der gerichtliche Sachverständige, dessen Ausführungen auch nur vereinzelt gestreift werden, in seinem mündlich erstatteten Gutachten von seinem vorläufigen schriftlichen Gutachten abgewichen und zu einer geänderten Gefährlichkeitsprognose gelangt ist ([X.]).

9

Der Senat vermag nicht völlig auszuschließen, dass eine neue tatrichterliche Verhandlung noch zur Feststellung von Umständen führt, die bei Beachtung der neueren Rechtsprechung des [X.]s die Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnten. Über den [X.] muss deshalb nochmals entschieden werden.

Fischer                                    Appl                                    Berger

                    Eschelbach                                 Ott

Meta

2 StR 328/11

26.10.2011

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Darmstadt, 29. März 2011, Az: 341 Js 59596/08 - 3 KLs

§ 66 Abs 1 Nr 3 StGB vom 27.12.2003, § 184b Abs 1 StGB, § 184b Abs 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.10.2011, Az. 2 StR 328/11 (REWIS RS 2011, 1928)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1928

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