Bundesfinanzhof, Beschluss vom 22.10.2021, Az. IX B 38/21

9. Senat | REWIS RS 2021, 1659

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Ort der Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren


Leitsatz

1. NV: Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger sind keine Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 FGO.

2. NV: Die Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO schließt nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus. Vielmehr bleibt die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme in eng begrenzten Ausnahmefällen nach wie vor möglich.

3. NV: Hat das FG bei seiner Entscheidung die für und die gegen eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen sprechenden Gründe hinreichend berücksichtigt und gegeneinander abgewogen, kann sich die Versagung der Akteneinsicht in den Kanzleiräumen auch unter Berücksichtigung der besonderen Pandemielage als ermessensfehlerfrei erweisen (Anschluss an BFH-Beschluss vom 18.03.2021 - V B 29/20, BFHE 272, 296, BStBl II 2021, 710).

Tenor

Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des [X.] vom 18.05.2021 - 1 K 175/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.

Gründe

1

Die statthafte Beschwerde ist unbegründet.

2

1. Die Beschwerde ist zulässig. Die Entscheidung über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht stellt keine unanfechtbare prozessleitende Verfügung [X.] von § 128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) dar und ist daher beschwerdefähig (vgl. nur Beschlüsse des [X.] --[X.]-- vom 18.03.2021 - V B 29/20, [X.], 296, [X.] 2021, 710, Rz 13, und vom 07.06.2021 - VIII B 123/20, [X.], 345, Rz 7).

3

2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die Entscheidung des Finanzgerichts ([X.]), den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) keine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen ihres Prozessbevollmächtigten zu gewähren, ist nicht zu beanstanden.

4

a) Gemäß § 78 Abs. 1 Sätze 1 und 2 [X.]O in seiner ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8, Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017, [X.], 2208) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Die Akteneinsicht wird, wenn die Prozessakten --wie im [X.] in Papierform geführt werden, durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt (§ 78 Abs. 3 Satz 1 [X.]O). Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch die Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt werden (§ 78 Abs. 3 Satz 2 [X.]O).

5

Nach der Rechtsprechung des [X.] sind Diensträume in diesem Sinne nicht nur die Diensträume des Gerichts, sondern Räumlichkeiten, die vorübergehend oder dauernd dem öffentlichen Dienst zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und über die ein Träger öffentlicher Gewalt das Hausrecht ausübt. Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger sind hingegen keine Diensträume [X.] des § 78 Abs. 3 [X.]O (s. [X.]-Beschlüsse vom 04.07.2019 - VIII B 51/19, [X.]/NV 2019, 1235, Rz 10, und vom 13.06.2020 - VIII B 149/19, [X.]/NV 2020, 1268, Rz 14). Im Hinblick darauf, dass andere Prozessordnungen die grundsätzliche Möglichkeit eröffnen, neben einer Einsichtnahme in Diensträumen auch die Akten zur Einsicht in die Wohnung oder Geschäftsräume des Prozessbevollmächtigten zu übersenden (vgl. § 100 Abs. 3 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung; § 120 Abs. 3 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes; § 32f Abs. 2 Satz 3 der Strafprozessordnung), ist es als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zu werten, diese Weiterung für das finanzgerichtliche Verfahren gerade nicht zu übernehmen ([X.]-Beschlüsse in [X.]/NV 2019, 1235, Rz 11, m.w.N., und vom 18.03.2021 - V B 29/20, [X.], 296, [X.] 2021, 710, Rz 16).

6

b) Entgegen der Auffassung der Kläger liegt auch kein Ausnahmefall vor, der die Gewährung von Akteneinsicht in den Kanzleiräumen ihres Prozessbevollmächtigten zu rechtfertigen vermag.

7

aa) Die Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 [X.]O schließt nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus. Vielmehr bleibt die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme nach wie vor möglich. Sie ist allerdings nicht der Regelfall, sondern auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch außerhalb von Diensträumen zu gewähren, ist eine am Einzelfall zu beurteilende Ermessensentscheidung. Dabei sind die für und gegen eine [X.] sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen, d.h. das dienstliche Interesse an einem geordneten Geschäftsgang einerseits (beispielsweise Gefahr von [X.] bzw. -beschädigungen oder gar -manipulationen, Schutz von potenziellen Beweismitteln [Steuererklärungen mit [X.]], jederzeitige Verfügbarkeit der Akten sowie Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber [X.]) mit dem Interesse an der Ersparnis von Zeit und Kosten im Falle der Gewährung der Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen andererseits. Im Rahmen dieses Abwägungsprozesses ist der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 [X.]O gesteckte Ermessensrahmen und hierbei insbesondere das [X.] zwischen einer Akteneinsicht in und außerhalb von Diensträumen zu beachten. Hieraus folgt, dass Unbequemlichkeiten, die regelmäßig mit den ungünstigeren Rahmenbedingungen für eine ungestörte Akteneinsicht außerhalb von Kanzleiräumen verbunden sein können (z.B. räumliche Enge, Fahrt- und Zeitaufwand), keine Ausnahme von der Regel des § 78 Abs. 3 Satz 1 [X.]O nach sich ziehen können ([X.]-Beschlüsse in [X.]/NV 2019, 1235, Rz 18; vom [X.], [X.]/NV 2020, 377, Rz 16, und vom 18.03.2021 - V B 29/20, [X.], 296, [X.] 2021, 710, Rz 18).

8

bb) Danach ist der Beschluss des [X.], mit dem es die Aktenübersendung in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger abgelehnt hat, nicht zu beanstanden. Das [X.] hat die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Umstände (überschaubarer Umfang der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge mit den Klägern weitgehend bekannten Inhalten, kurze Wegstrecke zwischen der Kanzlei des klägerischen Prozessbevollmächtigten und dem [X.], Ablauf der am 25.11.2020 im [X.] durchgeführten Akteneinsicht) gegen die von den Klägern vorgebrachten Einwände abgewogen. Im Rahmen dieser einzelfallbezogenen Abwägung ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Umstände trotz der Besonderheiten der bestehenden Pandemielage und der mit ihr einhergehenden Kontaktbeschränkungen sowie der Zugehörigkeit des Prozessbevollmächtigten der Kläger zur sog. Risikogruppe überwiegen. Dabei hat das [X.] maßgebend auf die getroffenen gerichtsinternen Sicherheitsvorkehrungen (Kontaktreduzierung durch Vorabübersendung eines Auskunftsbogens; Durchführung der Akteneinsicht in einem separaten --regelmäßig gelüfteten-- Raum) abgestellt. Dies erweist sich als ermessensfehlerfrei.

9

cc) Der erkennende Senat hält die von den Klägern im Rahmen ihrer Beschwerdebegründung angeführten Argumente nicht für geeignet, um --im Rahmen seiner eigenen Ermessensausübung-- einen Ausnahmefall annehmen zu können. Soweit es sich überhaupt um neue Argumente (und nicht um Wiederholungen oder rechtliche Erwägungen) handelt, greifen diese nicht durch. So hat das [X.] im Nichtabhilfebeschluss vom 07.06.2021 darauf hingewiesen, dass ein umfassendes Hygiene-Konzept für das gesamte Gerichtsgebäude, das etwa eine Beschränkung der Aufzugskapazität auf eine Person umfasst, umgesetzt worden ist (vgl. auch die aktuellen Hinweise zum "Dienstbetrieb im [X.]" auf der Homepage des [X.], abzurufen unter https://justiz.hamburg.de/finanzgericht/). Dass die Beschäftigten des Gerichts dieses Hygiene-Konzept bzw. die sog. [X.] fortgesetzt nicht einhalten, haben die Kläger nicht substantiiert dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der Hinweis der Kläger auf den geringen Umfang der Gerichtsakte bzw. der Steuerakten und die Möglichkeit, auf einfache Weise einen Scan zu erstellen, spricht nicht für eine Übersendung der Papierakten in die Kanzleiräume ihrer Prozessbevollmächtigten. Schließlich erscheint das Argument der kurzen Wegstrecke zwischen der Kanzlei und dem [X.] allein durch den Hinweis der Kläger auf eine Großbaustelle nicht widerlegt. Nach alledem vermag die Beschwerde das dargestellte [X.] nicht außer [X.] zu setzen.

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 113 Abs. 2 Satz 3 [X.]O unter Hinweis auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses abgesehen.

4. [X.] ergibt sich aus § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IX B 38/21

22.10.2021

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend FG Hamburg, 18. Mai 2021, Az: 1 K 175/20, Beschluss

§ 78 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 22.10.2021, Az. IX B 38/21 (REWIS RS 2021, 1659)

Papier­fundstellen: NJW 2021, 3680 REWIS RS 2021, 1659

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XI B 89/21 (Bundesfinanzhof)

Gewährung von Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten wegen Zugehörigkeit zu einer sog. "Hochrisiko-Gruppe"


VIII B 149/19 (Bundesfinanzhof)

Zur Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten


X B 132/19 (Bundesfinanzhof)

Ort der Akteneinsicht durch einen Insolvenzverwalter


V B 29/20 (Bundesfinanzhof)

Ort der Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren in Pandemiezeiten


VIII B 51/19 (Bundesfinanzhof)

Zur Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.