Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.08.2023, Az. X B 18-20/23, X B 18/23, X B 19/23, X B 20/23

10. Senat | REWIS RS 2023, 6043

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Gegenstand

Rechtliches Gehör zu Einschätzungen des gerichtseigenen Prüfers


Leitsatz

NV: Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gebietet es, den Beteiligten vor Erlass der Entscheidung die dem Gericht mitgeteilte mündliche Einschätzung des hierfür zur mündlichen Verhandlung hinzugezogenen gerichtseigenen Prüfers über die Bewertung der Zeugenaussage eines Kassenherstellers in einem Schätzungsfall zur Kenntnis zu bringen, auch wenn der gerichtseigene Prüfer weder förmlich als Sachverständiger beauftragt wurde noch eine schriftliche Stellungnahme abgegeben hat.

Tenor

Die Verfahren [X.], [X.]/23 und [X.]/23 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

Auf die Beschwerde der Kläger ([X.]/23) beziehungsweise des [X.] ([X.], 20/23) wegen Nichtzulassung der Revision werden die Urteile des [X.]/20, 7 K 259/20 und 7 K 261/20 aufgehoben.

Die Sachen werden an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten der Beschwerdeverfahren übertragen.

Tatbestand

I.

1

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute, die in den Streitjahren 2011 bis 2015 zur Einkommensteuer [X.] werden. Der Kläger erzielt aus dem Betrieb eines Restaurants gewerbliche Einkünfte. Seinen Gewinn ermittelte er bis 2013 durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung und ab 2014 durch Betriebsvermögensvergleich. Der Kläger nutzte bis zum 09.08.2012 eine elektronische Registrierkasse und ab dem 10.08.2012 ein [X.]nsystem.

2

Nach den Feststellungen des Finanzgerichts ([X.]) wurde am Ende eines jeden [X.] ein Tagesendsummenbon (Z-Abschlag) aus der jeweils genutzten Kasse ausgedruckt. Der Hauptkellner übergab dem Kläger dann aus seinem Kellnerportemonnaie einen Bargeldbetrag, der dem auf dem Tagesendsummenbon ausgewiesenen Umsatz entsprach. Übersteigende Beträge durfte [X.] als Trinkgeld behalten. Jeweils monatlich wurden dem Steuerberater der Kläger gesonderte Kassenbestandsrechnungen für jeden Öffnungstag des Restaurants übergeben, die allerdings in der Regel erst einige Zeit nach dem darin ausgewiesenen Öffnungstag erstellt worden waren. Darin war der Kassenbestand des Vortags um die Tageseinnahmen aus dem Tagesendsummenbon erhöht und um EC-Karten-Umsätze sowie [X.] vermindert worden. Das Ergebnis war der neue Kassenbestand. Dieser wurde allerdings nicht durch tatsächliches Auszählen, sondern rein rechnerisch ermittelt. Wenn im Steuerbüro Rechenfehler in den [X.] festgestellt wurden, wurde der Kläger darauf hingewiesen. Dieser erstellte dann die Kassenbestandsberichte ab dem Tag des Fehlers neu und vernichtete die ursprünglichen Berichte.

3

Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) hielt die Kassenführung nicht für ordnungsgemäß und nahm [X.] zu den erklärten Erlösen vor.

4

Das [X.] wies die Klagen --nach Vernehmung des früheren Geschäftsführers des Herstellers der [X.] und des Hauptkellners als [X.] ab. Die Kassenbestandsberichte seien nicht ordnungsgemäß, da sie nicht zeitnah erstellt worden seien und zudem zahlreiche Berichte vernichtet worden seien, nachdem das Steuerbüro auf Fehler hingewiesen habe, ohne dass die Korrekturen in den nacherstellten Berichten kenntlich gemacht worden seien. Zwar könne dies nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) dadurch ausgeglichen werden, dass die eingesetzte Kasse ordnungsmäßige [X.] vornehme; dies sei bei den vom Kläger verwendeten Kassen aber nicht der Fall gewesen. Die Registrierkasse habe [X.] bereits nach wenigen Tagen überschrieben. Die [X.] habe die zunächst vergebenen fortlaufenden [X.] im Rahmen einer monatlichen, aus "[X.]" vorgenommenen Reorganisation der Datenbank gelöscht. Die im Rahmen dieser Reorganisation neu vergebenen [X.] seien nicht mehr fortlaufend. Eine Überprüfung der Einzeldaten auf Vollständigkeit sei daher nicht mehr möglich. Die vom Kläger eingesetzte Version der Kassensoftware habe zudem nicht die Unveränderlichkeit der gespeicherten Daten gewährleistet. Ein später vom [X.] angebotenes Software-Update habe diesen Mangel zwar behoben, sei aber vom Kläger nicht aufgespielt worden. Der Höhe nach schloss sich das [X.] der vom [X.] vorgenommenen Schätzung an.

5

Die Kläger (in Bezug auf die zu den Umsatzsteuer- und Gewerbesteuermessbescheiden ergangenen [X.]-Urteile nur der Kläger) begehren die Zulassung der Revision im Hinblick auf die Anwendung der Richtsatzsammlung und wegen Verfahrensmängeln. Hierzu tragen sie unter anderem vor, die Senatsvorsitzende des [X.] habe zu Beginn der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass die gerichtseigene Prüferin (P) der Verhandlung im Zuschauerraum beiwohnen werde. Dies diene der besseren Beurteilung von Ausführungen und Darlegungen über das Kassensystem. Anschließend habe unter anderem die Vernehmung des Geschäftsführers des [X.]s --der zugleich der Entwickler der vom Kläger in der [X.] eingesetzten Software [X.] über komplexe programmiertechnische Sachverhalte stattgefunden. Die Kläger haben weiter vorgetragen, in einer nachfolgenden Sitzungsunterbrechung habe sich die Senatsvorsitzende mit P unterhalten. Inwieweit diese Unterhaltung Auswirkungen auf die Urteilsfindung des [X.] gehabt habe, sei intransparent geblieben.

6

Im Protokoll über die mündliche Verhandlung werden diese Vorgänge nicht erwähnt. Die von dem Kläger beziehungsweise von den Klägern gestellten Anträge auf Ergänzung und Berichtigung des [X.] hatten keinen Erfolg.

7

Das [X.] hält die Beschwerden für unbegründet.

Gründe

II.

8

Die Beschwerden sind begründet. Es liegt jeweils ein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidungen des [X.] beruhen können (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

9

1. Die --zumindest sinngemäß erhobene-- Rüge, das [X.] habe den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es sich von [X.] habe beraten lassen, ohne die Kläger über deren Einschätzungen zu informieren, greift durch.

a) In seinen ablehnenden Entscheidungen über die gestellten Anträge auf Ergänzung und Berichtigung des Sitzungsprotokolls hat das [X.] den Vortrag der Kläger bestätigt, die Beteiligten zu Beginn der mündlichen Verhandlung auf die Anwesenheit der [X.] hingewiesen zu haben. [X.] sei als justizinterne Gehilfin für die [X.]innen und [X.] des Gerichts tätig. Unterhaltungen von Gerichtsangehörigen in der Sitzungspause seien nicht in das [X.]rotokoll aufzunehmen.

Diese Ausführungen des [X.] zugrunde gelegt, geht der Senat zunächst davon aus, dass der Tatsachenvortrag in der Beschwerdebegründung hinsichtlich der Anwesenheit der [X.] in der mündlichen Verhandlung und des Gesprächs zwischen der Vorsitzenden des [X.]-Senats und [X.] in einer Sitzungspause nach Vernehmung des Geschäftsführers des Kassenherstellers der Wahrheit entspricht. Die Beweiskraft des [X.]rotokolls (§ 94 [X.]O i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung) steht dieser Annahme nicht entgegen; denn unter Berücksichtigung der Ausführungen des [X.] zur Anwesenheit der [X.] in der mündlichen Verhandlung und zu den --wie es das [X.] formuliert hat-- "Unterhaltungen von Gerichtsangehörigen in der Sitzungspause" in den genannten Entscheidungen über die Anträge auf Ergänzung und Berichtigung des Sitzungsprotokolls ist offensichtlich, dass die nicht protokollierten Vorgänge stattgefunden haben (vgl. auch [X.] vom 27.12.2010 - IX B 107/10, Rz 4; Gräber/[X.], Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 94 Rz 22).

b) Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (Beschluss des [X.] vom 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90, [X.] 84, 188, unter [X.], mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Dementsprechend bestimmt § 96 Abs. 2 [X.]O für das finanzgerichtliche Verfahren ausdrücklich, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

c) Zum Tätigwerden gerichtseigener [X.]rüfer hat der [X.] bereits entschieden, dass jedenfalls eine schriftliche Stellungnahme eines solchen [X.]rüfers zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört (Senatsbeschluss vom 16.07.2019 - X B 114/18, [X.]/NV 2019, 1127, Rz 22 ff.). Zudem ist der aufgrund eines förmlichen [X.] eingesetzte gerichtseigene [X.]rüfer als Sachverständiger anzusehen ([X.] vom 07.11.1995 - VIII B 31/95, [X.]/NV 1996, 344, unter [X.], mit zahlreichen weiteren Hinweisen auf die ältere Rechtsprechung; [X.] vom 02.08.2005 - IV B 185/03, [X.]/NV 2005, 2224, unter 3.e).

Vorliegend hat [X.] zwar weder eine schriftliche Stellungnahme verfasst noch ist sie durch einen förmlichen Beweisbeschluss als Sachverständige beauftragt worden. Gleichwohl gebietet es der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, dass ein Gericht auch solche Informationen, die es sich von einer als Sachverständige in Betracht kommenden [X.]erson ohne deren förmliche Beauftragung beschafft, den Beteiligten offenlegt.

Das [X.] hatte die Beteiligten zu Beginn der mündlichen Verhandlung nach dem glaubhaften und vom [X.] bestätigten Vorbringen der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen, dass [X.] im Sitzungssaal anwesend sei und dies der besseren Beurteilung von Ausführungen und Darlegungen über das Kassensystem diene. Nach der --im Hinblick auf die Kassenprogrammierung sehr detailreichen und komplexen-- Vernehmung des Geschäftsführers des Kassenherstellers ist es zu einem Gespräch zwischen der Vorsitzenden des [X.]-Senats und [X.] gekommen. Die angefochtenen Urteile sind entscheidend auf die tatrichterliche Bewertung der Zeugenaussage gestützt worden.

Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem Gespräch zwischen der Vorsitzenden und [X.] nicht lediglich um eine "Unterhaltung von Gerichtsangehörigen in der Sitzungspause" gehandelt hat, sondern dass [X.] der Vorsitzenden ihre Einschätzung zur Bewertung der Zeugenaussage und zu den darin angesprochenen komplexen programmtechnischen Sachverhalten mitgeteilt hat. Eine solche Einschätzung, die Teil des Gesamtergebnisses des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) wäre, hätte das [X.] den Beteiligten bekanntgeben müssen, damit diese dazu Stellung nehmen können.

d) Zwar setzt eine formgerechte Gehörsrüge grundsätzlich Darlegungen dazu voraus, was der Rechtsmittelführer dem [X.] bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte (vgl. hierzu [X.]-Urteil vom 09.04.2008 - I R 43/07, [X.]/NV 2008, 1848, unter II.2.c, m.w.N.). Dies kann vorliegend jedoch nicht gefordert werden, weil bisher sowohl den Klägern als auch dem beschließenden Senat unbekannt geblieben ist, welche Informationen und Einschätzungen [X.] der Vorsitzenden des [X.]-Senats in der Sitzungspause mitgeteilt hat.

2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 [X.]O zu verfahren, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Rechtsstreitigkeiten zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

3. Die Übertragung der Kostenentscheidungen auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

X B 18-20/23, X B 18/23, X B 19/23, X B 20/23

29.08.2023

Bundesfinanzhof 10. Senat

Beschluss

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 14. Dezember 2022, Az: 7 K 257/20, Urteil

§ 96 Abs 1 S 1 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, Art 103 Abs 1 GG, § 162 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.08.2023, Az. X B 18-20/23, X B 18/23, X B 19/23, X B 20/23 (REWIS RS 2023, 6043)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6043

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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