Bundesfinanzhof, Urteil vom 25.07.2019, Az. III R 46/18

3. Senat | REWIS RS 2019, 5062

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Gegenstand

Kindergeld - Beibehalten des Wohnsitzes - mehrjähriger Schulaufenthalt mit der Mutter des Kindes


Leitsatz

NV: Die Beantwortung der Frage, ob ein Kind, das sich zeitweise im Ausland zu Ausbildungszwecken aufhält, seinen inländischen Wohnsitz bei den Eltern beibehält, liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet, wobei die objektiven Umstände des jeweiligen Falles zu berücksichtigen sind. Generelle Regeln lassen sich nicht aufstellen. Die Umstände müssen aber nach der Lebenserfahrung den Schluss zulassen, dass das Kind die Wohnung innehat, um sie als solche zu nutzen.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 04.07.2018 - 3 K 3220/17 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

[[X.].]ie Beteiligten streiten über den [X.]nspruch auf [[X.].]indergeld bei längerem Schulbesuch der [[X.].]inder im [X.]usland.

2

[[X.].]ie [[X.].]lägerin und Revisionsbeklagte ([[X.].]lägerin) und ihr Ehemann sind [[X.].] Staatsangehörige. Ihre vier in der [[X.].] ([[X.].]) geborenen und aufgewachsenen [[X.].]inder sind [[X.].] Staatsangehörige: [[X.].] ([[X.].], geboren 1995), [[X.].] (Tochter, geboren 1997), [X.] ([[X.].], geboren 1999) und [[X.].] ([[X.].], geboren 2004).

3

[[X.].]ie [[X.].]inder [[X.].], [X.] und [[X.].] sollten eine [[X.].] Schule besuchen. [[X.].]a eine [X.]ufnahme in die [[X.].] Schule in [[X.].] nicht erreicht werden konnte, entschied die Familie, die [[X.].]inder ab [[X.].] 2010 für sechs oder sieben [[X.].]ahre in die [[X.].] Schule in [[X.].] zu senden, wo die Familie über ein Haus verfügte und Verwandte hatte. [[X.].]ie [[X.].]lägerin lebte in dieser [[X.].] mit den drei [[X.].]indern in [[X.].] in dem Haus (sechs Schlafzimmer, Wohnzimmer und Fernsehzimmer). [[X.].]er in [[X.].] selbständig tätige Ehemann der [[X.].]lägerin blieb zusammen mit dem ältesten [[X.].]ind im Inland und kam unregelmäßig, jedoch mindestens einmal, gelegentlich zweimal jährlich für ca. einen Monat nach [[X.].] zu Besuch. In den [[X.].]ferien flogen die [[X.].]lägerin und die drei jüngeren [[X.].]inder regelmäßig [X.]nfang [[X.].]uni nach [[X.].] und [X.]nfang September zurück nach [[X.].]. Während der (kurzen) Winterferien blieben sie in [[X.].].

4

[[X.].]ie Familie verfügte in [X.] über ein Einfamilienhaus [[X.].], ca. 200 qm), in dem alle [[X.].]inder [[X.].] hatten. [[X.].]a die [[X.].]lägerin und drei der vier [[X.].]inder sich in jedem [[X.].]ahr für neun Monate in [[X.].] aufhielten, zog die Familie im [[X.].]ezember 2009 in eine Eigentumswohnung (3 [[X.].], ca. 87 qm), das Einfamilienhaus in [[X.].] wurde vermietet. Im [[X.].]ahr 2012 zog die Familie wegen des Verkaufs der Eigentumswohnung vorübergehend in eine Mietwohnung (2 ½ [[X.].], 68 qm), bis das Einfamilienhaus im November 2014 wieder zur Verfügung stand. [X.] kam im [[X.].] 2016 endgültig zurück nach [[X.].], [[X.].], [[X.].] und die [[X.].]lägerin im [[X.].] 2017.

5

[[X.].]ie [[X.].]lägerin erhielt zunächst [[X.].]indergeld für die drei [[X.].]inder. [X.]nlässlich einer Vorsprache am 19.02.2016 erhielt die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) [[X.].]enntnis vom Schulbesuch der [[X.].]inder im [X.]usland. Mit Bescheid vom 20.06.2017 hob sie die [[X.].]indergeldfestsetzung für [[X.].] ab [X.]ugust 2003 bis Oktober 2015, für [X.] ab [X.]ugust 2005 bis [X.]pril 2016 und für [[X.].] ab Oktober 2010 bis [[X.].]ezember 2016 auf. [[X.].]urch [X.] vom 10.08.2017 und vom 06.10.2017 wurde die [X.]ufhebung teilweise zurückgenommen, so dass es letztlich bei der [X.]ufhebung der [[X.].]indergeldfestsetzung für [[X.].] ab [X.]ugust 2010 bis Oktober 2015, für [X.] ab [X.]ugust 2010 bis [X.]pril 2016 und für [[X.].] ab Oktober 2010 bis [[X.].]ezember 2016 blieb. [[X.].]ie Familienkasse forderte das ausgezahlte [[X.].]indergeld von insgesamt 39.810 € zurück.

6

[[X.].]er Einspruch blieb erfolglos. [[X.].]as Finanzgericht ([X.]) gab der [[X.].]lage statt und hob den [X.]ufhebungs- und Rückforderungsbescheid auf. Hiergegen richtet sich die Revision der Familienkasse.

7

Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

8

[[X.].]ie Familienkasse beantragt, das angegriffene Urteil aufzuheben und die [[X.].]lage abzuweisen.

9

[[X.].]ie [[X.].]lägerin hat sich nicht geäußert und keinen [X.]ntrag gestellt.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Denn die Entscheidung des [X.], der Klage gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid stattzugeben, weil sowohl die Kinder K, A und J als auch die Klägerin in den streitigen [X.]räumen einen Wohnsitz im Inland beibehielten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

1. Die Grundsätze, nach denen sich bestimmt, ob jemand einen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung --AO--) im Inland hat, sind durch langjährige Rechtsprechung im Wesentlichen geklärt (z.B. Senatsurteile vom 23.06.2015 - III R 38/14, [X.], 381, [X.], 102; vom 25.09.2014 - III R 10/14, [X.], 239, [X.], 655; vom 18.12.2013 - III R 44/12, [X.], 344, [X.], 143; vom 08.05.2014 - III R 21/12, [X.], 389, [X.], 135, und vom 20.11.2008 - III R 53/05, [X.], 564).

a) Nach § 8 AO, der auch im Rahmen der Prüfung des § 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) über § 1 Abs. 1 AO i.V.m. § 31 Satz 3 EStG Anwendung findet, hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Damit knüpft der Wohnsitzbegriff des § 8 AO ausschließlich an die tatsächliche Gestaltung und nicht an subjektive Vorstellungen an (Senatsurteil in [X.], 239, [X.], 655, Rz 14, m.w.N.).

Ein Wohnsitz nach § 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumen das Innehaben der Wohnung in dem Sinn voraus, dass der Steuerpflichtige tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit --wenn auch in größeren [X.] aufsucht (Urteil des [X.] --[X.]-- vom 23.11.2000 - VI R 107/99, [X.], 558, [X.] 2001, 294, unter [X.]). Der Wohnsitzbegriff setzt zwar nicht voraus, dass die Wohnung dauernd durch ihren Inhaber genutzt wird oder der Steuerpflichtige sich dort während einer Mindestzeit aufhält. Die Wohnung im Inland muss auch nicht den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen bilden. Er kann deshalb mehrere Wohnsitze haben ([X.]-Urteil vom 12.01.2001 - VI R 64/98, [X.], 1231); erforderlich ist aber eine Nutzung, die über bloße Besuche, kurzfristige Ferienaufenthalte und das Aufsuchen der Wohnung zu Verwaltungszwecken hinausgeht ([X.]-Urteil vom 10.04.2013 - I R 50/12, [X.], 1909, Rz 16, m.w.N.).

b) Die Beurteilung, ob bei Auslandsaufenthalten objektiv erkennbare Umstände auf eine Beibehaltung und Nutzung der Wohnung im Inland schließen lassen, obliegt im Wesentlichen dem [X.]. Dies gilt namentlich für die Abwägung der Faktoren, die für und gegen ein Innehaben der Wohnung und die Absicht der weiteren Benutzung sprechen. Das [X.] hat dabei die gesamten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. An diese Tatsachenwürdigung ist der [X.] gemäß § 118 Abs. 2 [X.]O gebunden, soweit keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben werden. Im Übrigen kann das Revisionsgericht die Würdigung des [X.] nur auf Rechtsfehler und auf Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze hin überprüfen (Senatsurteile in [X.], 239, [X.], 655, Rz 27; in [X.], 389, [X.], 135, Rz 16, 17; in [X.], 564, unter [X.].; [X.]-Urteil vom 23.11.2000 - VI R 165/99, [X.], 569, [X.] 2001, 279, unter II.3.b).

c) Welche Faktoren für und gegen ein Innehaben der Wohnung und die Absicht der weiteren Benutzung sprechen und welche Umstände des Einzelfalls durch das [X.] insbesondere zu berücksichtigen sind, hat der Senat im Urteil in [X.], 239, [X.], 655 im Einzelnen dargelegt.

aa) Danach liegt die Beantwortung der Frage, ob ein Kind, das sich zeitweise außerhalb des elterlichen Haushalts im Ausland zu Ausbildungszwecken aufhält, seinen inländischen Wohnsitz bei den Eltern beibehält oder aber zunächst aufgibt und bei einer späteren Rückkehr wieder neu begründet, weitgehend auf tatsächlichem Gebiet unter Berücksichtigung der objektiven Umstände des jeweiligen Falles. Generelle Regeln lassen sich nicht aufstellen. Die Umstände müssen aber nach der Lebenserfahrung den Schluss zulassen, dass das Kind die Wohnung innehat, um sie als solche zu nutzen (Senatsurteil in [X.], 239, [X.], 655, Rz 19).

bb) Neben der voraussichtlichen Dauer der auswärtigen Unterbringung, der Art der Unterbringung am Ausbildungsort auf der einen und im Elternhaus auf der anderen Seite, dem Zweck des Auslandsaufenthalts, den persönlichen Beziehungen des Kindes am Wohnort der Eltern einerseits und am Ausbildungsort andererseits, kommt auch der Dauer und Häufigkeit der Inlandsaufenthalte Bedeutung zu (Senatsurteil in [X.], 239, [X.], 655, Rz 20).

cc) Minderjährige Kinder teilen zwar nicht stets --gleichsam automatisch-- sämtliche Wohnsitze ihrer Eltern, wenn diese über mehrere Wohnsitze verfügen (Senatsurteil vom 07.04.2011 - III R 77/09, [X.]/NV 2011, 1351; Senatsbeschlüsse vom 15.05.2009 - III B 209/08, [X.], 1630, und vom 27.08.2010 - III B 30/09, [X.]/NV 2010, 2272). Jedoch gibt es umgekehrt auch keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass ein Kind, das bei den Eltern oder einem Elternteil im Ausland wohnt und zur Schule geht, immer nur diesen einen Wohnsitz hat und keinen weiteren Wohnsitz der Eltern teilt (vgl. Senatsurteil in [X.], 344, [X.], 143, Rz 8).

2. Das [X.] ist bei seiner Entscheidung von diesen Grundsätzen ausgegangen. Es hat nach Würdigung aller maßgeblichen Umstände des Streitfalls festgestellt, dass sowohl die Kinder als auch die Klägerin einen Wohnsitz im Inland beibehalten haben.

a) Das [X.] hat in seiner Gesamtwürdigung fehlerfrei berücksichtigt, dass für die Kinder im Haus/in der Wohnung in [X.] jederzeit ein eigenes Bett bereit stand und damit die Möglichkeit zu übernachten. Weiterhin hat es berücksichtigt, dass der Aufenthalt in [X.] von vornherein nur für die [X.] des Schulbesuchs gedacht, eine dauerhafte Auswanderung zu keiner [X.] beabsichtigt war und die Kinder ihre [X.] Beziehungen in [X.] nie aufgegeben haben.

b) Das [X.] hat dabei nicht verkannt, dass die Verhältnisse in [X.] teilweise beengt waren, da in [X.] zeitweise lediglich eine kleine Wohnung zur Verfügung stand und hat dies in seine Gesamtwürdigung einfließen lassen. Es hat berücksichtigt, dass die Kinder sich in [X.] [X.] teilen mussten, jedoch keine Mindestgröße der Wohnung vorgeschrieben ist, solange die Eignung zum Wohnen nicht beeinträchtigt ist ([X.]-Urteil vom 13.11.2013 - I R 38/13, [X.]/NV 2014, 1046). Beim zeitweisen Umzug in eine kleine 2 ½-Zimmer-Wohnung berücksichtigte es auch, dass das Einfamilienhaus für eine Übergangszeit noch vermietet war. Ebenso hat es weiterhin in die Gesamtwürdigung in ausreichendem Maße die Aufenthalte in [X.] einbezogen und auch berücksichtigt, dass die minderjährigen Kinder nicht bei Verwandten im Heimatland der Eltern zum Zwecke des dortigen Schulbesuchs untergebracht waren, sondern bei der Mutter der Kinder, der Klägerin. Der mehrjährige Schulbesuch im Ausland unter Anwesenheit eines Elternteils der Kinder führte gerade nicht dazu, dass sich die Kinder längerfristig in die dortigen Lebensverhältnisse einlebten und damit die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern für die Dauer der Ausbildung aufgegeben wurde. Vielmehr blieb die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen Elternteil und Kindern erhalten.

c) In Ermangelung erhobener Verfahrensrügen ist der Senat an die Beurteilung durch das [X.] gemäß § 118 Abs. 2 [X.]O gebunden. Denn ist die tatsächliche Würdigung des [X.] verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und verstößt sie auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, ist sie für den [X.] als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 [X.]O auch dann bindend, wenn die Wertung des [X.] nicht zwingend, sondern lediglich möglich ist (z.B. Senatsurteile vom 22.02.2017 - III R 20/15, [X.]E 257, 274, [X.] 2017, 913, Rz 22; vom 22.12.2011 - III R 41/07, [X.]E 236, 144, [X.] 2012, 681, Rz 18, und in [X.], 564, unter [X.]).

3. [X.] folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 46/18

25.07.2019

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 4. Juli 2018, Az: 3 K 3220/17, Urteil

§ 8 AO, § 63 Abs 1 EStG 2009, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012, EStG VZ 2013, EStG VZ 2014, EStG VZ 2015, EStG VZ 2016

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 25.07.2019, Az. III R 46/18 (REWIS RS 2019, 5062)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 5062

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