Bundessozialgericht, Urteil vom 23.03.2010, Az. B 14 AS 6/09 R

14. Senat | REWIS RS 2010, 8173

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Arbeitslosengeld II - Sonderbedarf - mehrtägige Klassenfahrt - Antragserfordernis - keine Notwendigkeit der gesonderten Antragstellung


Leitsatz

Ein Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst auch Leistungen für Klassenfahrten.

Tatbestand

1

[X.]ie Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten für einen mehrtägigen Aufenthalt in einem Schullandheim sowie für den eintägigen Besuch eines Musicals.

2

[X.]ie 1988 geborene Klägerin lebt zusammen mit ihrer Mutter, deren Ehemann und einer Halbschwester. Sie bezog seit dem 1.1.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] ([X.]); für die [X.] vom [X.] bis 31.10.2005 aufgrund bestandskräftigen [X.]es vom 22.4.2005. Seit dem 12.9.2005 besuchte sie eine Hauptschule in [X.] Am 25.8.2006 beantragte der Stiefvater die Erstattung der Kosten für einen Schullandheimaufenthalt in [X.] vom 23.9. bis 2.10.2005 in Höhe von 271 Euro sowie der Kosten für den Besuch des Musicals "[X.]" am [X.] in Höhe von 32,40 Euro. [X.]ie Beklagte lehnte mit [X.] vom 30.8.2006 die Übernahme der Kosten ab, weil der Antrag vor Antritt der Fahrten gestellt werden müsse. Außerdem seien die Kosten bereits beglichen, sodass der Bedarf aus eigenen Mitteln habe gedeckt werden können. Mit Widerspruchsbescheid vom [X.] wies die Beklagte den Widerspruch hiergegen zurück.

3

[X.]as [X.] hat die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom 23.10.2007 abgewiesen. [X.]ie Kosten für den Schullandheimaufenthalt seien zwar grundsätzlich nach § 23 Abs 3 [X.] erstattungsfähig. Eine Bedarfsdeckung für die Vergangenheit sei nach der Rechtsprechung des [X.] zum Bundessozialhilfegesetz jedoch nicht zulässig. [X.]ieser Grundsatz gelte auch für das [X.]. Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die eintägige Klassenfahrt bestehe schon nach dem Wortlaut des § 23 Abs 3 [X.] nicht. [X.]as [X.] ([X.]) [X.] hat mit Urteil vom 26.11.2008 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten der mehrtägigen Klassenfahrt scheitere daran, dass diese Leistung nicht rechtzeitig beantragt worden sei. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende würden nach § 37 Abs 1 [X.] nach Antragstellung erbracht. Leistungen für die [X.] vor Antragstellung könnten nach § 37 Abs 2 Satz 1 [X.] nicht erbracht werden. Auch die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch lägen nicht vor. [X.]ie Beklagte habe im maßgeblichen Bewilligungszeitraum keine Anhaltspunkte für einen Sonderbedarf der Klägerin gehabt. Allein die Kenntnis vom Schulbesuch habe noch keine konkrete Beratungspflicht ausgelöst. Für eine Erstattung der Kosten für die eintägige Klassenfahrt fehle es bereits an einer Anspruchsgrundlage. § 23 Abs 3 Nr 3 [X.] erfasse ausdrücklich nur mehrtägige Klassenfahrten.

4

Hiergegen richtet sich die vom [X.] zugelassene Revision der Klägerin. Zur Begründung trägt sie vor, der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasse alle Leistungen nach dem zweiten Abschnitt des [X.]. Leistungen nach § 23 [X.] müssten daher nicht gesondert beantragt werden. [X.]a aus dem Erstantrag für die Beklagte auch erkennbar gewesen sei, dass die Klägerin noch die Schule besucht habe, und deshalb entsprechend ihrem Jahrgang eine mehrtägige Klassenfahrt in Betracht kommen könnte, habe eine entsprechende Beratungspflicht der Beklagten bestanden. [X.]er Bedarf sei auch nicht durch eigene Mittel gedeckt worden. Vielmehr seien Schulden durch eine Kontoüberziehung entstanden. Zwar seien nach dem Wortlaut des § 23 [X.] Kosten für eine eintägige Klassenfahrt nicht erstattungsfähig, es sei jedoch zu beachten, dass frühere Sozialleistungen auch eintägige Klassenfahrten umfasst hätten. Bei der Klassenfahrt zu dem Musical habe es sich um Bildungsausgaben gehandelt, die in der Regelleistung nicht berücksichtigt seien.

5

[X.]ie Klägerin beantragt,

die Urteile des [X.] vom 23.10.2007 und des [X.]s [X.] vom 26.11.2008 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung ihres [X.]es vom 30.8.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] zu verurteilen, ihr die Kosten für den Schullandheimaufenthalt in [X.] vom 23.9. bis 2.10.2005 in Höhe von 271 Euro sowie für den eintägigen Besuch des Musicals "[X.]" am [X.] in Höhe von 32,40 Euro zu erstatten.

6

[X.]ie Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

7

Sie hält die angegriffenen Urteile für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet, § 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ([X.]), soweit sie die Erstattung von Kosten für den Besuch des Musicals "[X.]" am [X.] begehrt. Im Übrigen ist die Revision im Sinne der Zurückverweisung an das [X.] zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet, § 170 Abs 2 Satz 2 [X.].

9

1. Streitig sind allein die Ansprüche der Klägerin auf Leistungen für Klassenfahrten nach § 23 Abs 3 Satz 1 [X.] 3 [X.]. Dabei handelt es sich um eigenständige abtrennbare Streitgegenstände, die isoliert und unabhängig von den übrigen Grundsicherungsleistungen geltend gemacht werden können (vgl [X.] [X.] AS 36/07 R - [X.], 68 = [X.]-4200 § 23 [X.], jeweils Rd[X.]3). Der Anspruch steht allein der Klägerin zu. Zwar bildet sie mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und deren Ehemann eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3 [X.], Leistungen für Klassenfahrten stehen aber individuell nur ihr allein zu.

2. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 iVm § 23 [X.] (idF des [X.] vom 30.7.2004, [X.] 2014). Gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 [X.] erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben ([X.]), erwerbsfähig ([X.]) und hilfebedürftig sind ([X.] 3) sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der [X.] haben ([X.] 4). Ausschlussgründe nach § 7 Abs 5 Satz 1 [X.] liegen nicht vor.

3. Das [X.] hat zu Recht einen Anspruch nach § 23 Abs 3 Satz 1 [X.] 3 [X.] hinsichtlich des eintägigen Besuchs eines Musicals verneint, weil es am Tatbestandsmerkmal der [X.] fehlt. Anspruch auf Leistungen für Klassenfahrten besteht nach § 23 Abs 3 Satz 1 [X.] 3 [X.] nur, sofern sie mehrtägig sind. Das ist nur dann der Fall, wenn sie einen Zeitraum von mehr als einem Tag umfassen (vgl Lang/[X.] in Eicher/Spellbrink, [X.], 2. Aufl 2008, § 23 Rd[X.]10). Kosten eintägiger Klassenfahrten sind hingegen durch die Regelleistung gedeckt (vgl [X.] in LPK-[X.], 3. Aufl 2009, § 23 Rd[X.] 36).

Die Klägerin kann die Leistung auch nicht als "[X.]" auf der Grundlage von Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 Grundgesetz beanspruchen. Das [X.] hat in seiner Entscheidung vom [X.] einen solchen zusätzlichen Anspruch nur bei einem unabweisbarem, laufendem, nicht nur einmaligen und besonderen Bedarf zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums bejaht (1 BvL 1/09, 3/09, 4/09). Eine solche Konstellation liegt hier nicht vor.

4. Ob ein Anspruch der Klägerin auf Erstattung der Kosten für die mehrtägige Fahrt nach [X.] nach § 23 Abs 3 Satz 1 [X.] 3, § 40 Abs 1 Satz 1 [X.] iVm § 48 [X.] ([X.]) besteht, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.

a) Entgegen der Auffassung des [X.] scheitert ein Anspruch nicht bereits an einer fehlenden Antragstellung nach § 37 [X.]. Zwar hat die Klägerin ihren Bedarf nach § 23 Abs 3 Satz 1 [X.] 3 [X.] zu einem Zeitpunkt zur Kenntnis der Beklagten gebracht, als die Klassenfahrten bereits durchgeführt worden waren. Der Antrag auf Leistungen für Klassenfahrten war aber bereits von dem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst.

Gemäß § 37 Abs 1 [X.] werden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf Antrag erbracht. § 37 Abs 2 Satz 1 [X.] schließt eine Leistungserbringung für Zeiten vor der Antragstellung aus. Die Vorschrift gilt uneingeschränkt für alle Leistungen der Grundsicherung (vgl [X.] in Eicher/Spellbrink, aaO, § 37 Rd[X.]). Sie statuiert ein konstitutives Antragserfordernis, sodass Leistungen erst ab Antragstellung zustehen (vgl BT-Drucks 15/1516 [X.]; Urteile des Senats vom 30.7.2008 - [X.] AS 26/07 R - [X.]-4200 § 11 [X.]7 Rd[X.]3 und vom [X.] - [X.] AS 13/08 R - zur Veröffentlichung in [X.] vorgesehen). Der Antrag nach dem [X.] ist eine einseitige empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung, auf die - soweit sich nicht aus sozialrechtlichen Bestimmungen [X.] ergibt - die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches Anwendung finden ([X.] vom 28.10.2009 - [X.] AS 56/08 R - Rd[X.]4, zur Veröffentlichung in [X.] vorgesehen). Der Antragsteller bringt zum Ausdruck, dass Leistungen vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt werden. Welche Leistungen ein Antrag umfasst, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist der Antrag so auszulegen, dass das Begehren des Antragstellers möglichst weitgehend zum Tragen kommt (Grundsatz der Meistbegünstigung, vgl Urteil des Senats vom [X.] - [X.] [X.]/08 [X.], zur Veröffentlichung in [X.] vorgesehen; vgl zum Klageantrag [X.] vom 7.11.2006 - B 7b [X.] - [X.], 217 = [X.]-4200 § 22 [X.], jeweils Rd[X.]1). Als beantragt sind dementsprechend alle Leistungen anzusehen, die nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommen (vgl [X.] in Eicher/Spellbrink aaO; Striebinger in Gagel, [X.], Stand Dezember 2009, § 37 Rd[X.] 34). Das sind bei einem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regelmäßig alle im 1. und 2. Unterabschnitt des 2. Abschnitts des 3. Kapitels [X.] genannten Leistungen (vgl auch die Hinweise der [X.] zum Umfang des Antrags <37.4>). Mit dem Antrag wird ein Hilfebedarf geltend gemacht, der alle Leistungen umfasst, die der Sicherung des Lebensunterhalts in Form des [X.] dienen. Bei den in § 23 Abs 3 [X.] vorgesehenen Leistungen handelt es sich zwar um einmalige Sonderbedarfe (vgl [X.] vom 19.9.2008 - [X.] AS 64/07 R - [X.], 268 = [X.]-4200 § 23 [X.] Rd[X.]1; Urteile vom [X.] - B 4 AS 77/08 R - zur Veröffentlichung in [X.] vorgesehen und vom 28.10.2009 - [X.] AS 44/08 R - zur Veröffentlichung in [X.] vorgesehen). Das Erfordernis einer besonderen Bedarfslage ändert aber nichts an der Zuordnung dieser Leistungen zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auch ihre prozessuale Behandlung als eigenständiger Streitgegenstand führt nicht dazu, dass die Leistung gesondert beantragt werden müsste. Ein solches Erfordernis lässt sich § 37 [X.] nicht entnehmen. Die Vorschrift enthält keine Antragsbestimmungen für einzelne Leistungen, sondern fordert lediglich unspezifisch einen Antrag.

b) Da über den Bewilligungszeitraum, in dem der Schullandheimaufenthalt stattfand, bereits bestandskräftig entschieden worden war, war über den Anspruch nach § 40 Abs 1 Satz 1 [X.] iVm § 48 [X.] zu entscheiden. Das [X.] wird zunächst im Einzelnen zu ermitteln haben, welche Bedarfe iS des § 23 Abs 3 Satz 1 [X.] 3 [X.] tatsächlich bestanden haben. Ein Bedarf ist nicht bereits deshalb zu verneinen, weil die Klägerin auch ohne die begehrte Leistung tatsächlich teilgenommen hat.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 14 AS 6/09 R

23.03.2010

Bundessozialgericht 14. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Stuttgart, 23. Oktober 2007, Az: S 9 AS 9505/06, Urteil

§ 23 Abs 3 S 1 Nr 3 SGB 2 vom 30.07.2004, § 23 Abs 3 S 2 SGB 2 vom 30.07.2004, § 20 Abs 1 SGB 2, § 37 Abs 1 SGB 2, § 37 Abs 2 SGB 2

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 23.03.2010, Az. B 14 AS 6/09 R (REWIS RS 2010, 8173)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 8173

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1 BvL 1/09

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