Bundesfinanzhof, Beschluss vom 16.06.2016, Az. X B 110/15

10. Senat | REWIS RS 2016, 9807

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Gegenstand

Urteil ohne mündliche Verhandlung - Berücksichtigung von Schriftsätzen


Leitsatz

1. NV: Bei Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung ist der Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht, die Absendung der Urteilsausfertigungen .

2. NV: Schriftsätze, die bis zur Absendung der Urteilsausfertigungen beim FG eingehen, müssen grundsätzlich verwertet werden, auch wenn das Urteil ohne mündliche Verhandlung bereits beschlossen ist .

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 4. Juni 2015  10 K 10192/13 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) begehrte im Verfahren vor dem Finanzgericht ([X.]) im Rahmen der [X.] nach §§ 79 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) die Festsetzung zweier Kinderzulagen nach § 85 EStG für das Jahr 2004. Von der Kindesmutter, seiner damaligen Ehefrau, lebte er seit August 2004 getrennt. Er betreute die Kinder fortan allein. Die Kindesmutter erhielt gleichwohl bis Mai 2005 das Kindergeld. Eine Zustimmung zur Übertragung der Kinderzulagen auf den Kläger hatte sie nicht erteilt. Seit dem 14. April 2005 stand sie unter Betreuung u.a. für Vermögensangelegenheiten und familienrechtliche Angelegenheiten. Die Beklagte und Beschwerdegegnerin, die [X.], [X.] ([X.]), lehnte die Festsetzung der Kinderzulagen wegen der fehlenden Zustimmung der Kindesmutter ab.

2

In einer mündlichen Verhandlung vom 12. Februar 2015, in der der Kläger durch seinen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Vater vertreten wurde, wies die Senatsvorsitzende des [X.] darauf hin, dass es noch möglich sein sollte, die Zustimmungserklärung der Betreuerin nachzureichen. Die Beteiligten verzichteten auf weitere mündliche Verhandlung. Das [X.] vertagte die Sache. Mit Verfügung ebenfalls vom 12. Februar 2015 forderte der Berichterstatter des [X.] den Kläger nach § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) unter gleichzeitigem Hinweis auf die Rechtsfolgen des § 79b Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1, 2 [X.]O auf, binnen drei Monaten ab Zustellung der Verfügung eine (vorformulierte) Zustimmung der Kindesmutter, vertreten durch ihre Betreuerin, einzuholen. Die Verfügung wurde dem Vertreter des [X.] am 18. Februar 2015 zugestellt. Ein Eingang erfolgte zunächst nicht. Mit Urteil vom 4. Juni 2015 wies das [X.] die Klage ab.

3

Mit Schreiben vom 3. Juni 2015, eingegangen beim [X.] am 8. Juni 2015, bat der Klägervertreter um Verlängerung der Frist. Er erläuterte unter Vorlage der entsprechenden Schreiben, dass die ihm bisher bekannte Betreuerin auf ihre Nachfolgerin verwiesen, diese wiederum auf ihren Nachfolger verwiesen, jener sich seither nicht gemeldet habe, so dass es noch weiterer [X.] bedürfe, den Betreuer zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. Das [X.] stellte das Urteil mit Verfügung vom 8. Juni 2015 zu und versah die Übersendung mit dem Hinweis, das Urteil sei bereits am 4. Juni 2015 gesprochen worden, so dass der später eingegangene Schriftsatz keine Berücksichtigung mehr habe finden können.

4

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stellt der Kläger seine mehrfachen Nachfragen bei den jeweils mutmaßlichen Betreuern dar und erklärt, es sei ihm aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen unmöglich gewesen, die gesetzte Frist einzuhalten. Sein Schreiben mit dem Antrag auf Fristverlängerung sei bei dem [X.] am 8. Juni 2015 und damit vor Abfassung des Urteils eingegangen. Das [X.] hätte die Frist antragsgemäß verlängern müssen.

5

Die [X.] tritt der Beschwerde entgegen. Eine Fristverlängerung hätte nach § 54 Abs. 2 [X.]O i.V.m. § 224 Abs. 2 der Zivilprozessordnung die Glaubhaftmachung erheblicher Gründe vor Fristablauf erfordert.

Entscheidungsgründe

6

II. Die Beschwerde ist begründet.

7

1. Der Senat versteht das Beschwerdevorbringen in der Weise, dass der Kläger den Erlass des Urteils trotz seines am 8. Juni 2015 bei dem [X.] eingegangenen Schriftsatzes und damit die Nichtberücksichtigung dieses Schriftsatzes rügt. Er hat zwar ausdrücklich nur eingewandt, das [X.] hätte die beantragte Fristverlängerung gewähren müssen. Darin ist aber denknotwendig vorrangig enthalten, dass das [X.] den Schriftsatz zur Kenntnis nehmen und den darin enthaltenen Antrag hätte bescheiden müssen. Damit macht der Kläger einen Verfahrensfehler in Gestalt der Verletzung rechtlichen Gehörs i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O i.V.m. § 119 Nr. 3 [X.]O geltend.

8

2. Dieser Verfahrensmangel liegt vor. Das Urteil beruht auf diesem Fehler.

9

a) Entscheidet das [X.] nach § 90 Abs. 2 [X.]O ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung nach § 93 Abs. 3 Satz 1 [X.]O entspricht, die Absendung der Urteilsausfertigungen. Ein Schriftsatz, der bis zu diesem Zeitpunkt beim Gericht eingeht, muss daher grundsätzlich noch verwertet werden, soweit er nicht offensichtlich unerheblich ist (vgl. Entscheidungen des [X.] vom 16. Oktober 1970 VI B 24/70, [X.], 351, [X.] 1971, 25; vom 23. Juni 1988 IV R 108/86, nicht veröffentlicht; vom 18. September 2001 XI B 100/99, [X.], 356, unter II.2.; vom 30. Dezember 2002 IV B 167/01, [X.] 2003, 751; vom 28. Oktober 2004 V B 244/03, [X.] 2005, 376, unter II.3.).

b) Im Streitfall ging der Schriftsatz des [X.] vom 3. Juni 2015 am 8. Juni 2015 beim [X.] ein. Am selben Tag wurde das Urteil abgesandt. Der Schriftsatz muss indes vor Absendung eingegangen sein, da andernfalls der Zusatz bei der Übersendung, dass das Urteil den Schriftsatz nicht mehr habe berücksichtigen können, nicht hätte angebracht werden können. Das [X.] hätte daher den Schriftsatz grundsätzlich noch verwerten und sich in seiner Entscheidung damit auseinandersetzen müssen.

c) Davon durfte das [X.] auch nicht deshalb Abstand nehmen, weil der Schriftsatz offensichtlich unerheblich gewesen wäre. Zwar ist bei einem absoluten Revisionsgrund, zu dem auch die Verletzung rechtlichen Gehörs zählt, nach § 119 Nr. 3 [X.]O das Urteil als auf diesem Fehler beruhend anzusehen. Das gilt allerdings dann nicht, wenn der Verfahrensfehler nur einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte betrifft, auf die es für die Entscheidung aus der Sicht des Revisionsgerichts unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt (vgl. Gräber/ Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 119 Rz 19). Dies wäre bei einem offensichtlich unerheblichen Schriftsatz i.S. von II.2.a der Fall.

Der Schriftsatz war aber nicht erkennbar ohne Bedeutung. Er war es insbesondere nicht etwa deshalb, weil die Ausschlussfrist nach § 79b Abs. 2 [X.]O abgelaufen war und, worauf die [X.] dem Grunde nach zu Recht hinweist, eine Fristverlängerung vor Ablauf der Frist hätte beantragt werden müssen. Auch wenn die Verlängerung der Frist selbst nicht mehr möglich war, konnte der nach Fristablauf eingegangene Schriftsatz für die Entscheidung des [X.] erheblich sein. Zum einen war auf Grundlage dieses Schriftsatzes zu prüfen, ob angesichts der Schilderungen des [X.] die Verspätung als entschuldigt i.S. des § 79b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O zu betrachten sein könnte. Zum anderen steht die Präklusion verspäteten Vorbringens selbst dann, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 79b Abs. 3 [X.]O erfüllt sind, im Ermessen des [X.]. Geht das [X.] aber davon aus, es dürfe den Schriftsatz schon deshalb nicht mehr verwerten, weil er zwar nach Beschlussfassung über das Urteil, aber noch vor dessen Absendung eingegangen ist, liegt ein Ermessensausfall vor, der auf der fehlenden Verwertung des Schriftsatzes beruht.

3. Zur Straffung des Verfahrens verweist der Senat den Rechtsstreit bereits im Beschwerdeverfahren nach § 116 Abs. 6 [X.]O an das [X.] zurück.

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

X B 110/15

16.06.2016

Bundesfinanzhof 10. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 4. Juni 2015, Az: 10 K 10192/13, Urteil

§ 79 EStG 2002, § 85 EStG 2002, § 54 Abs 2 FGO, § 79b Abs 2 FGO, § 79b Abs 3 FGO, § 90 Abs 2 FGO, § 93 Abs 3 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 Nr 3 FGO, § 224 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 16.06.2016, Az. X B 110/15 (REWIS RS 2016, 9807)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9807

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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