Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.05.2017, Az. 2 StR 428/16

2. Strafsenat | REWIS RS 2017, 10147

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Gegenstand

Ausschluss der Öffentlichkeit bei Vernehmung einer Beweisperson: Erstreckung des Ausschlusses auf damit zusammenhängende Verfahrensvorgänge; Beweiskraft des Protokolls für die Wiederherstellung der Öffentlichkeit


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 21. April 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen „sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 108 Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 346 Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision.

2

Das Rechtsmittel hat mit der auf den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 [X.] gestützten Verfahrensrüge Erfolg.

3

1. Das [X.] hat im [X.] vom 7. April 2016 beschlossen, während der Erstattung des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen und seiner Erörterung gemäß § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG die Öffentlichkeit auszuschließen. Nach Verkündung des Beschlusses hat die Kammer den Sachverständigen belehrt und - noch vor Erstattung des Gutachtens - mit dem Angeklagten und den Verfahrensbeteiligten zwei Lichtbildmappen in Augenschein genommen. Diese enthielten auf 77 Seiten 183 Lichtbilder von der Wohnung des Angeklagten und verfahrensrelevanten Gegenständen, u.a. kindliche Zeichnungen und Liebesbriefe (wohl von der Geschädigten) an den Angeklagten, die im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung sichergestellt worden waren. Nach zehnminütiger Unterbrechung der Hauptverhandlung hat der Sachverständige sein Gutachten erstattet und als Zeuge ausgesagt. Anschließend hat sich der Angeklagte zur Sache geäußert. Nach der Anordnung, den Sachverständigen unvereidigt zu lassen und zu entlassen, hat der Vorsitzende verfügt, die Hauptverhandlung zu unterbrechen und am 21. April 2016 fortzusetzen. Das Protokoll vermerkt nicht, dass die Öffentlichkeit vor der Inaugenscheinnahme der Lichtbilder, vor der Äußerung des Angeklagten zur Sache und vor der Verfügung des [X.] wiederhergestellt worden ist.

4

Die Wiederherstellung der Öffentlichkeit gehört jedoch zu den wesentlichen Förmlichkeiten, für welche die besondere Beweiskraft des Protokolls nach § 274 [X.] gilt (vgl. [X.], Beschluss vom 31. März 1994 - 1 StR 48/94, [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 15; [X.], Beschluss vom 21. Juli 2000 - 3 [X.], bei [X.] NStZ-RR 2001, 264 Nr. 26 jeweils mwN). Das - weder lückenhafte noch widersprüchliche - Protokoll beweist daher, dass die an die genannten [X.] jeweils anschließende weitere Hauptverhandlung - wie von der Revision geltend gemacht - in Abwesenheit der Öffentlichkeit stattgefunden hat.

5

2. Während für die Anberaumung des [X.] die Öffentlichkeit nicht wiederhergestellt werden musste (vgl. [X.], Beschluss vom 20. September 2005 - 3 [X.], [X.], 117), liegt in der Nichtwiederherstellung der Öffentlichkeit vor Einnahme des Augenscheins und Äußerung des Angeklagten jeweils ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit.

6

Zwar deckt der Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit für den Zeitraum der Vernehmung einer Beweisperson auch die im Zusammenhang mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang stehenden oder sich aus ihr entwickelnden [X.] ab (vgl. [X.], Beschluss vom 12. November 2015 - 5 [X.], [X.], 118 mit [X.] Bittmann; Urteile vom 17. Dezember 1987 - 4 [X.], [X.], 190 zur Augenscheinseinnahme; vom 15. April 2003 - 1 [X.], [X.]St 48, 268 zur Entlassung eines Zeugen; vom 20. September 2005 - 3 [X.], [X.], 117 zu Erklärungen des Angeklagten nach § 257 [X.]).

7

Die in Augenschein genommenen Lichtbilder hatten jedoch ersichtlich keinen Bezug zum Inhalt des erstatteten Gutachtens und zu den zeugenschaftlichen Bekundungen des Sachverständigen. Auch erfolgte die Inaugenscheinnahme ausweislich des Protokolls „mit dem Angeklagten und den übrigen Verfahrensbeteiligten“, zu denen der Sachverständige nach seiner prozessualen Funktion als persönliches Beweismittel begrifflich nicht gehört ([X.]/[X.], [X.], 60. Aufl., [X.]. Rn. 75, 100).

8

Auch die Äußerungen des Angeklagten standen in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Gutachtenerstattung, weil er nach dem Protokoll nicht nur eine Erklärung zur vorangegangenen Beweiserhebung nach § 257 [X.] abgab, sondern sich „zur Sache“ äußerte.

9

Da auch ersichtlich kein Fall vorliegt, in dem das Beruhen des Urteils auf dem [X.] denkgesetzlich ausgeschlossen werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 25. Juli 1995 - 1 StR 342/95, NJW 1996, 138), war das Urteil insgesamt aufzuheben.

Appl     

       

Eschelbach     

       

Zeng   

       

Grube     

       

[X.]     

       

Meta

2 StR 428/16

31.05.2017

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Gießen, 21. April 2016, Az: 604 Js 29806/15 - 1 KLs

§ 274 StPO, § 338 Nr 6 StPO, § 171b Abs 1 S 1 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.05.2017, Az. 2 StR 428/16 (REWIS RS 2017, 10147)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 10147

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