Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.12.2022, Az. VII ZR 292/21

7. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 8159

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Tenor

Auf die Revision des [X.] wird der Beschluss des17. Zivilsenats des [X.] vom 10. März 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für die Revisionsinstanz wird auf bis 25.000 € festgesetzt.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die [X.] wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Er erwarb im Juli 2010 von einem Autohändler ein Fahrzeug [X.] Ambition Sportback 2.0 [X.] als Neuwagen zum Preis von 35.380 €. In dem Fahrzeug ist ein Motor des Typs [X.] verbaut, der von der [X.] entwickelt und hergestellt wurde. Die in den Motor eingebaute Software erkennt, ob sich das Fahrzeug auf einem technischen Prüfstand zur Ermittlung der Emissionswerte oder im üblichen Straßenverkehr befindet, und spielt auf dem Prüfstand ein anderes Motorprogramm ab als im Normalbetrieb. Hierdurch werden auf dem Prüfstand geringere Stickoxidwerte erzielt.

3

Mit einer Pressemitteilung sowie einer Ad-hoc-Mitteilung vom 22. September 2015 informierte die [X.] die Öffentlichkeit über den Umstand, dass bei Fahrzeugen mit Motoren des Typs [X.] auffällige Abweichungen zwischen Prüfstandswerten und realem Fahrbetrieb festgestellt worden seien. In der Folgezeit wurde die Thematik des sogenannten Abgasskandals breit diskutiert und in Presse, Funk und Fernsehen darüber berichtet, insbesondere auch über die Betroffenheit einzelner Fahrzeugmodelle der unterschiedlichen Marken des [X.]. Am 2. Oktober 2015 schaltete die [X.] eine Webseite zur Ermittlung der individuellen Betroffenheit frei, auf der man durch Eingabe der [X.] überprüfen konnte, ob ein konkretes Fahrzeug von der Manipulation betroffen ist. Hierüber informierte die [X.] mittels einer Pressemitteilung und veröffentlichte den [X.] auf ihrer Internetpräsenz. Die Webseite wurde zudem in den Medien bekannt gemacht. Auch die Tochterunternehmen des [X.] wie die [X.] entwickelten entsprechende Webseiten und veröffentlichten entsprechende Pressemitteilungen. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 ordnete das [X.] den Rückruf und eine entsprechende Nachrüstung der betroffenen Fahrzeuge an, worüber die [X.] in einer weiteren Pressemitteilung berichtete. Mit Schreiben vom Februar 2016 informierte die [X.] den Kläger darüber, dass auch in seinem Fahrzeug eine entsprechende Software verbaut sei. Im Dezember 2017 wurde ein von der [X.] entwickeltes Software-Update am klägerischen Fahrzeug aufgespielt.

4

Der Kläger behauptet, er habe im [X.] noch keine Kenntnis gehabt, dass sein Fahrzeug vom sogenannten Abgasskandal betroffen sei, und hiervon erst im Zuge der Rückrufaktion durch das Schreiben der [X.] vom Februar 2016 erfahren.

5

Mit seiner am 30. Dezember 2019 eingegangenen und am 27. Januar 2020 zugestellten Klage hat der Kläger die Erstattung des Kaufpreises nebst Zahlung von [X.] um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der [X.] sowie die Freistellung von außergerichtlichen Anwaltskosten verlangt. Die [X.] hat die Einrede der Verjährung erhoben.

6

Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Schlussanträge aus der Berufungsinstanz weiter.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

8

Das Berufungsgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - ausgeführt, etwaige Ansprüche des [X.] seien Ende 2018 verjährt. Der Kläger hätte spätestens Ende 2015 ohne grobe Fahrlässigkeit Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen erlangen müssen, denn er habe bereits 2015 Kenntnis vom [X.] allgemein sowie von dem Umstand gehabt, dass [X.] und [X.] zum selben Konzern gehörten. Die Betroffenheit seines [X.] hätte der Kläger bereits im [X.] 2015 unschwer feststellen können. Sollte er dies unterlassen haben, habe er die im eigenen Interesse gebotene Sorgfalt in besonderem Maße außer [X.] gelassen. Schließlich sei dem Kläger die [X.] auch bereits zumutbar gewesen.

II.

9

Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden. [X.] ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass den Ansprüchen des [X.] die von der Beklagten erhobene Verjährungseinrede entgegensteht. Hierbei ist mangels entgegenstehender Feststellungen des Berufungsgerichts revisionsrechtlich zugunsten des [X.] zu unterstellen, dass die im Januar 2020 erfolgte Zustellung der im Dezember 2019 bei Gericht eingereichten Klage demnächst im Sinne von § 167 ZPO erfolgt ist.

1. Gemäß § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist für den deliktischen Schadensersatzanspruch drei Jahre. Sie beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Hierzu genügt es in Fällen der vorliegenden Art, dass der geschädigte Fahrzeugkäufer Kenntnis vom sogenannten [X.], von der konkreten Betroffenheit seines Fahrzeugs und von der Relevanz dieser Betroffenheit für seine Kaufentscheidung hat, wobei letztere Kenntnis nicht gesondert festgestellt werden muss, sondern naturgemäß beim Geschädigten vorhanden ist (vgl. [X.], Urteil vom 10. Februar 2022 - [X.] Rn. 17 m.w.N., NJW 2022, 1311).

2. Eine - auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen allein in Betracht kommende und gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB der positiven Kenntnis gleichstehende - grob fahrlässige Unkenntnis des [X.] von der konkreten Betroffenheit seines Fahrzeugs im Zeitraum bis Ende 2015 ist zu verneinen.

a) [X.]e Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. [X.] fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 BGB liegt dann vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder dasjenige nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der [X.] vorgeworfen werden können ([X.], Urteil vom 10. Februar 2022 - [X.] Rn. 23 m.w.N., [X.], 558).

Den Geschädigten trifft dabei im Allgemeinen weder eine Informationspflicht noch besteht für ihn eine generelle Obliegenheit, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von [X.] oder Person des Schädigers zu entfalten. Inwieweit der Gläubiger zur Vermeidung der groben Fahrlässigkeit zu einer aktiven Ermittlung gehalten ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Das Unterlassen einer solchen Ermittlung ist nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Unterlassen aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Gläubigers als unverständlich erscheinen lassen. Für den Gläubiger müssen konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein, so dass er aus verständiger Sicht gehalten ist, die Voraussetzungen des Anspruchs aufzuklären, soweit sie ihm nicht ohnehin bekannt sind ([X.], Urteil vom 10. Februar 2022 - [X.] Rn. 25 m.w.N., [X.], 558).

b) Nach diesen Maßstäben war der Kläger nicht bereits im Jahr 2015 zur Vermeidung des Vorwurfs grober Fahrlässigkeit gehalten zu ermitteln, ob sein Fahrzeug vom sogenannten [X.] betroffen war.

Selbst wenn es dem Kläger, wovon das Berufungsgericht ausgegangen ist, noch in dem verbleibenden - kurzen - Zeitraum seit Bekanntwerden des sogenannten [X.]s und der Freischaltung der Online-Plattform im Oktober 2015 bis zum Jahresende möglich gewesen sein sollte, die Betroffenheit des eigenen Fahrzeugs zu ermitteln, liegt darin, dass der Kläger in dem genannten Zeitraum hiervon keinen Gebrauch machte, kein schwerwiegender Obliegenheitsverstoß in eigenen Angelegenheiten. Mit Rücksicht darauf, dass der [X.]-Konzern seit September 2015 mit zahlreichen Informationen an die Öffentlichkeit getreten war und auch weitere Erklärungen angekündigt hatte, war ein Zuwarten des [X.] zumindest bis zum Ende des Jahres 2015 nicht schlechterdings unverständlich (vgl. [X.], Urteil vom 10. Februar 2022 - [X.] Rn. 27, [X.], 558).

III.

Das angefochtene Urteil war daher nach § 562 ZPO aufzuheben und die Sache gemäß § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen [X.] ist nicht zur Entscheidung reif, weil das Berufungsgericht - von seinem Standpunkt aus konsequent - keine abschließenden Feststellungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der vom Kläger verfolgten Ansprüche getroffen hat.

Pamp     

  

Halfmeier     

  

Graßnack

  

Sacher     

  

[X.]     

  

Meta

VII ZR 292/21

15.12.2022

Bundesgerichtshof 7. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG München, 10. März 2021, Az: 17 U 6060/20

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.12.2022, Az. VII ZR 292/21 (REWIS RS 2022, 8159)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8159

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Referenzen
Wird zitiert von

VIa ZR 419/21

Zitiert

VII ZR 365/21

VII ZR 396/21

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