Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.08.2015, Az. 1 StR 328/15

1. Strafsenat | REWIS RS 2015, 7019

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Gegenstand

Tatbegehung durch Unterlassen: Erfolgsabwendungspflicht des eintrittspflichtigen Garanten bei bewusster Selbstgefährdung


Leitsatz

Eine bewusste Selbstgefährdung lässt grundsätzlich die Erfolgsabwendungspflicht des eintrittspflichtigen Garanten nicht entfallen, wenn sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts entwickelt.

Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 19. Dezember 2014 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Totschlags durch Unterlassen und wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.

2

Seine dagegen auf die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

3

Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen Totschlags durch Unterlassen (§ 212 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB) im Fall B.II.1. der Urteilsgründe (Geschehen vom 18. April 2013). Das [X.] hat ohne Rechtsfehler den Angeklagten für rechtlich verpflichtet gehalten, den Tod des später verstorbenen [X.] zu verhindern und hat ihm den eingetretenen Tod des Geschädigten zu seinem Vorsatz zugerechnet.

4

1. Nach den auf einer [X.] Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen hatten sich mehrere Personen, u.a. der Angeklagte und [X.], bereits im Verlaufe des Nachmittags getroffen und gemeinsam Alkohol sowie verschiedene Betäubungsmittel konsumiert. Gegen Abend begab sich die Gruppe in die in einem größeren Gebäudekomplex gelegene Wohnung des Angeklagten. Dort nahmen die Anwesenden weiterhin u.a. Alkohol, Amphetamin und Cannabis zu sich. Im Verlaufe des Abends bot der Angeklagte den übrigen Personen in der Wohnung an, [X.] ([X.]) zu konsumieren. Dieser Stoff befand sich unverdünnt in einer im Besitz des Angeklagten befindlichen Glasflasche. Außer dem nicht revidierenden Mitangeklagten [X.]ging keiner der sonstigen Anwesenden auf das Angebot ein. Nachdem der Angeklagte und der Mitangeklagte etwa zwei bis drei Milliliter [X.], verdünnt in einem halben Liter Wasser, konsumiert hatten, blieb die Flasche mit dem [X.] frei zugänglich in der Wohnung des Angeklagten stehen. Spätestens nach dem eigenen Konsum wies der Angeklagte seine Gäste darauf hin, dass [X.] nicht unverdünnt zu sich genommen werden dürfe.

5

Einige Zeit danach setzte der später verstorbene [X.]  die Flasche mit dem unverdünnten [X.] direkt an und trank eine durch das [X.] nicht mehr näher feststellbare Menge der Substanz. Der Angeklagte und der Mitangeklagte, die von der Aufnahme einer tödlich wirkenden Menge ausgingen, versuchten erfolglos, [X.]  zum Erbrechen zu veranlassen. Dieser verlor vielmehr das Bewusstsein. Nachdem [X.]in eine stabile Seitenlage gebracht worden war, beschränkte sich der Angeklagte – wie auch die übrigen Anwesenden darauf – die Atemfrequenz des bewusstlosen Geschädigten zu kontrollieren. Spätestens als der Angeklagte wahrnahm, dass [X.]  lediglich noch alle sechs bis acht Sekunden atmete, nahm er billigend in Kauf, dass der Geschädigte ohne das unverzügliche Herbeirufen von ärztlicher Hilfe an den Folgen der Einnahme des unverdünnten [X.] versterben werde. Dennoch blieb er untätig. Hätte er zu diesem Zeitpunkt medizinische Hilfe angefordert, wäre das Leben des Geschädigten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden. Auch nachdem – vom Angeklagten wahrgenommen – die Atemfrequenz von [X.] noch niedriger, die Atmung zudem unregelmäßig und geräuschintensiv wurde, leitete der Angeklagte zunächst weiterhin keine Rettungsmaßnahmen ein.

6

Später wurde, nicht ausschließbar auf die Initiative des Angeklagten, ein erster Rettungswagen verständigt. Als der Angeklagte beobachtete, dass dieser Rettungswagen abfuhr, ohne [X.] aufgenommen zu haben, ließ er einen zweiten Rettungswagen herbeirufen. Dessen Besatzung unternahm Wiederbelebungsversuche. Diese führten jedoch nicht zum Erfolg. [X.] verstarb an einem durch den Konsum von [X.] ausgelösten Atemstillstand und der dadurch bewirkten Sauerstoffunterversorgung des Gehirns.

7

2. Nach diesen Feststellungen hat sich der Angeklagte wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht.

8

a) Der Angeklagte hatte im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB rechtlich dafür einzustehen, dass der Tod des Geschädigten [X.]nach dessen Konsum von [X.] nicht eintritt. Diese Pflicht zur Abwendung des [X.] resultierte aus der tatsächlichen Herrschaft des Angeklagten über die in seinem Besitz befindliche und von ihm in seiner Wohnung für die übrigen dort Anwesenden frei zugängliche Flasche mit dem hochgradig gesundheits- und lebensgefährlichen [X.].

9

aa) In der Rechtsprechung des [X.] ist anerkannt, dass jeder, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen hat ([X.], Urteil vom 13. November 2008 – 4 [X.], [X.]St 53, 38, 41 f. Rn. 16 mwN; siehe auch [X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, [X.], 319). Die entsprechende Pflicht beschränkt sich auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den [X.] zumutbar sind und die ein verständiger und umsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um Andere vor Schäden zu bewahren. Eine aus der Zuständigkeit für eine Gefahrenquelle folgende Erfolgsabwendungspflicht gemäß § 13 Abs. 1 StGB besteht allerdings lediglich dann, wenn mit der Eröffnung der Gefahrenquelle die nahe liegende Möglichkeit begründet wurde, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können (vgl. bereits [X.], Urteil vom 13. November 2008 – 4 [X.], [X.]St 53, 38, 42 Rn. 16; [X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, [X.], 319). In welchem Umfang die Erfolgsabwendungspflicht besteht, bestimmt sich nach dem Grad der Gefahr. Die Anforderungen an den für die Gefahrenquelle Zuständigen sind umso höher, je größer bei erkennbarer Gefährlichkeit einer Handlung die Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensintensität sind ([X.], Urteil vom 13. November 2008 – 4 [X.], [X.]St 53, 38, 42 Rn. 16 mwN).

bb) An diesen Grundsätzen gemessen ist die rechtliche Würdigung des Tatgerichts, der Angeklagte sei Garant für das Leben des später verstorbenen [X.] gewesen, nicht zu beanstanden.

Die dem Konsum des unverdünnten [X.] durch [X.] zeitlich vorausgegangenen Umstände legten die Möglichkeit nahe, dass es wegen des freien Zugangs aller in der Wohnung des Angeklagten Anwesenden zu einem Zugriff auf die Flasche mit dem [X.] kommen werde. Alle sich dort [X.] und damit auch [X.] hatten bereits im Verlaufe des Nachmittags außerhalb der Wohnung unterschiedliche Suchtmittel zu sich genommen. In der Wohnung war es zu weiterem Konsum von Alkohol und verschiedenen Betäubungsmitteln gekommen. Angesichts dieses wahllosen Suchtmittelkonsumverhaltens der in der Wohnung anwesenden Personen war trotz der zunächst ausbleibenden Reaktion der Gäste auf die Aufforderung des Angeklagten, von dem [X.] zu konsumieren, die Gefahr eines Zugriffs auch auf diese Substanz nahe liegend. Unabhängig von dem jeweils konkreten Umfang des Suchtmittelkonsums der verschiedenen Gäste und den jeweiligen individuellen Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Risikoeinschätzung, entspricht eine enthemmende Wirkung von Suchtmittelkonsum allgemeiner Erfahrung. Dass es angesichts des bis zum Vorfallzeitpunkt von allen Anwesenden gezeigten Konsumverhaltens auch zu der Einnahme von [X.] kommen würde, war daher eine voraussehbare Entwicklung.

Wegen der mit einer Einnahme des unverdünnt in der für jeden Anwesenden frei zugänglichen Flasche befindlichen [X.] einhergehenden hohen Gefährlichkeit für das Leben und die Gesundheit von Konsumenten waren an den Angeklagten als Inhaber der Sachherrschaft über den gefährlichen Gegenstand hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen, um der Lebensgefährlichkeit des Konsums zu begegnen. Die ausgesprochene Warnung des Angeklagten, [X.] nicht unverdünnt zu sich zu nehmen, genügte angesichts des frei zugänglichen Aufstellens der Flasche in der Wohnung in Anwesenheit mehrerer Personen, die bereits zuvor Alkohol und verschiedene Drogen konsumiert hatten, dazu nicht. Der Angeklagte hat daher als für die Flasche zuständiger Besitzer durch den geschilderten Umgang mit ihr eine Gefahrenquelle eröffnet. Dies begründete grundsätzlich seine Pflicht, dem von dieser Quelle für die Rechtsgüter Dritter ausgehenden Gefährlichkeitspotential durch geeignete und ihm zumutbare Maßnahmen zu begegnen.

b) Diese Pflicht entfiel – wie das [X.] rechtsfehlerfrei angenommen hat – auch nicht deshalb, weil der später verstorbene [X.]  trotz der ausgesprochenen Warnung des Angeklagten aus eigenem Entschluss das [X.] unverdünnt zu sich genommen hat.

aa) Zwar unterfällt nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines [X.] oder Tötungsdelikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann daher nicht wegen eines [X.] oder Tötungsdelikts verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit strafbarer Vorgang ist (siehe nur [X.], Urteil vom 28. Januar 2014 – 1 [X.], [X.]St 59, 150, 167 Rn. 71 mit zahlr. Nachw.). Diese Grundsätze gelten sowohl für die vorsätzliche als auch die fahrlässige Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder Selbstverletzung ([X.], Urteil vom 28. Januar 2014 – 1 [X.], [X.]St 59, 150, 168 Rn. 71).

bb) Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung seines Lebens durch den Verstorbenen [X.] schloss jedoch die aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle resultierende Pflicht des Angeklagten zur Abwendung des drohenden [X.] gerade nicht aus, als sich nach der unverdünnten Einnahme von [X.] gerade das Gefahrenpotential für das Leben [X.]s zu realisieren begann, das der Angeklagte durch das dem Zugriff seiner Gäste offene Abstellen der Flasche mit dem genannten Stoff gerade eröffnet hatte.

(1) Der [X.] hat bereits entschieden, dass die Erfolgsabwendungspflicht eines Garanten nicht entfällt, wenn sein Verhalten zunächst lediglich eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung derjenigen Person ermöglicht, für dessen Rechtsgut bzw. Rechtsgüter er als Garant rechtlich im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB einzustehen hat (vgl. [X.], Urteile vom 27. Juni 1984 – 3 [X.], [X.], 452 und vom 9. November 1984 – 2 [X.]; im Ergebnis auch [X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, [X.], 319). Die Straflosigkeit des auf die Herbeiführung des Risikos gerichteten Verhaltens ändere nichts daran, dass für den Täter [X.] in dem Zeitpunkt bestehen, in dem aus dem allgemeinen Risiko eine besondere Gefahrenlage erwächst. Mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage ist der Täter verpflichtet, den drohenden Erfolg abzuwenden ([X.], Urteile vom 27. Juni 1984 – 3 [X.], [X.], 452 und vom 9. November 1984 – 2 [X.]; in der Sache ebenso [X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, [X.], 319).

(2) An diesen Grundsätzen ist jedenfalls dann festzuhalten, wenn – wie nach den tatrichterlichen Feststellungen hier ([X.]) – das Verhalten des Opfers sich in Bezug auf das Rechtsgut Leben in einer (möglichen) eigenverantwortlichen Selbstgefährdung erschöpft. Entgegen in der Strafrechtswissenschaft geäußerter Kritik (etwa [X.], Strafrecht, [X.], 4. Aufl., § 11 Rn. 112; [X.] in [X.], StGB, 28. Aufl., Vor § 211 Rn. 16; [X.], 57 f.) ist es in diesen Konstellationen nicht wertungswidersprüchlich, zwar jegliche Beteiligung an der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung selbst für einen Garanten straffrei zu stellen, bei Realisierung des von dem betroffenen Rechtsgutsinhaber eingegangenen Risikos aber eine strafbewehrte Erfolgsabwendungspflicht aus § 13 Abs. 1 StGB anzunehmen. Denn anders als in den Selbsttötungsfällen erschöpft sich im Fall der Selbstgefährdung die Preisgabe des eigenen Rechtsguts gerade darin, dieses in einem vom Betroffenen jedenfalls in seinem wesentlichen Grad zutreffend erkannten Umfang (Kenntnis sämtlicher rechtsgutsbezogener Risiken des fraglichen Verhaltens wird nicht gefordert, vgl. [X.], Beschluss vom 11. Januar 2011 – 5 [X.], [X.], 341, 342; siehe auch [X.], Urteil vom 28. Januar 2014 – 1 [X.], [X.]St 59, 150, 169 f. Rn. 80 und 81) einem Risiko auszusetzen. Eine Hinnahme des als möglich erkannten Erfolgseintritts bei Realisierung des eingegangenen Risikos ist mit der Vornahme der Selbstgefährdung gerade nicht notwendig verbunden (siehe insoweit auch Freund in [X.] Kommentar zum StGB, 2. Aufl., § 13 Rn. 190; in der Sache anders dagegen [X.] [X.], 387, 388 f.).

Entwickelt sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts, umfasst die ursprüngliche Entscheidung des Rechtsgutsinhabers für die (bloße) Gefährdung seines Rechtsguts nicht zugleich den Verzicht auf Maßnahmen zum Erhalt des nunmehr in einen Zustand konkreter Gefahr geratenen Rechtsguts (vgl. Freund aaO). Eine Person, die nach den allgemeinen Grundsätzen des § 13 Abs. 1 StGB Garant für das bedrohte Rechtsgut ist, trifft dann im Rahmen des tatsächlich Möglichen und ihr rechtlich Zumutbaren die Pflicht, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abzuwenden.

Dem ist der Angeklagte nicht nachgekommen, weil er in dem Zeitraum, in dem noch die Möglichkeit der Abwendung des Todes von [X.]  bestand, auf das Herbeirufen der lebensnotwendigen medizinischen Hilfe verzichtet hat.

(3) Ob für den Fall eines eigenverantwortlichen Suizids nach Verlust der [X.] den Selbstmord [X.] etwas anderes gilt (vgl. [X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, [X.], 319), bedarf keiner Entscheidung. Denn das [X.] hat einen Selbsttötungswillen des Verstorbenen [X.]mit [X.] Beweiswürdigung ausgeschlossen (UA S. 40).

c) Ohne Rechtsfehler hat das [X.], vor allem gestützt auf das rechtsmedizinische Sachverständigengutachten, festgestellt, dass [X.] bei rechtzeitigem Verständigen von medizinischer Hilfe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können (UA S. 60–62).

d) Die Feststellungen zum bedingten Tötungsvorsatz werden durch eine umfassende, die Anforderungen an die Wissens- und die Willenskomponente dieser Vorsatzform berücksichtigende Gesamtwürdigung getragen (UA S. 63–67).

II.

Der Schuldspruch wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung im Fall B.II.2. der Urteilsgründe (Geschehen vom 26./27. Mai 2013) weist ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

1. Die getroffenen Feststellungen belegen die Tathandlung des [X.] im Sinne von § 239a Abs. 1 Halbs. 1 StGB spätestens ab dem Zeitpunkt des Verbringens des [X.] in die Wohnung des (weiteren) nicht revidierenden Mitangeklagten [X.]. [X.] liegt bereits vor, wenn der Täter die physische Herrschaft über einen anderen erlangt hat; dafür ist weder eine Ortsveränderung erforderlich noch muss der Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt sein ([X.], Urteil vom 22. Oktober 2009 – 3 [X.], [X.], 516). Die Umstände des Festhaltens in der fraglichen Wohnung ([X.] und 27) ergeben die Erlangung physischer Herrschaft über den Nebenkläger. Dass es diesem zwischenzeitlich gelungen war, sich aus einer Fesselung durch Handschellen zu befreien, steht dem angesichts der sonstigen Umstände seines Festhaltens in der Wohnung nicht entgegen.

2. Soweit das [X.] bezüglich § 239a StGB auf eine stabilisierte [X.] abgestellt hat ([X.]), wäre es darauf nicht angekommen, weil der Angeklagte und sein nicht revidierender Mitangeklagter [X.]nach den getroffenen Feststellungen (auch) die Sorge des [X.] des geschädigten [X.] um dessen Wohl zu einer Erpressung ausnutzen wollten. In solchen meist sog. [X.] kommt nach der neueren Rechtsprechung des [X.] der [X.] und deren Stabilisierung geringere Bedeutung zu als in sog. Zwei-Personen-Verhältnissen (Nachw. bei [X.], StGB, 62. Aufl., § 239a Rn. 8b). Dass das Tatgericht sogar strengere Anforderungen an die Verwirklichung des Tatbestands gestellt hat, geht ersichtlich nicht zu Lasten des Angeklagten.

III.

Der Rechtsfolgenausspruch hält ebenfalls rechtlicher Prüfung stand.

[X.] in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hat das [X.] ohne Rechtsfehler mit dem Fehlen eines Hangs des Angeklagten, alkoholische Getränke oder sonstige berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, begründet.

1. Hang im Sinne von § 64 StGB verlangt eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit oder zumindest eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Ausreichend für die Annahme eines Hangs zum übermäßigen Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls, dass der Betroffene aufgrund seiner Konsumgewohnheiten sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Insoweit kann dem Umstand, dass durch den Rauschmittelgenuss bereits Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt sind, zwar indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs zukommen; das Fehlen dieser Beeinträchtigungen schließt indessen nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hangs aus ([X.], Beschluss vom 18. September 2013 – 1 [X.], [X.]R StGB § 64 Satz 1 Hang 1 mwN; Urteil vom 15. Mai 2014 – 3 [X.] Rn. 10 [in NStZ-RR 2014, 271 nur LS]).

2. Diese Grundsätze hat das [X.] zugrunde gelegt, sachverständig beraten jedoch die Voraussetzungen des Hangs weder im Sinne körperlicher Sucht noch psychischer Disposition, sondern lediglich einen schädlichen Gebrauch von Alkohol und sonstigen Mitteln festzustellen vermocht. Dabei hat es im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend berücksichtigt, dass vorhandene Beeinträchtigungen der Gesundheit sowie der Arbeits- und Lebensfähigkeit ebenso lediglich indizielle Bedeutung für den Hang haben wie umgekehrt das (bisherige) Fehlen solcher Beeinträchtigungen nur Indizien sind, die auf die Abwesenheit eines Hangs hindeuten können.

Da dem [X.] die jeweils allein indizielle Bedeutung bewusst war, ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass es unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte vor allem aus dem geregelten Arbeitsleben des Angeklagten, seiner Fähigkeit, bisherige [X.] Bindungen fortzuführen und neue zu knüpfen, sowie eingelegten Konsumpausen und dem Fehlen von Entzugserscheinungen nach der Festnahme in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen einen Hang verneint hat.

3. Angesichts des Vorstehenden kommt es nicht darauf an, ob auch – wie das [X.] in [X.] meint – der symptomatische Zusammenhang zwischen den begangenen Taten und einem (unterstellten) Hang fehlte.

Raum                           [X.]

              Mosbacher                     [X.]

Meta

1 StR 328/15

05.08.2015

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 19. Dezember 2014, Az: 123 Js 148465/13 JKLs

§ 13 Abs 1 StGB, § 212 Abs 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.08.2015, Az. 1 StR 328/15 (REWIS RS 2015, 7019)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 176 REWIS RS 2015, 7019

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