Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.05.2020, Az. III R 58/18

3. Senat | REWIS RS 2020, 3524

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Gegenstand

Ermessensausübung bei Abzweigungsentscheidung


Leitsatz

NV: Das FG muss die Ermessensentscheidung der Familienkasse, die gegenüber einem Kindergeldberechtigten einen Abzweigungsbescheid zugunsten eines Sozialleistungsträgers erlassen hat, auch daraufhin überprüfen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen hat.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des [X.] vom 14.11.2017 - 7 K 818/15 sowie der Abzweigungsbescheid vom 28.02.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015 aufgehoben.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist die Abzweigung von Kindergeld an einen Sozialleistungsträger.

2

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter ihres im Jahr 1971 geborenen [X.] ist seit der Geburt stark sehbehindert und auch geistig behindert. Er lebt in einem Wohnheim der Blindeninstitutsstiftung und erhält vom [X.] ([X.]) Eingliederungshilfe nach dem [X.] (SGB XII).

3

Die Klägerin bezog für [X.], das allerdings wegen einer vom Beigeladenen betriebenen Erstattung (§ 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) seit Jahren nicht in voller Höhe ausgezahlt wurde. Der Beigeladene beantragte bei der [X.]amilienkasse mit Schreiben vom 19.11.2013 rückwirkend die Abzweigung des bislang noch nicht an die Klägerin ausgezahlten Teils des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG. Die Beklagte und Revisionsbeklagte ([X.]amilienkasse) kam dem nach. Sie hob den früheren Abrechnungsbescheid über die Erstattung des Kindergeldes rückwirkend auf. Nach vorheriger Anhörung der Klägerin erließ sie gegenüber dem Beigeladenen am 28.02.2014 einen Bescheid, durch den das Kindergeld ab Juni 2008 in Höhe von monatlich 23 €, ab März 2009 in Höhe von 24,50 € und ab März 2010 "bis laufend" in Höhe von 27,78 € abgezweigt wurde. Am selben Tag erließ sie auch gegenüber der Klägerin einen Abzweigungsbescheid mit gleichem Inhalt. Zur Begründung führte sie aus, die Unterhaltsleistungen der Klägerin hätten sich nur minimal verändert, so dass es bei der in einem früheren finanzgerichtlichen Verfahren bestätigten Höhe der Abzweigung verbleibe.

4

Im anschließenden Einspruchsverfahren trug die Klägerin vor, ihr entstünden unstreitig monatliche Aufwendungen von mehr als 500 € für den Unterhalt von [X.] In einer "Erklärung zu den verfügbaren finanziellen Mitteln" vom 06.09.2014 wies sie u.a. darauf hin, dass sie in ihrer Wohnung [X.] für [X.] vorhalte. Die [X.]amilienkasse bat die Klägerin in einem Schreiben vom 12.11.2014 um detaillierte Angaben zu möglichen Unterhaltsaufwendungen (Barleistungen, Abholfahrten an Wochenenden, Medikamente, [X.]reizeiten, Kleidung u.Ä.). Die Klägerin verwies hierzu auf das frühere finanzgerichtliche Verfahren … vor dem [X.]inanzgericht ([X.]G) Nürnberg, durch das die Unterhaltsaufwendungen mit Urteil vom 13.04.2011 unstreitig festgestellt worden seien. Zum Beweis dafür, dass sich diese Aufwendungen in den letzten drei Jahren nicht verändert hätten, benannte sie eine Zeugin. Im Übrigen könne nicht erwartet werden, dass sie Nachweise über [X.] seit dem Jahr 2008 aufbewahre.

5

Der Beigeladene, der nach § 360 der Abgabenordnung ([X.]) zum Einspruchsverfahren hinzugezogen worden war, trug vor, die Klägerin habe die von ihr behaupteten Aufwendungen nicht nachgewiesen, ebenso wenig die Anzahl der Besuchsaufenthalte des [X.] Sie sei aus gesundheitlichen Gründen zu einer Betreuung des [X.] gar nicht in der Lage, vielmehr unterstütze [X.] bei seinen Besuchen die Klägerin in deren Haushalt.

6

Der Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015). Die [X.]amilienkasse führte u.a. aus, für die [X.] ab Juni 2008 seien überhaupt keine Nachweise für Unterhaltsleistungen erbracht worden, die Klägerin habe auch nicht versucht, die Angaben glaubhaft zu machen.

7

Im anschließenden finanzgerichtlichen Verfahren bezifferte die Klägerin die Unterhaltsaufwendungen für [X.] auf ca. 522 € (Zimmer in ihrer Wohnung, Reinigung, Essen, Wäsche usw.). Das [X.]G wies die Klage ab, nachdem es zuvor den Beigeladenen gemäß § 174 Abs. 5 Satz 2 [X.] am Verfahren beteiligt hatte. Es war der Ansicht, die Voraussetzungen für eine Abzweigung seien erfüllt. Die Klägerin sei ihrer Unterhaltspflicht nicht nachgekommen, da sie die zum Lebensbedarf ihres [X.] gehörenden laufenden Kosten der Unterbringung im [X.] nicht übernommen habe. Die Abzweigungsentscheidung sei ermessensfehlerfrei zustande gekommen. Die [X.]amilienkasse habe den Sachverhalt ordnungsgemäß ermittelt. Die Klägerin habe trotz ihrer Mitwirkungspflicht bis zum [X.]punkt der Einspruchsentscheidung keine Aufwendungen nachgewiesen, sie habe auch keine [X.] getroffen. Der angebotene Zeugenbeweis zu den Unterhaltsleistungen sei nicht zu erheben gewesen, da für die [X.]rage einer Ermessensreduktion auf null der Kenntnisstand der Behörde zum [X.]punkt der letzten Behördenentscheidung maßgebend sei; hierfür sei jedoch kein Beweis angeboten worden.

8

Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, es sei substantiiert dargelegt worden, dass ihr monatliche Unterhaltsaufwendungen von ca. 522 € entstanden seien, hierfür sei auch Beweis durch Zeugeneinvernahme angeboten worden.

9

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Abzweigungsbescheid vom 28.02.2014 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015 aufzuheben.

Die [X.]amilienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des [X.] sowie der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der [X.]inanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht die Abzweigungsentscheidung der [X.]amilienkasse nicht beanstandet.

1. Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld u.a. an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.

a) Sind die Voraussetzungen für eine Abzweigung dem Grunde nach erfüllt, hat die [X.]amilienkasse nach § 74 Abs. 1 EStG eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen ("kann"), ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, der dem Kind anstelle der eigentlich unterhaltsverpflichteten Eltern Unterhalt gewährt. Bei der Ermessensausübung sind auch geringe Unterhaltsleistungen des [X.] für das behinderte Kind zu berücksichtigen (Senatsurteile vom 23.02.2006 - III R 65/04, [X.], 481, [X.], 753; vom 17.12.2008 - III R 6/07, [X.], 228, [X.], 926, und vom 17.10.2013 - III R 24/13, [X.], 504), sofern dieser nicht selbst Sozialleistungen bezieht (Senatsurteil in [X.], 228, [X.], 926; Senatsbeschluss vom 26.02.2015 - III B 124/14, [X.], 837). Hierbei sind die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen anzusetzen (Senatsurteil vom 17.10.2013 - III R 23/13, [X.], 250), nicht hingegen fiktive Kosten (Senatsurteil vom 09.02.2009 - III R 37/07, [X.], 290, [X.], 928). Zu den Unterhaltsleistungen für ein in einer Einrichtung untergebrachtes Kind gehört auch die Zurverfügungstellung eines Zimmers in der Wohnung des [X.] (Senatsurteile in [X.], 250, und vom 03.07.2014 - III R 41/12, [X.], 125). Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, ist eine Abzweigung nicht ermessensgerecht (B[X.]H-Urteil vom 18.04.2013 - V R 48/11, [X.], 270, [X.], 697, m.w.N.).

b) Beachtet die [X.]amilienkasse diese Grundsätze nicht, führt dies zu einem Ermessensfehler, den das [X.] bei der nach § 102 Satz 1 [X.]O durchzuführenden Überprüfung der Entscheidung der [X.]amilienkasse zu beanstanden hat. Im Rahmen dieser Überprüfung muss das [X.] auch feststellen, ob die [X.]amilienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen hat und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (Senatsurteil vom 19.04.2012 - III R 85/09, [X.], 145, [X.], 19, m.w.N.).

2. Nach den [X.]eststellungen des [X.] waren zwar die Voraussetzungen für die Abzweigung eines Teils des Kindergeldes dem Grunde nach erfüllt, da der Beigeladene in vollem Umfang die Kosten der Unterbringung in der [X.] übernommen hatte und die Klägerin damit ihrer Unterhaltsverpflichtung gegenüber [X.] nicht nachgekommen war. Allerdings war die Entscheidung der [X.]amilienkasse, einen Teil des Kindergeldes an den Beigeladenen abzuzweigen, nicht ermessensfehlerfrei, da sie auf einem unvollständig ermittelten Sachverhalt beruhte. Die [X.]amilienkasse führte in der Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015 aus, die Klägerin habe keinen Nachweis für Unterhaltsleistungen ab Juni 2008 erbracht, die Höhe von Unterhaltsleistungen habe nicht festgestellt werden können. Allerdings hatte die Klägerin im Einspruchsverfahren bereits darauf hingewiesen, dass für das Kind (auch aufgrund ärztlicher Atteste) [X.] vorgehalten werde und insoweit anteilige Kosten entstanden seien (Kindergeldakte, Erklärung vom 06.09.2014). Weiterhin hatte sie sich in ihrer Einspruchsbegründung auf das Urteil des [X.] Nürnberg vom … - … bezogen und erklärt, dass sich die in diesem Verfahren geltend gemachten Aufwendungen für den Streitzeitraum kaum verändert hätten. In diesem Verfahren hatte die Klägerin dargelegt, dass in ihrer behindertengerechten Eigentumswohnung von 92 qm ihrem Kind allein ein Raum mit 27 qm zustehe. Die [X.]amilienkasse ging offensichtlich selbst davon aus, dass die Klägerin in ihrer Wohnung eine Unterkunft für [X.] vorhielt, da sie in ihrer Anfrage vom 12.11.2014 die Klägerin um Auskunft über die Häufigkeit der [X.]ahrten zur Abholung des [X.] über die Wochenenden bat. Darüber hinaus hatte der zuvor im Einspruchsverfahren hinzugezogene Beigeladene darauf hingewiesen, dass [X.] die Klägerin bei seinen Besuchen in ihrem Haushalt unterstütze. Daher drängte sich bereits nach Aktenlage die Annahme auf, dass der Klägerin zumindest Aufwendungen für ein in ihrer Wohnung für [X.] vorgehaltenes Zimmer entstanden waren. Damit konnte die [X.]amilienkasse das Entstehen von [X.] jedenfalls wegen Kosten für [X.] des [X.] in ihrem Haushalt nicht ohne Weiteres wegen fehlender Nachweise verneinen.

3. Der Senat hatte in seiner Entscheidung in [X.], 250 keine Bedenken, den Wert der unentgeltlich in einem Eigenheim zur Verfügung gestellten Unterkunft nach Maßgabe der Sozialversicherungsentgeltverordnung ([X.]) festzulegen, sofern nicht, wie bei einer Mietwohnung, die anteilige Miete zugrunde gelegt werden kann. Da der Wert der Unterkunft bereits für das [X.] mit 198 € anzusetzen ist (§ 2 Abs. 3 Satz 1 [X.] in der bis 31.12.2008 geltenden [X.]assung), ist es möglich, dass die monatlichen Unterhaltsleistungen der Klägerin im gesamten Streitzeitraum höher waren als das Kindergeld. Das angefochtene Urteil kann demnach keinen Bestand haben, ebenso wenig der Abzweigungsbescheid vom 28.02.2014 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015.

4. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 [X.]O. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet. Eine Billigkeitsentscheidung nach § 139 Abs. 4 [X.]O kommt nicht in Betracht, da der Beigeladene die unterlegene [X.]amilienkasse unterstützt hat, die den Abzweigungsbescheid im Interesse des Beigeladenen erlassen hatte (vgl. B[X.]H-Beschluss vom 17.12.2009 - VII B 20/09, B[X.]H/NV 2010, 834; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, [X.]inanzgerichtsordnung, § 139 [X.]O [X.]).

Meta

III R 58/18

27.05.2020

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Nürnberg, 14. November 2017, Az: 7 K 818/15, Urteil

§ 74 EStG 2009, § 174 Abs 5 S 2 AO, § 360 AO, § 102 S 1 FGO, § 2 Abs 3 S 1 SvEV, EStG VZ 2014

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.05.2020, Az. III R 58/18 (REWIS RS 2020, 3524)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3524


Verfahrensgang

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Az. III R 58/18

Bundesfinanzhof, III R 58/18, 27.05.2020.


Az. 7 K 818/15

FG Nürnberg, 7 K 818/15, 14.11.2017.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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