Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.02.2022, Az. XII ZB 159/21

12. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 1405

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Gegenstand

Unterbringungsverfahren in Baden-Württemberg: Mündliche Erstattung des Sachverständigengutachtens im Anhörungstermin; Überzeugungsversuch als Voraussetzung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme


Leitsatz

1. Die Zulässigkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme setzt gemäß § 20 Abs. 4 Satz 2 PsychKHG BW voraus, dass zuvor eine Ärztin oder ein Arzt die untergebrachte Person angemessen aufgeklärt und versucht hat, ihre auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung hat das Gericht in jedem Einzelfall festzustellen und in seiner Entscheidung in nachprüfbarer Weise darzulegen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 13. September 2017 - XII ZB 185/17, FamRZ 2017, 2056).

2. Wenn ein Sachverständiger sein Gutachten ausnahmsweise im Anhörungstermin mündlich erstattet hat, ist sicherzustellen, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Kann oder will sich der Betroffene im Anhörungstermin nach einem Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist hierzu nicht abschließend äußern, ist ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung zu übersenden und seine Anhörung erneut durchzuführen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 12. August 2020 - XII ZB 204/20, FamRZ 2020, 1770).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 1 wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 9. Februar 2021 und der Beschluss der 19. Zivilkammer des [X.] vom 8. März 2021, soweit in Ziffer 2 des Beschlusstenors die Beschwerde zurückgewiesen worden ist, den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben. Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Die außergerichtlichen Kosten des weiteren Beteiligten zu 1 werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

I.

1

Der Verfahrenspfleger des Betroffenen wendet sich gegen zwei durch Zeitablauf erledigte Beschlüsse des Amtsgerichts zur Unterbringung und Zwangsbehandlung und gegen einen Beschluss des [X.], mit dem es die Beschwerden hiergegen zurückgewiesen hat.

2

Der Betroffene wurde am 3. Dezember 2020 von der Polizei in die Klinik der Antragstellerin gebracht und dort auf der geschützten Station aufgenommen.

3

Die Antragstellerin (Beteiligte zu 3) hat am 26. Januar 2021 nach einer vorangegangenen Unterbringung gemäß § 29 des [X.] bei psychischen Krankheiten in [X.] (im Folgenden: [X.]) die Verlängerung der Unterbringung beantragt. Das Amtsgericht hat den behandelnden Oberarzt [X.]. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, das dieser am 29. Januar 2021 erstellt hat, ohne allerdings dem Betroffenen vor der Untersuchung mitzuteilen, dass er ihm gegenüber nunmehr als Sachverständiger tätig wird. Nach Anhörung des Betroffenen am 1. Februar 2021 hat das Amtsgericht dessen Unterbringung bis zum 29. März 2021 beschlossen. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene Beschwerde eingelegt.

4

Am 29. Januar 2021 hat die Antragstellerin auch die Verlängerung der zuvor beschlossenen Zwangsbehandlung beantragt. Das Amtsgericht hat ein Gutachten eingeholt, das die Sachverständige [X.] am 2. Februar 2021 erstattet hat, und nach Anhörung des Betroffenen vom 5. Februar 2021 am 9. Februar 2021 die Zwangsbehandlung bis zum 18. März 2021 genehmigt. Auch hiergegen richtet sich die am 9. Februar 2021 eingelegte Beschwerde des Betroffenen.

5

Das [X.] hat den Betroffenen am 5. März 2021 angehört und dabei ein ergänzendes mündliches Gutachten der Sachverständigen [X.] auch zur Unterbringung erstatten lassen. Sodann hat es die Beschwerde gegen die Verlängerung der Unterbringung zurückgewiesen. Den Beschluss zur Zwangsbehandlung hat es teilweise aufgehoben, soweit es die – nicht beantragte – [X.] und die zwangsweise orale Tablettenzuführung anbelangt. Im Übrigen hat es auch diese Beschwerde zurückgewiesen.

6

Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Verfahrenspfleger gegen die Zurückweisung der Beschwerden und beantragt, insoweit die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amtsgerichts und des [X.] festzustellen.

II.

7

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, soweit die Zwangsbehandlung betroffen ist. Insoweit führt sie zur Feststellung, dass der im Tenor genannte amtsgerichtliche Beschluss und der Zurückweisungsbeschluss des [X.] zu Ziffer 2 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben. Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

8

1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Bei der Anordnung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme handelt es sich nach § 312 Satz 1 Nr. 4 FamFG um eine Unterbringungssache. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Fall der hier aufgrund Zeitablaufs eingetretenen Erledigung aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG. Das Rechtsmittel ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere kann es nach der in der [X.] entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 FamFG auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der durch Zeitablauf erledigten Gerichtsbeschlüsse gerichtet werden (Senatsbeschluss vom 2. September 2015 - [X.] 226/15 - FamRZ 2015, 2050 Rn. 5 f. mwN). Nach § 62 Abs. 3 FamFG kann auch der Verfahrenspfleger einen entsprechenden Feststellungsantrag stellen.

9

2. Das [X.] hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Es sei im Rahmen der Unterbringung auf Grund des Sachverständigengutachtens von [X.] und des persönlichen Eindrucks von dem Betroffenen davon überzeugt, dass er unter einer psychischen Störung i.S.v. § 1 Nr. 1 [X.] leide, nämlich einer schizophrenen Störung ([X.] F20.0). Es könne daher dahingestellt bleiben, ob das Gutachten des Sachverständigen [X.]. den formalen Anforderungen an ein Gutachten gemäß § 324 FamFG genüge. Aufgrund seiner Erkrankung gehe von dem Betroffenen unverändert eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben Dritter aus.

Die Zwangsbehandlung sei grundsätzlich gemäß § 20 Abs. 3 [X.] rechtmäßig. Die Medikation sei erforderlich und verhältnismäßig, um die – noch nicht chronifizierte – Schizophrenie zu behandeln und so bei dem Betroffenen eine Krankheits- und Behandlungseinsicht herzustellen. Erst diese werde dazu führen, die Voraussetzungen freier Selbstbestimmung so weit wie möglich wieder herbeizuführen. Die Nebenwirkungen seien akzeptabel. Nach der nachvollziehbaren Einschätzung der Sachverständigen [X.] werde die notwendige Behandlung des Betroffenen noch über den 18. März 2021 hinaus erforderlich sein, um ihm die Perspektive eines gefahrlosen und in die [X.] zu schaffen.

3. Das hält den [X.] der Rechtsbeschwerde nur insoweit stand, als das Unterbringungsverfahren betroffen ist.

a) Auch im Falle einer Unterbringung und einer Zwangsbehandlung nach landesgesetzlichen Unterbringungsgesetzen (hier: [X.]) gelten gemäß § 312 Nr. 4 FamFG die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) entsprechend.

b) Das Verfahren auf Anordnung der Unterbringung beruht – soweit sich die Rüge der Rechtsbeschwerde erstreckt – nicht auf einer verfahrensfehlerhaften Begutachtung.

aa) Wenn ein Sachverständiger sein Gutachten ausnahmsweise im Anhörungstermin mündlich erstattet hat, ist sicherzustellen, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Kann oder will sich der Betroffene im Anhörungstermin nach einem Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist hierzu nicht abschließend äußern, ist ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung zu übersenden und seine Anhörung erneut durchzuführen (Senatsbeschluss vom 12. August 2020 - [X.] 204/20 - FamRZ 2020, 1770 Rn. 11 mwN).

bb) Das vorliegend eingeholte schriftliche Sachverständigengutachten bezüglich des hier relevanten Verlängerungsantrags zur Unterbringung ist nicht verwertbar (vgl. Senatsbeschluss vom 24. November 2021 - [X.] 335/21 - juris Rn. 8). Jedoch hat die Sachverständige [X.], die das Gutachten zur Zwangsbehandlung gefertigt hat, in der Anhörung vor dem [X.] am 5. März 2021 ihr Gutachten mündlich auch auf die Unterbringung erweitert.

Die Rechtsbeschwerde rügt jedoch nur, dass ein Sachverständigengutachten vor der Anhörung nicht vorgelegen habe. Sie macht nicht geltend, das [X.] habe nicht sichergestellt, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern und dass ein entsprechender Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist nicht erfolgt sei. Ebenso wenig hat sie gerügt, das Gericht habe ihn nicht darüber belehrt, dass er sich hierzu nicht abschließend zu äußern bräuchte und ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung übersendet und seine Anhörung anschließend erneut durchgeführt werden könnte. Mangels einer entsprechenden Rüge ist die Frage, ob ein entsprechender Verfahrensfehler vorliegt, nicht weiter nachzugehen.

c) Allerdings ist die Rüge der Rechtsbeschwerde erfolgreich, es fehle an Feststellungen zu einem erfolglosen Überzeugungsversuch als Voraussetzung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme.

aa) Nach § 20 Abs. 4 Satz 2 [X.] hat eine Ärztin oder ein Arzt die untergebrachte Person angemessen aufzuklären und zu versuchen, ihre auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen. Eine Zwangsmaßnahme ist nur dann zulässig, wenn zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht worden ist, den Betroffenen von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung hat das Gericht in jedem Einzelfall festzustellen und in seiner Entscheidung in nachprüfbarer Weise darzulegen (vgl. Senatsbeschluss vom 13. September 2017 - [X.] 185/17 - FamRZ 2017, 2056 Rn. 6 mwN).

bb) Weder das [X.] noch das Amtsgericht verhalten sich zu einem insoweit notwendigen Überzeugungsversuch.

d) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der – hier durch Zeitablauf – erledigten Maßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an dem Betroffenen gegen seinen natürlichen Willen bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 13. September 2017 - [X.] 185/17 - FamRZ 2017, 2056 Rn. 8 mwN).

4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen, § 74 Abs. 7 FamFG.

Dose     

      

[X.]     

      

Schilling

      

Günter     

      

Guhling     

      

Meta

XII ZB 159/21

09.02.2022

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Stuttgart, 8. März 2021, Az: 19 T 49/21

§ 278 Abs 1 S 1 FamFG, § 280 Abs 1 S 1 FamFG, § 20 Abs 4 S 2 PsychKG BW

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.02.2022, Az. XII ZB 159/21 (REWIS RS 2022, 1405)

Papier­fundstellen: MDR 2022, 436-437 REWIS RS 2022, 1405

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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